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Ich sah etwas, was du nicht siehst von Jutta Schlott
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
12.10.2014
ISBN:
978-3-95655-090-4 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 414 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Biografisch, Belletristik/Familienleben, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Moderne Frauen
Biografischer Roman, Liebesromane, Familienleben, Historischer Roman, 20. Jahrhundert (1900 bis 1999 n. Chr.)
DDR, Wende, Ausreiseantrag, Stasi, Kommunist, Kinderheim, Finnland
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Eine West-Kontroll-Kommission schnüffelte durch unser Heim. Die Männer marschierten durch die Räume, sahen unser Funk-Studio und sagten: Heimfunk in Ihrer Einrichtung? Sie haben wohl Agitation und Propaganda betrieben?

Ich darauf: Aber volle Kanne! Bloß nicht so schlecht wie das „Neue Deutschland“. Bisschen geschickter haben wir's angestellt!

Wenig später wurden alle Heimleiter der Stadt zusammengetrommelt: Gespräch beim Personalchef. Dieser Mann hat uns abgekanzelt wie die dummen Gören. Er hat uns beleidigt und beschimpft. Es war menschenunwürdig.

Ich konnte mein Maul nicht halten, ich bin ihn angegangen: Woher nehmen Sie sich das Recht, uns zu beurteilen! Sie kennen unsere Arbeit nicht, von keinem von uns seine menschlichen und fachlichen Qualitäten!

Während ich sprach, ging seine Hand zu den Personalakten, eine legte er obenauf. Auf dem Kopf stand mein Name zu lesen. Hab ich gleich weitergemacht: Dass dieses Gespräch mein Aus bedeute, dass ich nicht übernommen werde, sei mir klar.

Als ich ins Heim zurückkam, lag eine Nachricht da: Ich möchte in der zuständigen Abteilung anrufen. Die Kollegin, die ich seit Jahren kannte, druckste hin und her. Christa, sag ich, red nicht um den heißen Brei: Ich weiß, ich werde gekündigt.

Paar Tage später war es so weit. Ein Kündigungsgrund lautete, dass ich meine Mitarbeiter „in ihrer politischen Meinungsfreiheit unterdrückt“ hätte. Es ging um Berichte. Berichte, die ich nie geschrieben hatte. Als Heimleiter in der DDR sollte man monatlich Berichte über die „politisch-ideologische Situation“ in den Einrichtungen verfassen. Ich hab mich bei der Vorgesetzten Referentin geweigert: Wenn ihr was wissen wollt - kommt her und fragt die Leute selber. Ich schreibe so was nicht! Sie drohte mit Dienstanweisung. Bitte, hab ich entgegnet, könnt ihr machen. Ich schreib den Mist trotzdem nicht. Basta!

Solche Rechte hab ich mir rausgenommen. Ging auch - man musste nur stur bleiben. In der Arbeit konnten sie mir sowieso nicht am Zeug flicken.

Bei der Kündigung hab ich verlangt, mir wenigstens einen einzigen der nicht geschriebenen Berichte vorzulegen. Ich nehme die Kündigung nicht an, hab ich noch gesagt - und: Wenn nicht alles so traurig wäre, würde ich jetzt schallend lachen.

Die Referentin, die diese Berichte von mir gefordert hatte, blieb übrigens auch unter der West-Herrschaft auf ihrem Sessel sitzen.

Nach dem Entlassungs-Gespräch hatte ich einen Blackout, einen fürchterlichen, totalen Blackout. Ein Zustand - wie Trance.

Ich hab mir 'ne halbe Flasche Whiskey eingeholfen. Danach fehlt mir ‘n Stück vom Film. Plötzlich merk ich - ich sitz im Zug nach Rostock. Was ich da wollte, weiß ich bis heute nicht. Im Nachbarabteil unterhielten sich Jugendliche lautstark über irgendwas. In dem Moment bin ich zu mir gekommen. Ich raus aus dem Zug und zurück. Auf einmal war ich ganz klar im Kopp. Hellwach und glockenklar. Ich hab mir gesagt: Ihr könnt mich alle kreuzweise. Jetzt erst recht!

Jetzt erst recht- war schon immer meine Devise. Ende der siebziger Jahre, nach meiner pädagogischen Ausbildung, hab ich zeitweise im Rat des Bezirkes gearbeitet, zeitweise in einem „Durchgangsheim“. Dort wurden Kinder und Jugendliche vorübergehend untergebracht, die man aufgegriffen hatte. Sie waren aus Heimen ausgebüxt oder von zu Hause abgehauen.

Die Unterbringung im Durchgangsheim war eine Zwangsmaßnahme unter geschlossenen Bedingungen. Einmal im D-Heim - du warst gebrandmarkt dein Leben lang! Und das meist wegen einer blöden Dummheit. Oder wegen der Umstände, in denen Jugendliche leben mussten. Ganze D-Heim-Dynastien gab es, die kannte man schon in der zweiten, dritten Generation.

Drei Mitarbeiter und ich hatten uns in den Kopf gesetzt: Wir müssen das Geschlossene durchbrechen. Wenn die Jugendlichen in Heime kommen, ist auch kein Gitter davor, kein nix. Was unter Druck geschieht, beweist gar nichts. Nur was man freiwillig tut, zählt. Wir haben den Insassen Freiheiten gegeben. Vor allem haben wir viel gemeinsam unternommen.

Bei Erfolg kriegten wir Prämien und Belobigungen, ging was schief, hagelte es Verweise. Abmahnungen, heißt das heute. Mich hat das eine wie das andere einen Scheißdreck interessiert - die Jugendlichen waren mir wichtig.

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