In diesen drei Texten erzählt die Autorin mit viel Wärme und Verständnis und einem Blick für Details sowie mit für den Leser unerwarteten Wendungen von Leben, wie sie hätten sein sollen oder zumindest können und wie sie abweichend von ursprünglichen Träumen tatsächlich waren. So endete das Leben des Vaters von Onkel Alfred, dem Helden der dritten Erzählung, tragisch:
Nachdem Onkel Alfreds Vater mit dem kleinen Sohn von seinen Montagearbeiten in Riga ins heimatliche Aue zurückgekehrt war, tat er etwas Fürchterliches. Er hängte sich auf!
Und wir erfahren noch von einer anderen Liebe des Uhren- und Brillen-Reparateurs:
In der Pause kam der Geiger an unseren Tisch. Er reichte Onkel Alfred die Hand und sagte: Nanu, Alfred, du wirst doch nicht unsolide? Mit so einer jungen Frau?
Warum sollte ich nicht, antwortete Onkel Alfred in einer für seine Art ungewohnten Keckheit. Erklärte dann aber, dass ich seine Nichte, die Lehrerin aus Berlin, sei.
Er ist ein Kollege, auch Uhrmacher, aber nicht selbstständig. In seiner Freizeit tingelt er, ich glaube, er wäre lieber ganz Musiker, vertraute mir Onkel Alfred an. Ja, wer kann im Leben schon das machen, was er gern möchte?
Wärst du lieber etwas anderes geworden? fragte ich.
Auch in den beiden anderen Erzählungen geht Schulz-Semrau auf Spurensuche: In Karalautschi erzählt sie von ängstlichen Kindheitstagen und quälenden Klavierstunden sowie von einem seltsamen Abkommen mit Gott, dem Allesfresser:
Auf meinem Schulweg, der natürlich immer mit irgendetwas, das ich vergessen, nicht ordentlich oder gar nicht erledigt hatte, beschwert war, kam ich an der Konditorei Kaiser vorbei. Ich verweilte kurz vor den gefüllten Schaufenstern und begann mit meinem Ablasshandel. Also, lieber Gott, heute bekommst du zehn Stück Bienenstich, zehn Sahnerollen, fünfzehn Streuselschnecken, zehn Marzipanschnittchen, zwanzig Windbeutel, fünfzig Baiser mit Schlagsahne (das aß ich selbst am liebsten), davon ... und davon ... Danach folgten Bestellungen aus dem Milchladen und aus der Fleischerei.
Manchmal reicherte ich die Lebensmittelladung rasch noch ein wenig an, es konnte ja sein, der Gott war nicht zufrieden, würde mir also auch nicht genügend zur Seite stehen, wenn mich das Leben am Wickel hatte.
In der Titelgeschichte Gerda, das Nuschtchen setzt sich die Autorin mit den Themen gelungenes und nicht gelungenes Leben auseinander:
Die todkranke Mutter der dreizehnjährigen Gerda bittet die Gnädige, bei der sie zusätzlich zu ihrer Arbeit an der Wäscherolle beim Hausputz hilft, sich um ihre Tochter zu kümmern. Als die Frau drei Tage später stirbt, wird die (fast) fensterlose Speisekammer als Schlafraum für das Mädchen hergerichtet, das ein Jahr später die Schule verlässt und die entlassene Dienstmagd ersetzt. Gerda hält auch auf der Flucht aus Königsberg ihren Herrschaften die Treue und trägt in der schweren Nachkriegszeit mit ihrer Hände Arbeit in der neuen Heimat Tangermünde ganz wesentlich zur Ernährung bei. Ganz allmählich und sehr zaghaft entwickelt sich bei Gerda etwas Selbstbewusstsein, die nun die Frau nicht mehr Gnädige nennt.