„Wir könnten es lohnend machen und unser Zelt nehmen. Das verschimmelt bloß auf dem Boden.“
„Hm“, machte Fine, und über ihrer Nasenwurzel kerbten sich zwei Falten ein.
„Hör zu, Fine, ein Auto ist da und ein Zelt auch. Das haben wir nicht alle Tage. Der See ist schön. Niemand kennt uns dort. Wir kochen selbst. Das machst du, ich angle Fische.“
„Also Jäger und Sammler, Stephan?“
Ich wich ihrem Blick nicht aus. „Du kannst dich auf mich verlassen.“
„Wenn wir eine Gruppe wären …“
„Sind wir nicht ’ne Gruppe?“
„’ne verdammt kleine“, sagte sie.
Ich sprang auf, raste die Treppe hinunter und brach im Vorgarten Grünzeug von einem Strauch. Hinauf nahm ich drei Stufen auf einmal. Ich drückte Fine den Zweig in die Hand und sagte: „Grün ist die Hoffnung!“
Sie strich über die Blätter.
„Hast du Angst?“
„Ach!“
„Du kannst dich auf mich verlassen“, sagte ich noch einmal und hielt ihr meine Hand hin.
Fine nahm sie und sagte: „Würde ich sonst mit dir fahren?“
Stephan packte ein: Zelt, alles, was an Ausrüstung herumstand und was die Speisekammer hergab. Die Ungeduld ließ ihn auf die Uhr sehen. Es war noch zu früh. Er steckte sich eine Zigarette an. Fine würde sicher erst auf ihrem Koffer hocken, bemüht, die Schlösser einschnappen zu lassen. Große Koffer, das wusste er von Babs und Doris, brachten die Mädchen immer angeschleppt. Die Jungen konnten sich die Ungetüme dann auf den Ast stemmen und damit abbuckeln, auch wenn sie so taten, als mache es ihnen nichts aus. Und es waren damals drei Kilometer von der Bahnstation gewesen. Nein, Babs und Doris weinte er keine Träne nach. Für Fine würde er sich zwei Riesenkoffer aufladen.
Ob sie wohl schon bei Mutter Matz war, um die Wohnungsschlüssel abzugeben? Nanu? würde Mutter Matz fragen. Nach Bernwalde, zu Martina, eine gute Woche vielleicht, wollte Fine antworten, denn das würde Mutter Matz verständlich sein. Richtig, würde sie sicherlich sagen, fahr nur und erhol dich schön, ich pass auf die Wohnung auf.
Stephan schaute wieder auf die Uhr. Fine musste gerade auf dem Weg zum Bahnhof sein. Da mühte sie sich mit dem Koffer in der sengenden Mittagshitze ab! Stephan ging auf die Veranda. Das Thermometer zeigte achtundzwanzig Grad im Schatten und Fine mit dem Riesenkoffer! Breit, mit gelben Lederecken und einem Riemen, damit das Ding nicht aufplatzt, so sah ihn Stephan vor sich. Diese Schlepperei konnte er nicht zulassen. Er raste aus dem Haus, schloss ab und sprang ins Auto. Als er starten wollte, ließ er sich jedoch auf den Sitz zurücksinken. Das wäre gegen die Vorsicht. Fine mit dem Koffer! Wer von all den Leuten, die sie beide in Ellerstädt kannten, würde an harmlose Märchen glauben, wenn sie zu ihm in den Wagen stieg? „Ruhig, alter Junge“, sagte er zu sich, „Fine ist kräftig. Fahr wie verabredet nach Bernwalde, bring nichts in Unordnung.“
Er scheuchte die Bernwalder Hühner aus ihren Schattenkuhlen, als er auf dem Bahnhofsvorplatz bremste. Nach einem Blick auf seine Uhr peilte er die große, altmodisch verschnörkelte über der Eingangstür an. Sie ging genau, zu genau. Sechzig Sekunden, dann ruckte der Zeiger vor, und wieder sechzig Sekunden, und wieder ruckte er vor.
Noch fünfundzwanzigmal musste er mit seinem in dieser trägen sommerlichen Ruhe nicht zu überhörenden Knacken vorspringen. Stephan lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er würde mindestens zehn Minuten vergehen lassen, ehe er wieder hinsah. Er hätte später fahren sollen. Doch man kann eine Panne haben, zu spät kommen und dann als unzuverlässig dastehen. Es liegt ihm nichts an mir, könnte Fine denken. Quatsch, das würde sie nicht denken, und er war ja schon in Bernwalde, und der Wagen war so intakt wie die Bahnhofsuhr.
Vorsichtig blinzelte Stephan durch die Lider. Vier Minuten waren erst um. Noch einundzwanzigmal Knack, bis Fine da war. Er schloss wieder die Augen. Fine, dachte er, Fine. Er lauschte auf das metallische Knacken, das die Stille in so unerträglich lange, gleichmäßige Abstände teilte, das leiser wurde, immer leiser …
Sein Name ließ ihn aus der Tiefe des Schlafs auftauchen.
„Hallo, Stephan!“ Fine beugte sich durch das heruntergelassene Wagenfenster und rüttelte ihn leicht. „Wartest du schon lange?“
Er fuhr auf und sagte, noch ganz benommen: „Bin gerade erst angekommen.“
„Du Spinner“, sagte sie und lachte. „Da bist du wohl mit geschlossenen Augen gefahren? Und ich soll mich dir anvertrauen? Ich nehm‘ den nächsten Zug zurück.“
„Nein!“, schrie er und sprang aus dem Wagen und hielt sie fest. „Wo hast du deinen Riesenkoffer?“, fragte er.
Aber es war nur eine karierte Reisetasche, die er auf die hinteren Sitze legte, und der Campingbeutel mit den Badesachen.
Und dann guckte Stephan sie richtig an. „Fine“, sagte er, „siehst du schick aus!“
Sie drehte sich einmal um sich selbst, wiegte sich mit ein paar Mannequinschritten über das holprige Vorplatzpflaster und quäkte: „Beachten Sie bitte dies maritime, direkt azurne Blau, Modefarbe des Jahres! Dazu der modisch gefällige Schnitt des Kostüms! Die Dame von Welt trägt weiße Lackschuh dazu.“
„Du bist verrückt“, sagte er. „Mit deinem Geschrei weckst du ganz Bernwalde aus seinem Dornröschenschlaf, die Schlosswache wird dich arretieren. – Was hast du da in der Zeitungspapiertüte?“
„Gegen Skorbut, gestrenger Herr“, flötete sie. „Ihr habt gesagt, Ihr räumt alle Konserven aus dem Kühlschrank.“ Und mit richtiger Finestimme sagte sie: „Nimm sie bloß, Stephan, gleich platzt sie auf.“
Aber als er die Tüte hatte, langte sie schnell hinein, angelte zwei Zwillingskirschen heraus und hängte sie ihm über die Ohren.
„Rein ins Auto!“, befahl er. „Wir müssen los, ehe sie uns festnehmen.“ Dann ließ er den Tacho über die Sechzig klettern. Der ABV von Bernwalde schlief in der heißen Mittagsstunde wohl genauso tief wie das kleine Nest.
Stephan stellte das Radio an und suchte Musik. Fine sang. Ab und zu stopfte sie sich Kirschen in den Mund und spuckte die Steine aus dem Fenster.
„Das Fräulein sind wohl noch nicht oft Auto gefahren?“, fragte er.
„Selten, gestrenger Herr, selten. Meist nur mit der Postkutsche.“
„Ja, ja, die Postkutsche, das waren noch Zeiten!“, sagte er und gab Gas.
Fine konnte vor Freude nicht still sitzen, und ihre Beine sahen sehr lang aus. Machten das die matt glänzenden Strümpfe? Stephan wurde unruhig. Du lieber Himmel, dachte er, Fine ist furchtbar aufgeregt. Er lenkte den Wagen in einen Waldweg und stoppte.
„Zieh dich auf Camping an“, sagte er. „Du knautschst dir dein schickes Kostüm.“ Und er ging, ohne sich umzudrehen.
Was sollte aus seinem Versprechen werden? Eine Woche würde er mit ihr allein sein, beim Baden, beim Schlafen, im Wald und am Wasser, jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang. Ihm wurde heiß und kalt. Du lieber Himmel, dachte er wieder, du lieber Himmel.
Er hörte sie rufen, und als er sich umwandte, kam sie ihm entgegengeschlendert. Nun, da sie nicht mehr das neue azurblaue Mädchen war, sondern die gewohnte Fine, fühlte er sich erleichtert.
Sie machte ein geheimnisvolles Gesicht, und als sie dicht vor ihm stand, streckte sie ihm ihre geschlossene Hand entgegen. „Rate, was da drin ist.“
Stephan besah sich die Faust von allen Seiten, „’ne Blindschleiche“, sagte er endlich.
„Falsch“, sagte Fine, „ganz falsch!“ Langsam geben ihre Finger die Handfläche frei, darauf lagen zwei glatte goldglänzende Ringe.
Stephan sah Fine an. Sie war erstaunlich, seit sie ihn in Bernwalde geweckt hatte. Sie steckte so voller Überraschungen, dass ihm seine gerade erst gefundene Ruhe wieder abhandenkam. Fine sagte: „Wenn wir sie tragen, wird niemand neugierig werden. Überleg doch mal, zwei so junge Leute und schon mit Wartburg! Mit Ring wirken wir älter und uninteressanter. Probier mal, ob er passt.“
Eifrig steckte sie ihm den Ring an den Finger. Er saß, als wäre er nach Maß angefertigt. Dann hielt sie ihre Hand neben seine. „Wie echt verheiratet“, sagte Fine, „wie Hochzeitsreise.“