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Im Gelben. Geschichten aus Mecklenburg von Sonja Voß-Scharfenberg
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
09.08.2022
ISBN:
978-3-96521-736-2 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 342 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Lesbisch, Belletristik/Politik, Belletristik/Moderne Frauen
Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
Mecklenburg, Biografie, DDR, Lesbisch, Liebe, Familienleben, Wende, Alkoholiker
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Letzter Dienstag

Sie schiebt vorsichtig die Zudecke beiseite, damit er nicht wach wird. Dann geht sie sich waschen.

Es ist früher Nachmittag. Wie immer ist er eingeschlafen, nachdem er mit ihr fertig war. Erfahrungsgemäß schläft er danach zwei Stunden. Es bleibt genug Zeit also.

Sie schneidet sich mit dem elektrischen Messer eine Scheibe Brot ab. Dienstags bekommt sie nie Mittag. Sie muss gleich nach der Schule kommen. Er wartet auf sie und gibt ihr zehn Minuten für den Weg. Immer dienstagnachmittags. Da nimmt er sich frei im Büro.

Wenn sie zu Hause ist, muss sie sich gleich ausziehen. Er steht schon da in seiner Jogginghose und bestimmt hat er sich in Vorfreude auf sie … Dieser alte Mann, zu dem sie, außer dienstagnachmittags, Vati sagt.

Dienstagnachmittags sagt sie nichts.

Sie müsste sich an die Hausaufgaben setzen, die Fünfte ist nicht so leicht.

Einige Mädchen aus ihrer Klasse behaupten, sie hätten schon mal … Wahrscheinlich spinnen sie. Sie wissen nichts.

Sie weiß so ziemlich alles. Seit drei Jahren liegt sie bei ihm im Bett. Zuerst hat es wehgetan. Jetzt ist es nur noch widerlich. Er ist schon so entsetzlich alt. Zweiundvierzig. Sie wird zwölf nächste Woche. Dienstag. Vielleicht, dass sie da Ruhe vor ihm hat.

Wenn sie es heute macht, wird sie immer Ruhe haben vor ihm. Verdient hat er es. Und es ist auch nicht schlimmer als das, was er mit ihr macht.

Wenn sie es nicht tut, weiß sie, bumst er sie reif fürn Psychoschuppen. Da landen sie alle. In jeder Reportage zeigen sie das.

Vielleicht ist es auch schon zu spät. Machen wird sie es trotzdem. Seit einem halben Jahr, weiß sie, dass sie es machen wird, eines Dienstags, wenn er fertig ist mit ihr und schläft.

Er liegt immer auf dem Rücken danach und schnarcht.

Sie kann ihm gut die Kehle durchschneiden.

Sie hat ihm nie gesagt, dass sie ihn umbringen wird. Er hat ihr oft damit gedroht, falls sie ein Wort sagen sollte.

Früher hat er sie beschenkt und bedroht. Heute droht er bloß noch. Er sagt, er wird doch nicht seine eigene Tochter bezahlen.

Er grunzt wie ein Schwein, wenn er auf Touren ist. Gott sei Dank sagt er nichts. Was sollte er auch sagen?

Beim ersten Mal geht es immer ziemlich schnell. Wahrscheinlich macht er sich, bevor sie aus der Schule kommt, schon total heiß. Beim zweiten Mal dauert es eine Weile bis er so weit ist.

Sie macht gar nichts, außer dass sie versucht, so entspannt wie möglich zu sein. Wenn sie es schafft, entspannt zu sein, tut es nicht weh. Das sind so Erfahrungen.

 

Sie steckt sich eine von seinen Zigaretten an und überlegt, ob sie erst die Hausaufgaben machen soll.

Sie kapiert die Prozentrechnung nicht. Dienstags kapiert sie sowieso nie etwas. Zwar kann sie ausrechnen, wie viel 13,4% von 2480 sind, aber den umgekehrten Weg hat sie nicht drauf. Wie viel Prozent sind 168 von 2480?

Eigentlich ist es auch egal. Wenn sie ihm die Kehle durchgeschnitten hat, wird sie sowieso die Polizei anrufen. Die werden nicht fragen, wie viel Prozent 168 von 2480 sind. Er muss hier weg sein, bevor Mutti und Ines kommen. Den Anblick will sie ihnen ersparen. Mutti wird jammern, warum sie sich ihr nicht anvertraut hat. Am Ende kommt raus, sie hätten bestimmt eine andere Lösung gefunden.

Allein sie weiß, es gibt keine andere Lösung. Höchstens, Mutti hätte es erledigt in ihrer Verzweiflung. Da ist es schon besser, sie macht es selbst. Sie gilt noch als Kind und ist immerhin erwachsen genug, sich die unterschiedlichen Konsequenzen auszumalen.

Mutti hat einmal, als sie solch eine Reportage gesehen haben, gesagt, sie verstehe das nicht, eine Mutter müsse so etwas doch merken.

Es ist auch viel zu spät, sich Mutti anzuvertrauen. Dann hätte sie es gleich tun müssen. Aber vor drei Jahren hatte sie wirklich geglaubt, er würde sie umbringen. Davor hatte sie Angst. Da war sie ja auch noch ein Kind.

Heute ist sie fast zwölf, und die Drohung ist zur alltäglichen Floskel geworden. Sie unterscheidet sich nicht mehr von dem Auftrag „Wasch ab!“ oder „Geh einkaufen!“

Die Kehle durchzuschneiden scheint ihr das Sicherste zu sein. Ihn zu erstechen, vielleicht noch mehrmals zustechen zu müssen, das wird sie nicht schaffen. Sie hatte auch in Erwägung gezogen, ihm die schwere Bodenvase über den Kopf zu hauen. Aber es ist nicht sicher genug, dass er dann auch richtig tot ist. Er soll richtig tot sein.

Sie hat es oft genug durchgespielt in ihren Gedanken. Wenn sie das elektrische Messer nimmt, braucht sie wahrscheinlich kaum etwas zu tun. Nur ranzuhalten.

Zuerst, als sie es gedacht hatte, war sie aufgeregt und hatte Angst vor sich selbst. Aber jetzt schon lange nicht mehr. Sie denkt es ja schon seit einem halben Jahr und ekelt sich schon seit dreien.

Er hat es verdient. Er ist ein armes Schwein, aber er hat es verdient.

Ob sie sie gleich mitnehmen, wenn sie kommen? Sie wird nicht lügen und sagen, dass es heute besonders schlimm war. Sie wird sagen, es war wie immer, und es war lange geplant. Und sie wird auch bei der Polizei sagen, dass er es verdient hat.

Die Polizisten werden seufzen und das genauso sehen, aber nicht sagen.

Am Ende landet sie doch noch in solch einem Psychoschuppen für missbrauchte Kinder. Das kann denen helfen, die sich nicht wehren konnten. Aber wenn er tot ist, wäre es für sie besser, sie könnte mit Mutti und Ines irgendwohin ziehen und in Ruhe leben.

Wegen Ines macht sie es auch. Die ist jetzt fünf. Wenn sie es nicht tut, ist Ines in drei Jahren dran. Wenn er überhaupt so lange warten kann.

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