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Die singende Lokomotive. 25 Kurzgeschichten von C. U. Wiesner
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
16.10.2013
ISBN:
978-3-86394-396-7 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 138 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Humorvoll, Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Politik, Belletristik/Satire
Historischer Roman, Belletristik: Humor, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Satirische Romane und Parodie (fiktional)
Hund, DDR, 2. Weltkrieg, Nostalgie, Handwerk, Pfusch, 20. Jahrhundert, Humor, Satire, Kurzgeschichten, Politik, Zeitgenössisch
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Nachdem die armselige Zivilistengarde, wie Graf Wutzow den Volkssturm verächtlich nannte, bereits am Vortage aus dem Dorf desertiert war, hatte er selbst die Befehlsgewalt übernommen. Dabei kam ihm die preußische Anekdote um General Coubiere, den mannhaften Verteidiger der Festung Graudenz, in den Sinn, der im Jahre 1807 dem französischen Parlamentär Savary zugerufen hatte: „Wenn es keinen König von Preußen mehr gibt, so bin ich König von Graudenz.“ Ein spitzbübisches Lächeln verirrte sich auf die welken Lippen des Obersten. „Warum nicht?“, murmelte er. „König von Ladenthin.“

Schon am frühen Morgen hatte er seine Gutsleute zusammengerufen und die Wehrfähigen unter ihnen ausgesucht. Es waren dies drei Kriegskrüppel, neun Männer über siebzig, sechs Pimpfe und der Dorftrottel. Sie alle wurden nun aus den Beständen des von Wutzowschen Jagdwaffenarsenals armiert, wobei jedoch die unsicheren Kantonisten, die vor 1933 rot gewählt hatten, statt eines Schießgewehrs nur eines Hirschfängers für würdig befunden wurden.

Im Laufe des Nachmittags hatte der Oberst seine Streitmacht rings um Schloss Ladenthin postiert, an der Kuhbrücke, am Ententeich und hinter der Deckstation. Die Schlüsselstellung zwischen dem Venuspavillon und den Rübenmieten hielten zwei Eliteschützen, bewaffnet mit der Bockbüchsflinte und dem guten Drilling des Grafen. Der alte Wutzow war auf seiner Runde noch einmal von einem zum andern gegangen, hatte den Männern auf die Schulter geklopft und ihnen ein paar Zigaretten zugesteckt. Für die Nichtraucher hatte er ein launiges Wort gehabt.

Als er nun wieder allein auf dem Schlosshof stand, befiel ihn jählings eine quälende Unruhe. Hinter dem Bergfried klomm der Mond über die Zinnen. Das Grollen jenseits des Waldes war stärker geworden. Aber nicht das war es, was ihn beunruhigte, glaubte er doch zu wissen, dass Schloss Ladenthin gegen die nur dürftig ausgerüsteten Russen, die ohnehin auf dem letzten Loch pfiffen, zu halten sei, bis die Entsatzarmee anrückte. Und wenn nicht - ein ehrenvoller Soldatentod war ihm stets gewiss.

In diesem Augenblick schrak er heftig zusammen. Aus dem Rittersaal drang ein leises Poltern, und hinter den hohen Fenstern schien eine schemenhafte Gestalt durch den finsteren Raum zu wandeln. Der Oberst konnte sich eines schaudernden Befremdens nicht erwehren, denn er war sicher, dass sich um diese Stunde keines Menschenseele im Renaissanceflügel des Schlosses aufhielt.

Friedrich von Wutzow fürchtete die Gespenster seines Herrensitzes nicht, von Kindheit auf war er mit ihnen vertraut. Er kannte das nächtliche Kichern im Blauen Salon, das Kettenrasseln im Westkamin, hatte auch schon in hellen Mondnächten den silberbeschlagenen Sarg seines Vorfahren Johann Georg aus dem Brunnen auftauchen sehen. Dies hier aber musste etwas anderes sein, und da durchzuckte es wie eine Erleuchtung das matte Hirn des Grafen: die weiße Frau! Noch vor Wochen hatte er in den vergilbten Pergamenten seines Archivs gelesen und war dabei auf die jahrhundertealte Sage von der verwunschenen Gräfin Amalie gestoßen. Und nun erinnerte er sich auch an die Tage seiner Kindheit, wenn er sich an den Winterabenden heimlich in die Leutestube gestohlen hatte, um den gruseligen Erzählungen der alten Berta zu lauschen. Wenn einst, so hieß es da, die letzte Stunde derer von Wutzow zu Ladenthin geschlagen habe, so werde sich die geisterhafte Amalie in ihren weißen Leichengewändern auf der Zinne des Bergfrieds zeigen.

Angestrengt äugte der Oberst zum Turm. Wieder deuchte es ihm, als wäre ein Schatten an den Stiegenfenstern vorübergeglitten. Ein Windstoß fuhr in die noch kahlen Zweige der hohen Schlosseiche, drehte quietschend die Wetterfahne des Bergfrieds herum. Dann war es wieder totenstill auf dem Schlosshof. Nur von draußen, vom Park her, tönte ein immer lauter werdendes tiefes Brummen herüber. Ein knackendes Geräusch auf dem Turm ließ den alten Wutzow auffahren. Er hob den Kopf und erstarrte. Hoch droben hinter den Zinnen tanzte das Gespenst, auf und nieder gleitend, seinen schauerlichen Geistertanz, grässlich anzusehen in seinem weißen Leichentuch. Nun war es so weit: Die hagere, gebeugte Gestalt des Obersten straffte sich noch einmal. Er zog seinen schlachtenerprobten Husarensäbel und humpelte festen Schrittes, ein knarrendes Hurra auf den Lippen, zur Zugbrücke.

Als der erste russische Panzer zwischen Venuspavillon und Rübenmieten hindurchfuhr, ohne zu explodieren, ereilte den letzten Grafen von Ladenthin ein Schlaganfall.

Der mildherzige Tod ersparte ihm die grause Kunde, dass auf dem Bergfried nicht die weiße Frau, sondern die weiße Fahne erschienen war, die der Gutsarbeiter Lammert gerade noch im rechten Augenblick gehisst hatte.

 

Die singende Lokomotive. 25 Kurzgeschichten von C. U. Wiesner: TextAuszug