Gewöhnlich mögen normal veranlagte junge Menschen die Schule nicht und tun alles, um sie so schnell wie möglich mit Anstand hinter sich zu bringen. Warum das bei uns - ich maße mir noch einmal das Amt des Klassensprechers an und gebrauche den Plural - anders war? Weil wir das alles nicht so ernst nahmen. Wenn ich um halb acht das Haus verließ, freute ich mich auf zweierlei, auf die Frühstücksstullen, die ich schon auf halbem Wege in mich hineinstopfte, und auf Wernis grinsendes Teufelsgesicht. Mal sehen, was wir heute wieder aushecken!
In der zwölften Klasse saß er neben mir am Schultisch. Wir empfingen und sendeten auf derselben Humorfrequenz. Für unsere Lehrer war das nicht so ein Glücksfall wie für uns.
Werni war nicht nur ein Witzbold, sondern nahezu ein Genie in den Fächern Mathematik und Physik. Heute hätte man ihn vermutlich gleich ins zweite Studienjahr an irgendeine unserer Hochschulen gesteckt. Damals aber war er trotz seines guten Abiturzeugnisses und seiner positiven Beurteilung mit zwei unauslöschlichen Makeln behaftet: Sohn eines privaten Milchhändlers und praktizierendes Mitglied der katholischen Kirche. Ein Jahr nach dem Abitur murkste er bei einem Schlossermeister herum. Dann wurde er an der Technischen Hochschule in Charlottenburg immatrikuliert.
Wie konnte einer im Osten leben und im Westen studieren?
Vor dem August 1961 war das relativ einfach. Man tauschte unsere Mark zum irrealen Kurs von 1:5 um und mietete sich ein erbärmliches Untermieterquartier. Am Wochenende ließ man sich von Muttern Stullen, kalte Koteletts und sehr viel Quark aus der Milchhandlung einpacken. Damit kam man über die Runden.
Werni, der ja sogar noch regelmäßig zu unseren Klassentreffen kam, hat damals nie daran gedacht, nach dem Westen abzuhauen. In Dresden werden sie Flugzeuge bauen, das ist genau meine Fachrichtung, meinte er.
Über den DDR-eigenen Flugzeugbau müssen wir hier nicht reden. Alle jungen Nationalstaaten haben zunächst den Zug zur Himmelsstürmerei.
Werni ging, wie das damals so war, auch in der Staatsbibliothek ein und aus. Dabei verlor er seinen westlichen Studentenausweis und wurde am Wochenende in seinem Heimatort verhaftet und nicht sehr freundlich behandelt. Kurz darauf ließ man ihn zwar ungeschoren laufen, aber ihm war der Spaß an unserem Lande vergangen.
Nach vielen, vielen Jahren bin ich Werni wiederbegegnet, in unserer Heimatstadt. Im Trainingsanzug saß er vor dem Bootshaus und reichte mir eine Flasche des von mir nicht sonderlich geschätzten Potsdamer Bieres.
Es kommt nicht auf die Qualität des Biers an, meinte er, sondern darauf, mit wem man es trinkt.
Werni war eine bedeutende Kapazität auf dem Gebiete des Weltraumflugs und der Computertechnik geworden, einer der Verantwortlichen des Skylab-Programms in Cape Kennedy, hatte mit sowjetischen Fachkollegen nicht nur Whisky, sondern auch Wodka getrunken, hatte Vorträge auch an sowjetischen Akademieinstituten gehalten.
Im September 1983 sitzen wir beide in seinem Haus bei Bremen und erinnern uns fröhlich der alten Zeiten. Werni erzählt von seinem übernächsten Projekt: Raumkolonien im Weltraum. Ein riesiger Zylinder. Darin Dörfer, Wälder und Seen. Menschen, die sorgenfrei leben ...
Kann es sein, dass du spinnst? fragt Claudia respektlos.
Wir beiden Alten schauen einander an. Wir müssen es nicht in Worte fassen:Alles ist möglich, so es gelingt, einen neuen Krieg zu vermeiden. Wenn Werni und seine Frau, die er sich aus der Heimat mitgebracht hat, von der DDR reden, gebrauchen sie das Wort zu Hause.
Trotz des gemeinsamen Rundganges durch die nächtliche Bremer Altstadt trennen uns Welten. Manchmal bin ich ein wenig traurig darüber und stelle mir vor, mein Freund Werner säße mit mir im Warnemünder Teepott und berichtete mir von seinen jüngsten Erlebnissen in Baikonur. Warum musste sein Vater auch diesen verdammten Milchhandel anfangen?