Zu den Pflichten eines Konfirmanden zählte neben der wöchentlichen Teilnahme am Unterricht auch der allsonntägliche Besuch des Kindergottesdienstes. Da saßen wir denn ganz hinten auf der Empore der prächtigen gotischen Hallenkirche St. Katharinen und verhunzten aus voller Kehle den schönen alten Choral, zu dem Luise Henriette, die Gattin des Großen Kurfürsten, den ergreifenden Text Jesus, meine Zuversicht geschrieben hatte. Wir Gassenjungen sangen indes:
Jesus, meine Kuh frisst nicht.
Erhaltse mir am Leben!
Heu und Hafer willse nicht.
Was soll ich ihr bloß geben?
Jeden Donnerstag zum Konfirmandenunterricht, den wir nur Konfa nannten, trat Pfarrer Ristock unter uns, um fürchterliche Musterung zu halten. Von einem Zettel las er einige Namen ab und fragte jeden einzelnen Säumigen, heftig durch die Zahnlücke zischend: Affmuff (Asmus)! Warum warft du am Wonntag nicht fum Kindergotteffdienft? Die gängigen Antworten in jenem Hungerjahr 1947 lauteten: Ick war mit meine Jeschwister uffn Acker, Ährenlesen. - Ich musste mit meinem Vater in den Wald, Holz holen. - Meene Eltern ham mir mit uffs Land jenommen. Ick sollt mir mal den Bauch vollhauen.
Da Pfarrer Ristock sich offenbar von himmlischem Manna statt wie wir von irdischer Speise ernährte, packte ihn ob solcher Entschuldigungen jedes Mal ein heiliger Zorn. Jeweils drei der fast schon dem Heiland verlorenen Schäflein wies der gebeugte Hirte mit der weißen Stoppelfrisur auf eine unbequeme Sitzgelegenheit an der Seitenwand und sprach: Schulfe, Schmitfdorf und Wujanf! Nehmt auf der Strafbank Platf, biff ihr euch wieder ehrlich gemacht habt!
Ich erzählte meinem Vater von dieser Maßnahme. Der wollte mich stehenden Fußes vom Konfirmandenunterricht abmelden, scheiterte zwar an Mutters Widerstand, sagte mir aber unter vier Augen: Wenn dich der Pastor dafür auf die Eselsbank jagt, darfst du von mir aus aufstehen und ganz laut die Tür hinter dir zuschlagen. Seitdem betete ich während des Unterrichts still vor mich hin, Pfarrer Ristock möge mich auf die Strafbank schicken, aber Gott hatte taube Ohren und ließ mich nicht zu den Auserwählten gehören.
Über den Einsegnungsakt in St. Katharinen will ich mich nicht näher auslassen. Opa Muschert saß in der ersten Reihe des Publikums, wohl um zu begutachten, wie sein von Schneidermeister Kuster zusammengestutzter Hochzeitsanzug um meine dürren Glieder schlotterte. Dabei spielte Opa nervös oder schon leicht angetrunken mit seinem Klappzylinder, und ausgerechnet beim Vaterunser machte es überlaut klack!
Der Hut hatte sich aus einer tellerförmigen Scheibe in eine überdimensionale Angströhre verwandelt und im Davonsausen Pfarrer Ristock mit Schwung am Hinterteil getroffen. Glucksen und Kichern unter den Konfirmanden, aber auch unter den Angehörigen.
Der Pastor fuhr herum. Vielleicht war ihm Conrad Ferdinand Meyers Novelle Der Schuss von der Kanzel eingefallen. Er nahm einen Anlauf wie ein Elfmeterschütze und beförderte den vertrackten Hut mit einem kräftigen Fußstoß ins Publikum zurück. Das Geschoss traf genau den Mann, nämlich Opa Muschert, und der setzte sich in seiner Verlegenheit den Zylinder auf das kahle Haupt, worauf in unseren Reihen kein Halten mehr war.
Pfarrer Ristock aber sprach mit Donnerstimme: Wahrlich, ich wage euch: Witwet nicht dort, wo die Fpötter witwen! Irgendwie brachte er seine Amtshandlung mit Anstand zu Ende. Ich wunderte mich nur, dass er diesmal die sowjetische Militäradministration in Karlshorst nicht als Buhmann bemühte. Das tat er sonst immer, wenn er glaubte, mit uns nicht fertig werden zu können. Ich konnte mir damals schon nicht gut vorstellen, dass uns auf Wunsch Pfarrer Ristocks ein schwer bewaffnetes Streifenkommando der Roten Armee zum Kindergottesdienst schleppen sollte, zumal der brave Gottesmann, wie er uns in düsteren Anspielungen oft genug wissen ließ, mit jenen ungläubigen Steppenbewohnern wenig im Sinn hatte. Solche Doppelzüngigkeit machte mich schon bald der Kirche abhold.
Die Familie war erstaunt, dass mir Pfarrer Ristock trotz alledem so einen segensreichen Konfirmationsspruch zugeeignet hatte: Sei allzeit gesund, wie Jesus Christus war! Mir wurde zwar schon während der häuslichen Feier speiübel zumute, weil mir Onkel Waldemar als künftigem Mitmann eine bockwurstgroße Zigarre angebrannt hatte, aber ich überlegte noch lange, wie gesund der Herr Heiland denn gewesen sei. Ich hatte ja immerhin schon Masern, Ziegenpeter, Scharlach und Diphtherie hinter mir, und von derlei Leiden stand in der Bibel nichts zu lesen. Das Rätsel löste sich, als meine schriftgewandte Cousine Pfarrer Ristocks undeutliche Handschrift richtig entzifferte: Sei allzeit gesinnt, wie Jesus Christus war!