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Von der Henne Hanne Sorgeviel und dem Urtrieb. Eine Geburtstagsgeschichte von Friedrich Wolf
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Preis E-Book:
0.99 €
Veröffentl.:
24.10.2024
ISBN:
978-3-68912-357-4 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 19 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Humorvoll, Belletristik/Satire
Belletristik: Humor, Satirische Romane und Parodie (fiktional), Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories
Chaos, Eier, Familienbande, Familiensinn, Fürsorge, Gottvater, Harmonie, Henne, Himmel, Hofleben, Humor, Kücken, Leidenschaft, Mütterlichkeit, Natur, Nest, Schicksal, Übermaß, Urtrieb, Verantwortung
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Es ist eine alte Wahrheit, dass eine Henne ihre Küchlein stets um sich haben will. Dieser Trieb ist ein Urtrieb. Er entsteht und vergeht nicht; er kann nicht angelernt noch aberzogen, nicht geboren noch getötet werden; er ist da, so wie das Licht am Morgen und die Dunkelheit am Abend; er ist ein … Urtrieb.

Doch wie es nicht allein schwarze und weiße, sondern auch braune, gefleckte und gescheckte Hennen gibt, nicht allein Trut-, Reb-, Perl-, Wachtel-, Brut-, Leg- und Fetthennen, sondern auch fette Trut- und magere Perl-, legfrohe Reb- und brutfaule Wachtelhennen, so weist auch jener Urtrieb des Küchleinbetreuens verschiedene Grade und Zwischengrade der Heftigkeit auf. Ja, dieser Trieb, der so naturgemäß, kann zur Leidenschaft und zum Laster werden. Denn man kann selbst des Guten zu viel haben!

Hier aber soll keine Abhandlung geschrieben werden, sondern von der wackeren Henne Hanne Sorgeviel die Rede sein. Sie lebte vor langer, langer Zeit, in den Tagen des großen Krieges, der so vielen Menschen das Leben und den Hennen die Legefreiheit kostete, dergestalt, dass jeder Henne, ob jung oder alt, schwarz, braun oder gefleckt, wöchentlich eine bestimmte Rundsumme von Eiern staatsrechtlich anbefohlen wurde. Solches aber missfiel der Henne Hanne Sorgeviel; und sie beschloss, ihre alte Ordnung und Freiheit um jeden Preis wiederherzustellen. Als alte Legehenne könne sie das verlangen! – Sie schuf sich also in einem verborgenen Winkel zwischen Scheuer und Mist ein neues Nest und ergab sich mit gewohnter Gelassenheit ihrem Berufe des Legens und Brütens. Doch da ihr die Eier nicht mehr entzogen wurden, so liefen alsbald zehn, fünfzehn, zwanzig, ja zweiundzwanzig Küchlein und Kämmlein auf dem Hofe umher, bis man der Henne Brutplatz entdeckte und das Brüten ein Ende hatte.

Aber die zweiundzwanzig Küchlein waren da und wollten versorgt sein. Zwar hatte es der Henne Hanne Sorgeviel nie an Familiensinn gefehlt. Sie hatte stets ihre Pflicht getan, sich ihrer Eier entledigt – „papperlepapp und gackeregack, wer gibt mir was dafür!“ –, auf Ordnung und Sauberkeit gehalten, sich geputzt und gestutzt, und damit gut! Das wurde nun mit einem Schlage anders. Zweiundzwanzig Schnäbel wollten gestopft, vierundvierzig Flüglein geputzt, zweihundertundzwanzig Zehlein gestutzt sein. Aber da kannte man die Henne Hanne Sorgeviel schlecht! Sie ging mit einer wahren Leidenschaft zu Werke. Sie empfand die Arbeit nicht als Pflicht; nein, diese Arbeit zog sie, und sie stürzte sich ihr entgegen. Vom ersten Hahnenschrei bis zum Nestruf lief und flügelte sie um die Hecke, verwarnte, lockte, fütterte, stopfte, putzte, drohte und wehrte der kleinen Bande. Da gab es tausenderlei Weisungen und Aufklärungen, Vermahnungen und Belehrungen, bis all die Nackthälse und Kratzefüße begriffen, wozu eine ordentliche Pfütze nütze sei, dass die schwersten Körner am tiefsten und die fettesten Würmer am verborgensten liegen, dass man nicht erst baden und dann waten, sondern erst wühlen und dann spülen muss, dass jedes Küchlein auf Fußpflege und Marschordnung zu halten hat, dass die Hähnlein die Kämme grad zu tragen, Schnabel und Sporn zu wetzen und die Hühnchen ihre Kalkmahlzeiten einzuhalten haben, dass Morgentau und Frühgras glänzende Augen, Schnecken aber Federschwund erzeugen, während Sand den Magen reinigt; dass man den Häher am Schrei, den Falken am Flug, das Wiesel am Lauf, den Hund am Sprung, die Katze am Schlich erkennt. Was gab es alles zu lernen und lehren für die Henne Hanne Sorgeviel und ihre Brut.

Von der Henne Hanne Sorgeviel und dem Urtrieb. Eine Geburtstagsgeschichte von Friedrich Wolf: TextAuszug