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Schüler Munz wird gemordet von Friedrich Wolf
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Preis E-Book:
0.00 (0.99)) €
Veröffentl.:
01.08.2024
ISBN:
978-3-68912-108-2 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 10 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Familienleben
Familienleben, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Heranwachsen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Seelenleben, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories
1920er Jahre, Bildungsdruck, Familiäre Erwartungen, Familiendrama, Friedrich Wolf, Gesellschaftskritik, Gymnasium, Historische Erzählung, Jugendliche Verzweiflung, Leistungsdruck, Nachhilfestunden, Psychische Belastung, Schülerleben, Schulstress, Schulversagen, Selbstmord, Todesfolge, Tragödie, Vater-Sohn-Konflikt
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Munz war durch diese Minderwertigkeitserklärung seines Sohnes aufs tiefste in seiner eignen Ehre gekränkt. War sein Junge weniger begabt, weil der Vater nicht Regierungsrat, sondern nur Bäckermeister?! Er wollte es ihnen zeigen. Geld spielte keine Rolle. Herbert bekam in den Weihnachtsferien täglich fünf bis sieben Nachhilfestunden von Professoren anderer Schulen. Jeden Tag hatte er ein festes Pensum zu erfüllen. Mit mathematischer Sicherheit musste so der Stoff lang bis Ostern bewältigt sein. Die Stunden wurden auch über die Ferien fortgesetzt, zu dem Schulunterricht. „Die Schande“ des Sitzenbleibens werde er an seinem Sohn nicht erleben. Doch je mehr Herbert an Stoff in sich hineinpresste, umso mehr Räder gingen in seinem Kopf herum. Schließlich war alles nur noch ein einziger Gulasch. Dabei wurde er selbst schlaff, bleich, reizbar, ängstlich. Es war, als sollten in seinem zu engen Schädel mit einem Mal hundert Gänge und Wege mit Gewalt hineingesprengt werden. Bisweilen hatte er eine unbezwingbare Lust, zu turnen, Gewichte zu stemmen, die Fenster herauszureißen und auf die Straße zu werfen.

Dann stand er bei seinem Bruder vor den Feuern und schob mit höchster Freude und Kraft die schweren Mulden aus den Röhren und schwang die Mehlsäcke heran. Hörte er den Vater, so drückte er sich schnell. Munz nannte ihn nur noch den „Bengel“, den „Tagedieb“. In der Klasse hieß er das „Gnu“ oder die „Büffelantilope mit dem treuen Blick“. Dieser Spitzname konnte ihn wild machen. Einem, der ihn hartnäckig „Gnu“ rief, hatte er mit einem Faustschlag das Schlüsselbein zerbrochen. Die erste Karzerstrafe folgte. Auch der Vater nannte ihn, falls er ihn besonders strafen wollte, jetzt Gnu.

Das Gnu wurde immer verprellter, verschlossener, einsamer, trotziger. Die Lehrer sprachen von „passiver Resistenz“. Die Kameraden nannten ihn boshaft und dumm. Er selbst bat den Vater, er solle ihn vor Ostern doch irgendwo in die Lehre tun.

„Irgendwo“, fauchte der Vater, „auch irgendwo muss man einen Fingerhut Verstand haben!“

Das Gnu hatte längst kapituliert. Dennoch musste er dauernd an den „Tag der Schande“ denken, der mit Ostern herannahte. Oft saß er nachts auf dem Speicher und schaute über die Dächer. Den Tag hasste er.

Kurz vor Ostern spielten sie Handball. Der Lehrer trug die Tore in sein Notizbuch ein. Er legte es immer wieder auf die Mauer. Einmal ward er schnell abberufen. Mit Raubtierblick erluchste die Klasse die seltene Beute. Zum Schein spielten einzelne weiter. Drei, vier durchspickten das Buch nach den Zensuren und der Versetzung. Trotz des Spiels herrschte eine völlige Stille auf dem Hof. „Alle! Alle! Bis auf einen!“, hauchte es jetzt von der Mauer herüber.

Einer nach dem andern schlich zu dem Buch, warf einen Blick hinein und stimmte dann in den gespenstischen Chorus leise ein: „Alle! Alle! Bis auf einen!“

Schüler Munz wird gemordet von Friedrich Wolf: TextAuszug