Begannen die alten indischen Spiele mit dem Ruf ihres Ansagers: Alle atmenden Wesen mögen ohne Schmerzen sein! und durfte auf der Schaubühne dort niemand sterben, so rief ein Jahrtausend später der jenseitsverrannte Heidenapostel über die Marterbühne des Lebens: Das Verwesliche muss anziehen die Unverweslichkeit, und das Unsterbliche muss anziehen die Unsterblichkeit! Der Tod ist verschlungen in den Sieg!
Was aber geht uns das heute an? Dieser Staub aus Gräbern? Diese muffende Katakombenluft? Uns, die wir in Sekunden um den Erdball funken und mit donnerndem Motor über die Meere fliegen! Doch auch jede Menschenbrust ist ein unermesslicher Raum. Und der Wunsch nach Schmerzlosigkeit ist darin ein furchtbarer Magnet.
Notterboom Professor des Maschinenbaues und später Leiter einer städtischen Hilfsschule für minderbegabte Kinder Ulrich Notterboom konnte eines Tages seine Schritte nicht mehr zu dem grauen Bau lenken, darin die vier bis fünf Dutzend geistesschwacher Zöglinge auf ihren Lehrer warteten wie alle Tage. An diesem Tage, einem Junitag, da der Himmel in grauen, weichen Wolken wehte, fühlte Professor Notterboom sich nicht dienstfähig. Als er am Morgen aufstand von seinem Arbeitstisch, verspürte er unterhalb des Nabels einen jähen Schmerz, wie einen Dolchstich. Verwundert und nicht einmal erschrocken stand er da und wartete, bis die Beschwerde sich löse; doch wie er den zweiten Schritt setzen wollte, gleich drehte der geheime Gegner sein Instrument wieder in seinem Leibe. Seit den 68 Jahren seines Lebens hatte Notterboom nie solchen Schmerz verspürt. Er war eine zähe Natur, dürr und ausdauernd wie eine Saatkrähe im Winter, eine hagere Gestalt von Haut und Knochen, mit einem grauen Gerinnsel von Kinnbart. Nie war er eine Stunde krank gewesen, wenn man von einigen seelischen Narben absah, die ihn zum Sonderling gemacht.
Denn ein Sonderling war er!
Er, der ordentliche Professor des Maschinenbaues an einer technischen Hochschule, er hatte plötzlich diese Stellung preisgegeben, umgelernt und sich bemüht, den minderbegabten Kindern einer Hilfsschule das Abc und Einmaleins beizubringen.
Und doch war der Anlass kein unbegreiflicher. Sein eigenes Kind, das vierte seines Leibes, ein Töchterlein, licht wie eine Elfe, behänd wie ein Reh, dieses sein liebstes Kind zeigte, dass sein Geist im Alter des Lallens stehenblieb, während sein Körper gliederstark emporschoss. Dabei stand in den Augen des Kindes ein Suchen und Fragen, als seien alle Kräfte des Geistes vorhanden und nur gebunden wie der mächtige Rumpf eines Sklaven, der gefesselt auf die Sprengung der Bande wartet. Diesen hellen und gesunden Blick des Kindes erkannte Notterboom. Er stand wie vor einem Rätsel. Er quälte nächtelang sich und sein Weib, ob in ihrer beider Geschlecht zuvor solch Gebrechen sich gezeigt; er marterte sich in stillsten Stunden, ob eine persönliche Verfehlung auf sein Kind übergegangen. Er fand nichts. Und doch: Aus nichts ward nichts! Das wusste er als Mathematiker und Physiker. Jeder Effekt hatte seine Ursache, jeder Fehler in der Endsumme entsprach einem Fehler in der Kette zuvor. Er war nicht gewohnt, eine Frage ohne Lösung hinzunehmen.
Er prüfte das Gehör seines Kindes; es war scharf wie das eines Tieres. Er ließ den Muskelapparat der Zunge und des Kehlkopfes erkunden; er war fehlerlos. Dennoch bis zum siebenten Jahre kam die Sprache über ein Lallen und selbstgebildete Tontrümmer nicht hinaus.
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An einem Sommernachmittag ging Notterboom mit seinem Kinde er hatte es wegen seines stummen, kräftiggelenken Wesens Reh genannt aus der Stadt hinaus über die Felder zu einem mit Heidekraut und Ginster bewachsenen Hügel.
Dort breitete er, etwas ermüdet, seinen Umhang aus, legte sich auf die Erde und schaute hinauf in die blaue Luft. Hoch droben schossen die Schwalben oder die Lerchen wie durch eine klare Flut.
Plötzlich hört Notterboom Klänge, von weither, aus den Lüften oder sind es Töne einer Menschenkehle? Keine Worte bloß Töne, und doch mehr als Töne ein Singfall, ein Lachen über die Steinhärte des felsigen Bodens, ein Mundstück dieser Lüfte da droben und der wortlosen Ströme des Äthers, ein übermütiges, trillerndes, jubilierendes, feierliches Anschlagen der großen Harfensaite zwischen Luftraum und Erde. Behutsam, jägerhaft hat Notterboom sich aufgerichtet, den Ton zu erhaschen.
Da, droben, auf der höchsten Kimme des Hanges springt Reh umher und pflückt Blumen und Triebe des Ginsters. Sie gleicht in ihrer gebückten Haltung und dem braunen Kleid mit den hellen Tupfen ganz einem Tier, das einherzieht und äst. Von Minute zu Minute hebt sie den Kopf, windet in die Höhe und stößt jene übermütigen Laute hervor, die mehr als Worte die Wonne am Leben und die Lust des Tages bekräften.
So spricht kein erstarrtes Herz.
Es ist eine jener Sekunden, da man Abstand hat zu seinem Leben, da man sich selber wie von einem hohen Berge sieht. Mit einem Ruck entscheidet sich Notterboom, seinem akademischen Berufe zu entsagen und den winzigen Faden zu der verzauberten Seele seines Kindes aufzunehmen und zu verfolgen. Mit der restlosen Hingabe, Sachtreue und Methodik des Forschers ergreift er seine Aufgabe: Es gelingt ihm, neue Lehrformen zu finden, von der impulsiven, ungeordneten Welt des Geistesschwachen Brücken zu schlagen in die Welt der Zwecke. Mehr und mehr werden Rehs Triebhandlungen nun sinnvolle Fertigkeiten, die in Garten und Haus verwertbar. Sie lernt nähen, weben, zählen, an Hand von Würfeln und Kugeln rechnen; ja sie vermag zu schreiben.
Nur die Sprache bleibt aus.
In hellen zwitschernden, schwirrenden Zungenlauten gibt sie ihre Regungen kund. Diese Laute begleitet sie mit einem Fächeln oder einem seltsamen heftigen, flügelartigen Schwingen der Arme. Stark und groß ist sie geworden, ein guter dienstbarer Hausgeist, längst dem Vater entwachsen.
An ihre Stelle sind jüngere Schüler gerückt, die wie von selbst um den Alten herumsprossten wie Pilze um den Strunk einer alten Tanne. Er aber lässt sie nicht aus seiner Hut. Immer neue kleine Invaliden kommen. Die Stadt hat ihm einen überzähligen Raum gewährt. Die Klasse wird zur Hilfsschule. Unbedacht seiner Jahre lehrt, forscht und behütet er weiter. Immer heißer durchdringt er das Dorngestrüpp der verzauberten Kinderherzen. Immer höhere Anforderungen stellt er an sich selbst. Die gedankenlosen, faulen und grausamen Gewohnheiten des Lebens müssen überwunden werden. Nur der Reine kann den Weg durch das Dämonenreich der Geistgelähmten finden. Er lehnt die Fleischkost ab, da aus Tod und Schmerzensschrei des Tieres geboren. Seit Wochen weist er auch das Frühstück zurück und genießt zu Mittag nur Obst, Brot und Milch.