Am nächsten Morgen vor Beginn der Schule betraten nacheinander elf Quartaner in aller Öffentlichkeit Kukoschs Laden.
Alle benahmen sich sehr auffällig, darauf bedacht, von dem Spion Krühbusch, der in derselben Straße wohnte, gesehen zu werden. Dann kam jeder mit einem wohlverschnürten Buchpäckchen wieder heraus. Auf der Straße wurde das Päckchen sorgfältig in der Schulmappe oder am Körper versteckt.
Wie erwartet: In der Schule war bereits alles gemeldet. Kappes Sommersprossengesicht glühte. Eine hochnotpeinliche Befragung begann. Alle elf weigerten sich, Aussagen über ihren Besuch bei Kukosch zu machen und die erstandene Literatur freiwillig herauszugeben. Der über so viel Verstocktheit und Unverfrorenheit entrüstete Kappe holte den Direktor. Leibesvisitation wurde befohlen. Emil Wemhöfer, der Sohn des Oberstaatsanwalts, trat vor, protestierte und verlangte im Namen der Gesetzlichkeit unparteiische Zeugen. Der Direktor willigte nervös ein. „Sollt ihr haben!“
Ein Kirchendiener, ein Schreiber der Stadtverwaltung und der Kastellan wurden geholt. Bei jedem der Jungen wurde nach umständlicher Visitation ein Buchpäckchen konfisziert. Nun schritt man zur Öffnung der Päckchen. Kappe wurde beauftragt, ein Protokoll zu verfassen. Die Gründlichkeit und der tierische Ernst, mit der diese ganze Prozedur vorgenommen wurde, steigerte gewaltig die Komik des Ergebnisses.
Alle elf beschlagnahmten Bücher hatten denselben Titel: „Blicke ins Reich der Gnade“, ihr Verfasser war das geistliche Oberhaupt aller Rechtgläubigen im Amt Barmen, Prediger der reformierten Kirche zu Gemarke, Friedrich Wilhelm Krummacher.
„Das war arg, Engels, zu arg!“, sagte Kappe, bevor er entgeistert dem Direktor nach draußen folgte. Vom Flur hörte die ganze Klasse die wütende Stimme des Direktors: „Kappe, Sie sind ein Rindvieh!“
Die Klasse wieherte, grölte, klatschte enthusiastisch Beifall. Der Vorfall in der Stadtschule hatte sich in Windeseile in den Barmer Gemeinden herumgesprochen. Die halbe Stadt lachte. Das war ein Streich, ganz nach dem Herzen der intelligenteren Wuppertaler Bürgerlichkeit, die dem Direktor, einem importierten Stammpreußen, die Blamage gönnte. Zwei renommierte Bürger, der Stadtarchivar Dr. Singer und der Großkaufmann Feldmann, Männer, mit denen Friedrich nie zuvor gesprochen hatte, hielten ihn auf der Straße an, luden ihn zum Mittagessen an ihren Stammtisch im „Stadtkrug“ ein. Man gab ihm einen Ehrenplatz in der Runde, klopfte ihm auf die Schulter und manch eine der eleganten Damen im Lokal lächelte ihm heimlich zu.
Zum ersten Mal erfuhr Friedrich, dass unter der zur Schau gestellten Demut manches Bürgers ein rebellischer Geist verborgen lag, allzu bereit, dem preußischen Despotismus wie der krummacherischen Mystik die Stirn zu bieten. Diese Leute pochten auf den Code civil und andere bürgerliche Errungenschaften und Sonderrechte gegenüber den preußischen Stammprovinzen, die man ihnen lassen musste seit den Tagen des Rheinbundes. Erinnerungen wurden beschworen an die Juliereignisse in Paris und ihnen folgende Geheimversammlungen in Solingen.
Als sich Friedrich, trunken von seinem Erfolg und vom reichlich genossenen Bier, endlich auf den Heimweg machte, vertrat ihm ein langer, dünner Mann den Weg. Friedrich erkannte in ihm Herrn Bendahl, den Inhaber der Ratsapotheke. Der Mann zog ihn in sein Haus, zeigte ihm mit Tränen in den Augen seine Andenken an die großen hoffnungsvollen Tage von Hambach, allerdings unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit. Mit pathetischen Worten redete er von der Freiheit und der Volksverbrüderung. Dann bekam Friedrich die Erlaubnis, sich eines von den streng gehüteten Reliquien aus Hambach auszusuchen. Da waren Flugschriften und Erinnerungswimpel, eine schwarz-rot-goldene Pfeifenquaste und eine Schnupftabakdose in den Farben der Trikolore, eine Lithografie mit der Aufschrift: Liberté, Égalité, Fraternité und ein Notenblatt mit einem unbekannten Lied von Wilhelm Müller.
Während der Apotheker umständlich die Bedeutung der einzelnen Reliquien erklärte, hingen Friedrichs Augen begehrlich am Bücherschrank. „Ein Buch, Herr Bendahl, wenn Sie ein Buch entbehren könnten ...“
Etwas enttäuscht gestand ihm der Apotheker zu, sich ein Buch auszusuchen. Friedrich griff nach einem unscheinbaren Bändchen. „Goethe, Faust I und II“ stand auf dem Rücken. Er durfte es mitnehmen.
Mit hoch geschwellter Brust trat er auf die Straße. Daheim kam dann die eiskalte Dusche. Onkel Caspar saß bei Mutter. Die beiden erwarteten ihn mit Ungeduld. Jedes Detail des Streiches war bekannt. Der Onkel gab ihm unmissverständlich zu verstehen, wie wenig er von derlei Eskapaden seines Neffen hielt, die im Effekt nur zu einer Störung des glücklich aufrechterhaltenen Friedens, zu einer Schädigung des Geschäftslebens führten. „Aber noch schlimmer ist es, was du deinem Vater damit antust. Hat er nicht Sorgen genug, die vielen Mäuler an eurem Tisch zu versorgen? Nun hat ihn der eigene Sohn dahin gebracht, dass er sich aufmachen musste zum Rektor, um ihn um Verzeihung zu bitten!“
„Um Verzeihung bitten?“
„Natürlich! Oder glaubst du, die Firma könne sich die Feindschaft des Direktors, der verwandt ist mit dem Regierungspräsidenten, leisten? Bist du so naiv, Neffe, oder stellst du dich nur so? Seine Beamten, die setzen Steuern und Abgaben fest, vergeben Ausfuhrlizenzen und Handelsbriefe.“
„Nach Gutdünken?“
„Wie sonst? Wenn’s ihnen beliebt, dann ist eine alte Firma wie Engels & Söhne in wenigen Monaten kaputt. Da, Neffe, geh ruhig mal hinüber in die Websäle, frag die Arbeiter, was sie sagen würden, wenn sie brotlos werden, nur weil er, der Herr Prinzipalsohn, mal sein Pläsier haben wollte!“
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Vater stand im Zimmer. „Beruhige dich, Caspar! Die Sache ist bereinigt. Das Konsistorium hat entschieden. Die Schüler haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Es gibt keine Verschwörung und also auch keinen Rädelsführer, keine Folgen und auch keine Entschuldigung. Zu viele Söhne angesehener Leute sind darin verwickelt, außer uns noch drei, die die Schule finanzieren.“ Onkel Caspar stand auf. „Ein Glück für die Firma.“ Dann blickte er auf Friedrich. „Aber wenn du ihm das durchgehen lässt ...“
„Was ich mit ihm abzumachen habe, das lass meine Sorge sein.“
„Na dann, guten Abend! Um diesen da beneid ich dich nicht, weiß Gott nicht, Bruderherz.“
Onkel Caspar ging. Nun wurde es ernst. „Komm mit!“, sagte Vater.
Mama, die sich bis jetzt nicht eingemischt hatte, mahnte Vater, sich nicht hinreißen zu lassen vom Zorn. Friedrich lächelte ihr zu, um ihre Besorgnis zu besänftigen. Seltsam, dass er frei war von Angst, obwohl er wusste, was zu erwarten war. In Vaters Zimmer befand sich eine alte Standuhr mit wunderlich gedrehten Säulen. Auch diesmal erfolgte der Gang zur Uhr, das Öffnen der Tür, der Griff ins Dunkle, wo sich das spanische Rohr befand. Keine Frage? Keine Möglichkeit der Verteidigung, Monsieur? Nur der Befehl: „Bücken!“, dann das Pfeifen des Rohrs ... Aus Spanien kommt die Inquisition und auch dieses ...