Und ich schließe die Augen und spüre, wie Sita mein Gesicht, meinen Bart untersucht, vorsichtig die Haut und das Haar betastet, und verspüre dann überhaupt nichts mehr, höre nur noch die Musik, dieses leise, mitunter schwindende, von anderen Sendern bedrängte, dieses wunderbare Konzert.
Und vernehme ein fernes Grollen, denke: Nein, nicht jetzt!
Ein Knacken, nah, und die Musik ist aus, und Klaus, der sich schweigend neben mich gesetzt hat, springt auf, und Sita, gepackt von ihrer Mutter, fängt zu weinen an, und wir alle laufen los, und die Hühner rennen gackernd beiseite, und der Hahn, gestört bei seiner Pflichterfüllung, kräht entrüstet.
Dann stehn wir, geschützt bis zu den Schultern, im abrigo und horchen, und neben mir besänftigt die Mutter ihr Kind, wiegt die zweijährige Sita und summt und schaut dabei immer wieder hoch zu den Kronen, zum Himmel hinter den Lücken im hellgrünen Laub, zu diesen Fetzen noch tiefblauen Himmels.
Als die Bomben detonieren, sagt die Mutter eindringlich, beschwörend Jacto. Und sie wiederholt das Wort, schärft es, hämmert es dem Mädchen ein.
Jacto!- Sita, Kleine, wirst du je vergessen, wirst du deinen Kindern noch erzählen, wie das war im Wald von Donca, früh am Morgen, als die Bomben fielen? - Jacto!
Es war der erste Angriff heute und sicher nicht der letzte; überrascht hätte uns eher, wenn er ausgeblieben wäre. Nur die Zeit ist ungewiss, die Möglichkeit hingegen, die Gefahr stets gegenwärtig, auch uns mittlerweile wieder.
Als sich das Grollen entfernt, verlassen wir den Splittergraben, den neben der Hütte des Kommissars, stützen uns auf den Erdwall und schwingen uns hinauf. Malam reicht seiner Frau die Hand; zuvor hat Klaus ihr Sita abgenommen.
Aus dem Graben hinter unserer Hütte klettern ein paar Frauen mit Kindern auf dem Rücken und ein Soldat - Patienten, die ich erst jetzt bemerke. Es ist kurz vor acht, und auf alle wartet das übliche Tagewerk.
Bevor wir mit der Sprechstunde beginnen, nehmen wir neben Armindo, Malam und den responsables aus dem Landesinnern, die gestern Abend oder heute früh zum Rapport ins Kommissariat gekommen sind, Platz an der Tafel im Salon. Die Bezeichnung, bereits in Kandiafara für das Schutzdach über dem Tisch mit der grünen Wachstuchdecke benutzt, gebrauchen wir hier ohne jegliche Ironie: Allein der lange Tisch, bedeckt mit einem sauberen Tuch und mit Servietten aus demselben Stoff neben jedem Teller, war für uns eine Überraschung, die erste angenehme nach der Ankunft und nicht die einzige.
Heute gibts zum Frühstück gezuckerte, verdünnte Kondensmilch - TATRA LAIT; wir kennen die Büchsen, haben sie am Anfang auch in Kandiafara zu Gesicht bekommen; mir erscheinen sie immer wie ein Gruß von daheim. Und gar die Semmeln, die der Kommissar, der aus einem Kochkessel die Becher gefüllt hat, nun aus einer Schüssel verteilt - das braune, faustgroße, knusprige Stück Brot ist eine Augenweide, ein lang entbehrter Leckerbissen, ein Hochgenuss.
Klasse, was?, sagt Klaus mit vollem Mund. Hätt nicht im Traum geglaubt, dass aus diesem Loch so was Edles kommen könnte.
Ich nicke kauend, denke flüchtig an den Backofen, den wir gestern Abend inspiziert haben - tatsächlich bloß eine verrußte Höhle in einem Termitenhügel -, denke an den Bäcker, einen Greis, der vor dem Ofen den Teig aus Maismehl, Wasser, Salz und fermento geknetet hat, und denke schluckend an die auffallend stillen Kinder und an die Soldaten, die reglos den Bäcker umringten.
Zum Abschluss des Mahles gießt Malam - wiederum mit dem Gebahren eines Hausherrn - Kaffee aus einer Thermosflasche in die Becher, schwarzen kubanischen Kaffee.
Ach was - Kaffee! Das ist Mokka, das ist Mokkakonzentrat, Medizin für unseren klapprigen Kreislauf, ein Lebenselixier! So was hab ich bisher nur hier und in Kandiafara getrunken. Schlürfen müsste man dieses köstliche Getränk, tropfenweise genießen.
Wir aber trinken hastig aus, alle; überhaupt haben wir ziemlich rasch gefrühstückt: So gemütlich es sich auf den Bänken auch sitzt - über dem Dach, über den Kronen der Bäume wölbt sich wie an jedem Tag ein unberechenbarer Himmel, und das Netz rings um den Salon, der Vorhang zum Schutz vor Moskitos, könnte zum Hindernis werden, wenn plötzlich ein Dutzend Personen zum Durchlass drängt.
Draußen warten außerdem mittlerweile zehn, fünfzehn Patienten, und weitere kommen hinzu. Wir arbeiten wie gestern und vorgestern synchron - Sago mal bei mir, mal bei Klaus als Dolmetscher, wenn jemand unser Crioulo nicht versteht. Als Untersuchungsliege benutzen wir abwechselnd die Bank, die hinter unsrer Hütte steht, unmittelbar neben dem Splittergraben, und die Medikamente entnehmen wir dem Sack und den beiden Kartons, dem Vorrat, der bereits die ersten Lücken zeigt.
Nur einen Patienten, vorerst den letzten, einen Soldaten, der allen den Vortritt gelassen, die ganze Zeit über sich abseits gehalten hat, befragen wir gemeinsam. Überraschenderweise beteiligt sich Sago auch an dieser Konsultation, völlig sachlich, ohne die geringste Spur von Belustigung.
Der Mann, eigentlich noch ein Jüngling, neunzehn Jahre alt und hager, abgemagert wie die meisten Soldaten und sichtlich nervös, klagt über Beschwerden, die in der Medizin als Impotentia coeundi bezeichnet werden. Stockend, unbeholfen bringt er sie vor, verlegen, zerknirscht.
Armer Kerl, denk ich, da hattest du nun mal die Gelegenheit, gestern Abend, wer weiß, unter welchen Umständen, und es ging nicht, ging beim besten Willen nicht und war kein Wunder, und nun ist dein Selbstbewusstsein hin. Mit Medikamenten, zumal mit denen hier, lässt sich da wenig ausrichten.
Trotzdem reiße ich schließlich ein weiteres Blatt aus dem Schulheft, dreh eine Tüte und zähle zwanzig Dragées ab, sage dem Patienten, schärfe ihm ein, jeden Abend um comprimido zu nehmen, um so - nur eins, aber regelmäßig, sem falta - unbedingt!
Und Klaus fügt genauso beschwörend hinzu: Vitamina com ferro - muito bom!
Als der Patient gegangen ist, uns gedankt hat, überschwänglich gedankt, erkundigt sich Sago argwöhnisch, ob diese Vitamindragees mit dem Eisenzusatz wirklich so gut seien, ob überhaupt bei solchen Beschwerden nützlich. - Wir hätten sie doch auch an Frauen ausgegeben, dieselben schwarzen Dragées an Frauen mit Blutarmut!
Sieh einer an, denk ich, unser Sago!
Und Klaus erklärt nach kurzem Überlegen: Blutarmut? - Natürlich! Ob Sago etwa glaube, Blut sei dabei nicht vonnöten? Manga di sangue - viel, eine Menge Blut brauche man dabei.
Das allerdings leuchtet Sago ein, und er lacht, lacht in seiner unbekümmerten Art und bittet plötzlich, ihm gleichfalls solche Dragées zu geben, nicht bloß zwanzig, muito - viele, am besten tudos - alle, die gesamte Packung.
Ich schütte ihm schätzungsweise fünfzehn Dragées in die Hohlhand, schaue mich nach dem Heft um - zu spät: Sago hat bereits den Mund geöffnet, den Kopf in den Nacken geworfen, die geballte Ladung verschluckt.