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Herbstmarathon. Innenräume einer Revolution von Reinhard Bernhof
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
10.07.2025
ISBN:
978-3-68912-542-4 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 463 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik
Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Historischer Roman, Kriegsromane: Zweiter Weltkrieg, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories
Bürgerbewegung, Bürgerrechte, DDR, Demokratiebewegung, Friedliche Revolution, Herbst 1989, Kirchenasyl, Kontaktstunden, Leipzig, Lesung, Neues Forum, Opposition, Schriftsteller, Sozialismus, Staatssicherheit, Systemkritik, Untergrundbewegung, Unterschriftensammlung, Wendezeit, Zivilcourage
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WACKERER MUSTANG, SÄCHSELND

(Dezember 1989)

Bei einem vorangegangenen Koordinierungstreffen des Neuen Forums ging es darum, Erich Loest für die erste öffentliche Großkundgebung am 18. November nach Leipzig einzuladen. Ich schrieb Loest, da ich, bevor er „ins Ausland“ ging, mit ihm befreundet war. Loest wohnte seit seiner Ausreise 1981 in Brühl bei Bonn; Ingeborg Schröder, die Frau von Ralf Schröder, dem bekanntesten Slawisten der DDR, der ebenfalls mit Loest in „Bautzen II“ gewesen war, hatte seine Adresse. Von 1977 bis zu seinem Weggang hatten wir uns mit einigen Kollegen des Öfteren bei dem Schriftstellerehepaar Helga und Wilhelm Strube in Naunhof getroffen, aber auch bei Loest zu Hause oder bei mir. Strube hatte unter anderem die Geschichte der Chemie geschrieben und besuchte des Öfteren seinen Freund Robert Havemann in Grünheide bei Berlin. Damals waren die unerträglichen politischen Verhältnisse in der DDR der Hauptdiskussionsstoff gewesen, insbesondere der Ausschluss Berliner Schriftsteller aus dem Verband. Sie hatten sich in einem Brief an Erich Honecker gegen eine Bestrafung von Stefan Heym ausgesprochen, der seinen Roman „Collin“ ohne Genehmigung des Büros für Urheberrechte bei Bertelsmann veröffentlicht hatte. Daraufhin wurde er mit einer Geldstrafe von zwanzigtausend Mark belegt. Loest hatte diesen Brief der Berliner Kollegen mitunterzeichnet.

Kennengelernt hatte ich Loest 1977. Ein sechsseitiges Statement gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, das ich im Leipziger Verband vorgetragen und somit eine Vertrauensresolution an den Ersten Sekretär der SED, Horst Schumann, verhindert hatte, brachte Loest dazu, mich anzusprechen … – Die Nestbeschmutzung. Die drohende Gefahr. Jetzt müssten wir doch zusammenhalten!, rief Max Walter Schulz, „Sinn und Form“-Chefredakteur und Nationalpreisträger. Auch der Vorsitzende des Leipziger Schriftstellerverbandes und Direktor des Literatur-Instituts, Hans Pfeiffer, nahm an der Veranstaltung teil. Der Schriftstellerverband solle der Partei beweisen, dass er eindeutig hinter der Entscheidung des Politbüros stehe. Wir trafen uns in einem Messehaus in der Hainstraße, Februar 1977. Es war das einzige Mal, dass eine Versammlung dort stattfand, und ich erklärte es mir so, dass es dort eventuell Anlagen zum Abhören gab. Etwa vierzig Mitglieder waren gekommen. Anderthalb Stunden wurde diskutiert, dann trat Ermüdung ein, wie meistens. Ich hatte damit gerechnet und meldete mich. Alles wurde plötzlich munter, und es kam zu keiner Abstimmung über den geplanten Vertrauensbeweis. Alles geriet durcheinander. Mein Glück war, dass der Raum nur für zwei Stunden gemietet worden war, dann plötzlich mussten wir raus, ohne Papier. Max Walter Schulz und Hans Pfeiffer drängten nicht weiter, um sich keine Niederlage einzuhandeln. Aber es schloss sich niemand an, der die Ausbürgerung Biermanns mit mir verurteilt hätte. – Beim Hinausgehen trat Loest an mich heran und sagte in todernstem Ton: Das Ding, was du da gelesen hast, das musst du sofort verbrennen! Hast du gehört? – Er war ja das gebrannteste aller Kinder. Für mich war es aber eine kleine Taufe, ohne dass ich mir etwa heldisch vorgekommen wäre. Seitdem hatten wir mitunter freundschaftliche Kontakte gepflegt. Zwei Jahre später, im Herbst 1979, sollte Loest in einer außerordentlichen Mitgliederversammlung aus dem Verband ausgeschlossen werden. Viele Kollegen fehlten damals, bewahrten sich, wie so oft zuvor, ein reines Gewissen, indem sie es durch Abwesenheit schonten. Im Klubraum des Literaturinstituts herrschte eine gespannte und gereizte Atmosphäre. Manche sahen sich verschämt und eingeschüchtert an. Anna Seghers schaute als vergrößertes Brustfoto mit nachdenklichen und entrückten Augen auf uns herab. Keiner sprach ein klares Wort, viele redeten um den heißen Brei herum, bis die Diskussion erschöpft schien, Stille eintrat und unsere blassen Gesichter formte. In jedes hatte die Zeit ihre prägenden Worte geschrieben, ihre Spuren getrieben. Vom Westen beachtet zu werden, sobald man nur den leisesten Hauch von Opposition von sich gab – das haben sich manche gekonnt in der Hauptstadt aufgebaut. In Leipzig wurde ehrlicher gerungen, manchmal auch offener, unverstellt, zähneknirschend. Dissident wollte keiner sein, auch ich nicht. War denn diese Titulierung überhaupt treffend gewesen? Ich verstand diese Bezeichnung mehr für Andersgläubige einer nicht anerkannten Religionsgemeinschaft oder Konfessionsloser in Ländern mit Staatskirche. Schnell dahergesagt so ein Klischee, übliches Vokabular der Westler …

Ich überwand mich, nachdem eine lange Pause und ein beredtes Schweigen eingetreten war, und sagte, dass diese Veranstaltung ein geplantes Spiel sei und sprach mich gegen den Ausschluss von Loest aus. Der Ästhetikdozent Robert Zoppek fiel mir mit scharfer Stimme ins Wort. Der Mann mit der Römernase und dem Wächterblick hatte bereits vor Jahren in seinen Seminaren versucht, Günter Kunert nachzuweisen, dass er in seinen Gedichten und Prosastücken „kein Marxist“ sei und nur „indifferente Texte“ um der Kunst willen schreibe. Werner Heiduczek unterbrach Zoppek, appellierte an das Gewissen eines jeden. Er war schon damals trotz SED-Mitgliedschaft der erstarrten Zeit ein Stück entwichen. Die Diskussion belebte sich unversehens noch einmal. Der Lyriker und Kinderbuchautor Walter Petri, der immer schon viel Mut in seinen Diskussionen bewiesen hatte, entlarvte in essayhafter Rede den Sinn dieser Veranstaltung und mahnte, sich an diesem unredlichen Spiel nicht zu beteiligen. Als es schließlich doch zu einer Abstimmung für oder gegen den Ausschluss von Loest kam, enthielten sich neun Kollegen der Stimme. Da allzu viele Mitglieder nicht gekommen waren, blieb dem Bezirksverbandssekretär Claus Dieter Hector nichts weiter übrig als zu vermelden, dass es mit diesem Ergebnis zu keinem Ausschluss gekommen sei, dazu hätte es mindestens fünfzig Prozent der Mitgliederstimmen bedurft.

Wir hatten also gesiegt. Dennoch trat Loest später freiwillig aus dem Verband aus, um uns, die gegen einen Ausschluss waren, wie er später erklärte, zu schützen … Nach mehrjähriger Abwesenheit von Loest, in der er weiterhin DDR-Bürger blieb, schien auch mir endlich der Moment gekommen, ihn nach Leipzig einzuladen, und ihn vor einer stattlichen Kulisse sprechen zu lassen. Als Ort war der Georgi-Dimitroff-Platz vor dem ehemaligen Reichsgericht festgelegt, doch Loest hatte wegen einer Leseverpflichtung in Düsseldorf absagen müssen.

Dirk Michael Grötzsch hatte die Kundgebung eröffnet mit den Worten: „Ein Traum ist Wirklichkeit geworden, dies ist die erste öffentliche Großkundgebung des Neuen Forums, obwohl es uns erst seit zwei Monaten gibt …“

Etwa zehntausend Menschen waren gekommen, trotz leichten Frostes. Einige von Loests Worten aus seinem Brief, die ich nach etlichen Reden vorlas, hallten über den weiten Platz und brachen sich vor dem Gerichtsgebäude in der Harkortstraße, in dessen Hof sich die öden Betonmauern mit Stacheldraht befanden, dem sogenannten „Gerechtigkeitsviereck“, darin Loest 1957 über ein Jahr und seine Frau Annelies mehrere Monate in Untersuchungshaft verbracht hatten.

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