Aufgeschlagen in der neuen Realität. Stasigebäude. Neubautrakt. Arbeitsamt inzwischen: neben mir, in Wartegemeinschaft: Opportunisten? Mitläufer? Ehemalige Waffenträger? Herbstläufer? Vom Schicksal unverdientermaßen Getroffene?
Revolution ohne Revolution? Mit den Mitteln des Rechts und der Verfassung wurde sie abgewickelt, gemeistert, auch beherrscht. (Wolfgang Schäuble)
Meine Lippen plötzlich versiegelt. Unfähig, die neuen Zeitungen zu verschlingen, ihr Lied für käufliche Freiheit, das Gegenteil von Freiheit, zu trompeten, ihre erbarmungslose Freundlichkeit zu durchschauen Als nützlicher Idiot kam ich mir plötzlich vor, als nützlicher Untergründler, Rebell Wann habe ich das letzte Mal aus meinen Büchern gelesen? Und aus meinen Kinderbüchern in einer Schulklasse? Unsere Werke auf SERO-Halde, tonnenweise, ausgeliefert dem Regen, der Sonne; wie viele schon unter Abraumschotter beerdigt; darunter Titel von Stefan Heym, Heinrich Mann, Kurt Tucholsky, Theodor Storm Fotos über die Büchervernichtung wie von Massakern tauchen auf. Es heißt, viele Bücher sind schon dem Schredder zum Fraß vorgeworfen worden. Welch eine Erniedrigung! Kein Aufschrei dagegen! Sogenannte Bürgerrechtler, als hätten sie en masse existiert, und die neuen Instanzen bleiben ungerührt, liebdienern den neuen Partnern aus dem Westen. Die Presse in Sachsen nahm bis heute kaum Notiz von der Büchervernichtung (ein paar Sätze in einer Kirchenzeitung). Ein Samariter, Martin Weskott, Pastor in Katlenburg bei Göttingen, soll mehrere Lastwagen voll Bücher gerettet und ihnen in einer Scheune Magazin eines ehemaligen Augustinerklosters Asyl gewährt haben. Sie sollen für Brot für die Welt verkauft worden sein, heißt es lapidar in der Süddeutschen Zeitung Dort wo man Bücher wegwirft, wirft man am Ende auch Menschen weg, denke ich. Kommerz und Gleichgültigkeit erzeugt neue Schuld und wird die Zukunft bestimmen. Die Verlage, in den Ruin getrieben, warten, was wird. Werden sie, ebenfalls wie die Betriebe, plattgemacht und wessifiziert? Aber diese Frage ist längst beantwortet. Und wir, die ostdeutschen Schriftsteller, was wird aus uns? Werden wir mit der verhornten Kaste um Krenz gleichgesetzt? Wir, die wir weder Erntekombines noch Drehbänke bewegt haben, dafür mit unseren Gedichten, Erzählungen, Romanen Menschen. Warum werden unsere Lebenswerke vernichtet? Dagegen wird ein Schriftsteller in Klagenfurt für seinen Beitrag Babyficker mit 100 000 Schilling belohnt und in allen Feuilletons der deutschsprachigen Länder besprochen: Ich ficke Babys. Mit geschlossenen Augen. Greif ich ins Gewimmel. Fisch mir eins. Ficks, werfs zu den anderen zurück. Alle nackt. Alle da. Jede Babypore ein Loch fürs Leben.
Warum greift kein Staatsanwalt ein? Weil es Kunst sein soll? Ein hohes Niveau? Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe. (Adorno)
Bin ich dafür auf die Straße gegangen, dass eine Unfreiheit durch eine neue Unfreiheit ersetzt wird? Aber eine entfesselte Marktwirtschaft lebt ja von der Liquidierung der Konkurrenz und von den Profiboxkämpfen zwischen den Verlagen, so dass unsere Hausverlage, unsere Kinderbuchverlage bestimmt bald dran glauben werden. Und ich fürchte, mit meinem Engagement 1989 für mehr Emanzipation und mehr Demokratie habe ich mir den Ast, auf dem ich saß, selbst abgesägt Die alten Kulturfunktionäre hatten uns ein Hassbild des Klassengegners zu malen versucht. Jetzt bekommt das plötzlich Konturen. Warum wird auch das Gute in der DDR, besonders in ihrer Literatur schädliche Vorurteile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen , nicht mit in die Vereinigung der beiden deutschen Staaten eingebracht, damit es eine wirkliche Vereinigung und keine Vereinnahmung und Vernichtung der einen durch die andere Seite werde?
Ich stierte vor mich hin oder in mich hinein in dem ehemaligen Stasigebäude, das ich mit versiegelt hatte und das nun umfunktioniert wurde zu einem Museum der Runden Ecke und zu einer Einrichtung der Bundesanstalt für Arbeit. Wie viele Stunden bereits vergangen und meine Bandscheibenentlastungswirbel schmerzten und waren hoffnungslos eingeklemmt. Ein Kind plärrte draußen auf dem Gang, kletterte auf dem Schoß einer moosäugigen Schwarzhaarigen herum. Sie trug Ketten um den Hals, einen Walkman ums Hirn. Leute liefen an ihr vorbei, hin und her. Ich wollte es ihnen nicht gleichtun, aus Angst, mich hätte jemand erkennen können und würde hämisch reagieren, während Generaldirektoren und Generäle der Nationalen Volksarmee hohe Abfindungen bekommen (Oder ich denke heute an jenen Professor, der nach dem Umbruch für seine Dienstjahre in der DDR eine Rente von knapp 2.500 DM erhielt. Später bekam er einen Neubescheid. Seine Rente war überprüft worden. Er erhielt 4.995 DM und 100.000 DM Nachzahlung, denn er hatte bis 1945 im NS-Reichssicherheitshauptamt gearbeitet.)
Angekommen in der neuen Freiheit, wo jeder gegen jeden kämpft, wo Reichtum wieder neue Armut schafft. Diese Freiheit erschien mir unversehens wie eine Bürde, Last. Ich überlegte, ob ich sie loswerden könnte. Ich fühlte mich wie in einem Niemandsland mit dem Schnipsel aus dem Wartemarkenspender in der Hand. Ich lese Zeitung: Getränkedepots im Hochsicherheitstrakt, Adligengetrief und Besitzstandbewahrer, Skandale und Raubmorde, die Schwarze Hand der Treuhand auf einmal, Enthüllungen über die DDR-Neandertaler, die Sprache u-s-a-isiert, sogar ein Schriftsteller läuft schon in Leipzig mit Texashut herum Jelzins KGB-Clan in Russland, der das Volk verrät, das Land systematisch ausnimmt und dem Zerfall preisgibt An den Plakatwänden Autos, überdimensionale Käfer, die mit Menschen sprechen, Augen, feuersteinhart, immer im Bild, was du denkst, große Kosmetik-Weiber: voll Industrie, DDR-Spitzensportler mutiert: Versuchskaninchen in den Händen der Sportartikelkonzerne; der zunehmende Lebewesenhandel aus dem Ostblock, Hunde, aber in der Mehrheit mit Frauen, Kinderstrich in der Nordstraße In einem Heft Erklärungen: Sexualexhibitionen, Ostentation der Schamglieder, Megaklitorien Sigmund Freud erklärte schon, dass der Verlust der sexuellen Scham stets ein Zeichen von Schwachsinn sei Und Hans Ebeling in seinem Buch Denksturz der Moderne führte aus: Die neue Zeit zielt ab auf die Widerlegung des Denkens selbst durch Abschaffung (Liquidation). Am Anfang steht die Sprachlosigkeit, die am weitesten verbreitete Krankheit der Gegenwart. Am Ende steht die Zeit ohne Zukunft, die Einebnung. Wir können schon heute ein Zeitalter besichtigen, das ohne Gedanken ist, ohne Schuld, ohne Verantwortung, das Zeitalter der Unzurechnungsfähigen. Sie führen schon heute das Regiment.
Ich sah auf die zarten pastellfarbenen Landschaftsbilder in gelackten Rahmen an weißen aseptischen Wänden und wartete auf meinen Obolus von der Bundesanstalt aus Nürnberg.