Unvermutet sprach Thomas hastig auf Bärbel ein: Pass auf! Alles noch mal! Siehst du da vorn? Das ist schon die Mauer."
Bärbel nickte. Ihre Lippen waren trocken, und in den Augen flackerte die Angst. Sie sah weiter vor sich Stacheldrahtgewirr.
Thomas sprach schon weiter: Schnell jetzt! Gleich rechts um die Ecke steht die Ruine. Da flitzen wir rein. Ich helf dir auf das Fenster, aufs mittelste, hörst du!" Er zischte seine Worte Von da, vom Hochparterre, musst du springen. Weit! Sonst bleibst du hängen. Spring ganz weit!"
Tom, du schreibst mir doch, ja?", Bärbels Stimme bebte und war heiser.
Klar!" Für Thomas war alles wie ein Abenteuer im Kino. Wie oft hatte er sich schon gewünscht, ein tolles Ding zu drehen.
Sie liefen um die letzte Hausecke. Bärbel sah nicht nach rechts und nicht nach links. Da war die Ruine! Sie wussten nicht, dass von drüben schon zwei Feldstecher auf sie gerichtet waren.
Irgendwo, weiter weg, auf dieser Seite, rief jemand etwas mit tönender Stimme. Unter Bärbels Schuhen polterten Steine, knirschten Sand und Mörtel. Sie keuchte, fühlte Thomas' Hände im Rücken, die sie über den Geröllberg hinüberstießen. Sie presste mit der linken Hand die Tasche mit dem Mecky an sich und krallte die rechte ins bröckelnde Mauerwerk, um sich zu stützen.
Nach Atem ringend, standen sie endlich vor der mittleren Fensterhöhle. Mannshoch lag die Öffnung über Bärbels Kopf.
Los!", fauchte er und fügte hinzu: Mach's gut. Bist ein feiner Kerl!" Er hielt die Hände zu einer Muschel auf sein rechtes Knie, damit sie mit dem Fuß hineinsteige.
In diesem Augenblick fühlte sie keine Angst mehr. Sie sah ihm in die Augen und flüsterte: Danke für alles - Tom!" Ihre Stimme war kläglich.
Plötzlich, fast unbewusst, umarmten sich die beiden Kinder, wie es Erwachsene tun, wenn sie gute Freunde sind und Abschied nehmen, weil sie sich vielleicht nicht wieder sehen werden.
Dann stand Bärbel in der Fensteröffnung. Eine tiefe Stimme schrie befehlend: Halt!"
Bärbel federte sich ab und sprang mit weit aufgerissenen Augen. Hinter ihr polterte Thomas davon.
Geschickt fing sie den Aufprall ihres Körpers in der Hocke ab. Bärbel blinzelte und richtete sich schwankend auf. Vor ihr stand ein Grenzsoldat in gesteppter Winteruniform. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Doch sie rührte sich nicht. Eine eigentümliche Freude lähmte sie. So einfach war alles?
Hat man so was schon erlebt! Was soll das?", herrschte der Posten sie an. Ein Schritt zu knapp, und Bärbel wäre in einer eisernen Dornenhecke gelandet.
Ich will..." Der Atem ging ihr aus.
Weißt du nicht, dass es verboten ist..." Zusammengekniffene Augen funkelten sie an.
Ich will..." Erstaunt blickte sie in das junge Gesicht und wollte alles erklären. Doch der Mann schnitt ihr das Wort ab: Wie heißt du?"
Bärbel Moltor."
Dein Bruder hat dich vorgeschickt?"
Ich habe keinen Bruder."
Und wo ist der Junge, mit dem du gekommen bist?"