Es lohnt sich nicht zu warten
In ihrem Buch „Winter ohne Vater“ berichtet Brigitte Birnbaum über eine schmerzliche Trennung
Eigentlich dürfte sein Vater, der Ingenieur Nemerow, mit seinen 1,75 Meter nicht zu übersehen sein. Doch als Christian am Werkseingang auf ihn wartet, kann er ihn nirgends entdecken. Dann erkennt er einen Arbeitskollegen, Fiete Katelbogen. Er geht zu seinem Motorrad und fragt: „Wo bleibt Vati?“ Unsicher kommt Christian näher und blickt ihn erwartungsvoll an.
Katelbogen schnippt seine Schutzbrille hoch, lässt sie gegen den Helm federn, wo sie hängenbleibt. „Du wartest auf Ingenieur Nemerow? Dacht ich mir.“
Christian nickt. Fiete Katelbogen stellt den Motor ab, setzt beide Füße auf die Erde. „Es lohnt sich nicht zu warten.“
„Ich muss Vati aber was fragen“, beteuert Christian. „Ich muss ihn sprechen. Dringend.“
„Wenn ich dir sage, es lohnt sich nicht. Steig auf! Wir drehen 'ne Runde, und dann fahr ich dich nach Hause.“
„`ne Dreihundertfünfziger, nicht?“, fragt Christian und klopft gegen den Tank.
„Spitze einhundertdreißig“, prahlt Fiete.
„Ich muss Vati sprechen“, sagt Christian und verzieht die Lippen zu einem krampfhaften Lächeln.
„Aber nicht heute.“ Katelbogen springt ab, bockt die Maschine auf.
„Sitzung?“, fragt Christian schüchtern. „So was Ähnliches.“
Langsam begreift Christian. Aber das war unmöglich! Das konnte nicht wahr sein. Alles in Christian Nemerow sträubt sich gegen diesen Gedanken. Es darf nicht wahr sein, dass Vati nie mehr kommt, dass er die Familie verlassen hat. Für ihn ist Vati der Beste. Deshalb will er auch bei ihm leben, nicht bei Mutti und Schwester Silke. Der Junge kämpft. Und dann kommt alles ganz anders.
Als gedruckte Ausgabe war „Winter ohne Vater“ 1977 im Kinderbuchverlag Berlin erschienen.
Brigitte Birnbaum wurde 1938 in Elbing in Westpreußen geboren und flüchtete 1945 über Berlin nach Mecklenburg. Nach dem Abitur und einer Ausbildung als Apothekenhelferin studierte sie am Institut für Literatur in Leipzig, das sie mit einem Diplom abschloss.
Seit 1968 wirkte Brigitte Birnbaum als freischaffende Schriftstellerin in Schwerin. Zwischen 2003 und 2013 lebte und schrieb sie in Hamburg, seitdem ist sie wieder in der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern zu Hause.