Mut zu Nächstenliebe und Menschlichkeit
Barbara Kühl erinnert an ein verschwundenes Kapitel Geschichte
In diesem nicht einfach zu lesenden Buch geht Barbara Kühl den Spuren des einstigen Quarantänelagers im Lostener Wald im damaligen Kreis Wismar nach. Entstanden war das Barackenlager nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, als Tausende Flüchtlinge, damals als Aussiedler bezeichnet, in Mecklenburg eintrafen. In den Kreis Wismar kamen rund 53 000 Menschen, die erst eine zweiwöchige Quarantäne durchlaufen mussten. Die Bedingungen dort waren fürchterlich, und es brauchte schon ein Höchstmaß an Lebenswillen, um dort zu überleben. Nicht alle der Insassen konnten diesen Lebenswillen aufbringen. Viele von ihnen starben, manchmal schon kurz nach ihrer Ankunft in dem Lager, das ab 1948 zum Wohnlager erklärt und erst 1958 aufgelöst und abgerissen wurde. Mit der Zeit verschwand es so vollständig im nachwachsenden Wald, als hätte es diese Stätte nie gegeben. Und trotzdem blieb eine gewisse Erinnerung an einen verschwundenen Ort.
In behutsamen Gesprächen holt Barbara Kühl diese Erinnerungen wieder in die Gegenwart. Sie spricht mit ehemaligen Bewohnern, mit einer Krankenschwester, mit einer Bäuerin, einer Arztfrau und mit dem Totengräber. Sie erinnern sich „an Bedrückendes und Kurioses, an scheinbar Alltägliches und Außergewöhnliches und Unglaubliches, an mancherlei Fröhlichkeit und fast Vergessenes. Und an die Charaktereigenschaften der Menschen unter Bedingungen, die einer besonderen Gesetzmäßigkeit unterlagen in diesem zufälligen Zusammenleben, einer Art Ausnahmezustand, der alles hervorzubringen vermag, wessen der Mensch fähig ist“, wie die Autorin im ersten Kapitel schreibt.
Herausgekommen ist ein Report, der eine Brücke schlägt vom Herbst 1991 in den Herbst 1945, als die ehemals sowjetischen Baracken für die Aufnahme von Aussiedlern aus dem Osten freigemacht wurden. So sprach Barbara Kühl mit einer Frau, die als damals vierjähriges Mädchen vom Bahnhof Moidentin zu Fuß ins Lager marschiert war, und mit der damals Einundzwanzigjährigen aus Ostpreußen, für die noch heute die Flucht aus der Heimat das Grunderlebnis ihres Lebens ist. Viele Einzelheiten des Lebens im Lager sind ihr im Gedächtnis geblieben, aber auch nach all der Angst das tiefe Gefühl, am Leben geblieben zu sein. Eine weitere Zeitzeugin ist eine Rot-Kreuz-Schwester, die vom ersten Tag seiner Existenz an im Quarantänelager Losten tätig war. Sie berichtet auch über Babys, die dort ankamen und über Babys, die im Lager geboren, sowie über die unvorstellbaren Leistungen, zu denen Menschen unter solchen Umständen fähig sind.
Der Report ist ein ebenso bedrückendes wie erstaunliches Dokument über die Schrecken und die kleinen Freuden dieser Zeit, die für die von Barbara Kühl Befragten wieder ganz nah rückte – oft zum ersten Mal seit langer Zeit. Und noch ein Detail soll hier angeführt werden. So gab es damals parallel zu der beginnenden Auflösung der Umsiedlerlager und Umwandlung einiger in Wohnlager im Kreis Wismar eine „Werbewoche VOLK UND HEIMAT“. Sie sollte dazu beitragen, die Begriffe FLÜCHTLING und UMSIEDLER abzuschaffen und dafür den Begriff NEUBÜRGER zu verwenden. Bemerkenswert.
Dieser Report ist auch heute noch eine schwierige Lektüre, dennoch lesenswert. Weil er vom Lebenswillen erzählt, vom Mut zu Nächstenliebe und zu Menschlichkeit in schwerster Zeit. Gut, dass Barbara Kühl der Erinnerung nicht erlaubt hat, gänzlich zu verschwinden. Empfehlenswert.
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