Tiefgründung und sozial genau
Peter Löw blickt zurück in das Wendejahr 1989
„Der Zug der Bilden“ – so lautet der Titel dieses Romans von Peter Löw, den der Autor selber für eines seiner wichtigsten Werke hält. „Der Zug der Blinden“ – so lautet in dem Roman aber auch der Titel eines Bildes des Malers Botho Janssen, der in der Vorwendezeit den Auftrag erhält, ein Fresko über die Rekonstruktion des Karl-Marx-Städter Altstadt-Wohngebietes Brühl zu malen. Maler Janssen versucht, in diese Auftragsarbeit sowohl die Tatkraft als auch die Beschränktheit des alkoholkranken Baubrigadiers Schäfer einzubringen - in einer kurzen Zeit seines Lebens sein Stiefbruder:
„Die Leuchtschrift war von Gerüstholmen schraffiert: Café BRÜHL. Würde es sein Stammlokal werden? Ein Biertrinker saß vereinzelt: Ja, hier sei frei. Janssen, erkennend, riss die Augen auf. Er stand sekundenlang stumm: Es war Herbert Schäfer. Seine Überraschung blieb in Grenzen. Einige Male hatte er Schäfer von weitem erblickt, auf der Straße oder im Kaufhaus - nun auch noch das. Einst, musste er denken, waren sie Stiefgeschwister gewesen, und zwar schlechte. Und wie ging es? - Es ging schon. Schäfers Lächeln war gewunden. Seine Gesichtslinien waren schärfer, der Blondschopf lichter geworden, die Augen in Knitterfältchen gebettet. Also auch du, Sportskanone!, dachte Janssen. Und du taxierst mich - nein, auch ich bin nicht jünger und schöner geworden. - Er überschlug: seit jenem Weggang der Schäfers von ihnen, den Janssens, waren zwei Jahrzehnte und mehr vergangen. Er war siebzehn, Schäfer fünfzehn gewesen. Wieder miteinander zu tun bekommen hatten sie Jahre danach. Der Kunststudent Janssen, er hatte das Arbeits- und Malpraktikum im heimatstädtischen Rekonstruktionsgebiet Brühl gemacht und war den Fernheizungs-Trassenbauern zugeteilt worden, deren einer Schäfer war. Der Baufacharbeiter, er war damals noch ganz der unverwüstliche Bursche erschienen. Wie um den nunmehr Größeren herauszukehren, hatte er kundgetan, in der Städtischen Juniorenmannschaft zu spielen. Und gegrinst, als Janssen seine Studienrichtung bekannte. „Na ja, die Janssen'sche Künstlerfamilie“, kommentierte er hintersinnig - erlebt habe er's ja.
Gemeint die Zeit, als Erna, Schäfers Mutter, und Rudolf, Janssens Vater, miteinander Lebenspartnerschaft versucht hatten. „Hör zu“, hatte Schäfer nun, in der Brühl-Baubude erklärt, „hör zu, ich war glücklich an dem Tag, der mein letzter bei euch war!“ Nachher waren sie einander - und obschon auf Zeit zusammen in jener Brigade - nicht mehr zu nahe gekommen. Jetzt sagte Schäfer: „Hab von deinem Vater gelesen. Die Annonce.“ Er fügte nüchtern hinzu: „Erst hinterher.“ Es sollte wohl rechtfertigen, dass er sich seinerzeit, vor einem Jahrfünft, nicht gezeigt noch
gemeldet hatte - ungeachtet der Anteilnahme, die er seinerseits von Rudolf und Botho nach Ableben Ernas, seiner Mutter, erfahren hatte.“
Autor Peter Löw versteht es, mit psychologischer Tiefgründigkeit und sozialer Genauigkeit die beiden Hauptfiguren mit ihren jeweiligen beruflichen und privaten Problemen sowie dazu durchweg positive Frauengestalten zu gestalten. Ein besonderer Reiz des Buches besteht darin, dass die beiden so völlig verschiedenen literarischen Helden einerseits immer voreinander zu fliehen versuchen und sich andererseits immer wieder geradezu magisch anziehen. Und dann ist da noch der zerstörerische Angriff Schäfers auf die Werkausstellung von Janssen.
Mit seinem Roman „Der Zug der Blinden“ ist Peter Löw eine ebenso aufschlussreiche wie gut nachvollziehbare Charakteristik verschiedener Schichten der DDR-Bevölkerung im Wendejahr 1989 gelungen.
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