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Kritzeleien aus dem Literaturinstitut, eine Gräfin in schlimmen Zeiten, Wiederholungsstunde in Russisch und eine Liebe zur Opposition – Vier E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis sowie ein Superpreis-Angebot für nur 99 Cents

(Pinnow 13.04. 2018) Haben Sie schon mal eine Schildkröte getroffen, die Flöte spielt? Wenn nicht, dann können Sie das im ersten von vier Deals der Woche nachholen, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 13.04.18 – Freitag, 20.04.18) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind. Günter Saalmann lädt auch Sie zum „Besuch im Großen ZOO“ ein, in dem auch Grete zu Hause ist. Grete? Ja natürlich Grete. Grete, das ist doch die Schildkröte, die zu anderen bewunderungswürdigen Tätigkeiten zu dick oder zu dumm, immerhin das Flötenspielen erlernt hat. Man muss sich eben zu helfen wissen. Auch und gerade als Schildkröte …

 

Ein bewegendes Menschenschicksal unmittelbar nach dem Ende des zweiten Großen und Schrecklichen Krieges des vorigen Jahrhunderts, in dem viele, viele Menschen, vor allem aber Frauen und Kinder, Heimat, Haus und Halt im Leben verloren, schildert Erich-Günther Sasse in seinem Roman Abgefunden oder Das Siegel“. Jutta Schlott hat ihrem Buch „Der Sonderfall“ ein sehr bemerkenswertes und in der für ihn typischen durchgängigen Kleinschreibung ausgeführtes Zitat von Bertolt Brecht vorangestellt, das von seinem Finnland-Aufenthalt im Jahre 1940 stammt: „ich habe eine starke abneigung dagegen, irgendetwas irgendeinem Verständnis anzupassen, die erfahrung zeigte immer wieder, daß kinder das, was zu verstehen sich einigermaßen lohnt, ganz gut verstehen, ebenso wie erwachsene, und es lohnt sich für sie ungefähr dasselbe.“ Von Finnland geht es im vierten und letzten der vier Deals der Woche nach Südamerika. Jedenfalls hat Wolfgang Schreyer sein Schauspiel „Tod des Chef oder Die Liebe zur Oppositionvordergründig scheinbar dort angesiedelt. Aber könnte es nicht eigentlich auch in der damaligen DDR spielen …

 

Außerdem ist in dieser Woche ein E-Book von Hardy Manthey für eine Woche zum Superpreis von nur 99 Cents zu haben. Mehr dazu am Ende dieser Ausgabe. Und damit zurück in den Tierpark, in den „Großen ZOO“, von dem gleich zu Beginn dieses aktuellen Newsletters die Rede war.

 

„Books on Demand“ (BoD) war 2005 die Veröffentlichungsplattform für den „Besuch im Großen ZOO. Reime, Rätsel, Gedichte aus 3 Jahrzehnten für Kinder von 92 – 174 Zentimeter, für Erwachsene ab 3 ausgelesene Bücher mit 100 Vignetten des Autors“ von Günter Saalmann, zu dem der Autor nicht nur das Titelbild, sondern wie gelesen auch alle Grafiken beigesteuert hat: Dies sind die Gedichte, Reime und Rätsel aus drei Jahrzehnten. Vieles wurde hie und da veröffentlicht, auch von meinem Freund Helmut „Joe“ Sachse vertont, anderes aus Schubladen zusammengekramt. Die (eigenen) Kritzeleien stammen fast allesamt aus Vorlesungsnachschriften am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in Leipzig aus den Jahren 1973 bis 1976. (Man hat dort trotzdem gut aufgepasst, liebe Kinder!) Sie, die Kritzeleien sind lediglich jetzt auf dem Computer nachgearbeitet, den Texten (sehr) frei zugeordnet und manchmal auch ein wenig aktualisiert worden. Die Texte stammen aus verschiedenen Zeiten und sind hier nach den Adressaten geordnet, für die sie einmal gedacht waren, oder für die sie sich einfach ergeben haben. Deshalb geht es los mit freundlichen Reimereien für Kleine, „steigert“ sich bis ins Erwachsenen-Lesealter und wird zum Schluss bissig bis bösartig - ganz so, wie sich eben der Autor selbst verwirklichen durfte. Aber fangen wir freundlich an, mit den freundlicheren Reimereien für Kleine …

 

STREICHELGEHEGE

DER OBSTSALAT

 

Ein Apfelstück,

ein Birnenstück,

Bananenscheibchen,

nicht zu dick,

Rosinchen,

Mandarinchen

stopf ich mir rein,

das ist gesund!

Nun hab ich

Obfffwawap üm Mump.

 

TANZ, TEDDY

Tanz mit mir mein Teddybär,

hast 'ne Nas, die mag ich sehr,

obenrum mit Wuschelhaar,

untenrum mit Huschelwar'.

Tanz, Teddy, tanze.

Tanz mit mir mein Teddybär,

hast 'nen Bauch, den mag ich sehr,

vorne ganz aus Polsterol,

hinten ganz aus Rolsterpol.

Tanz, Teddy, tanze.

Tanz mit mir mein Teddybär,

hat ein Bein, kein andres mehr.

Hast ein Bein aus Strobelheu,

ganz und gar aus Hobelstreu.

Tanz, Teddy, tanze.

 

DIE SCHILDKRÖTE GRETE

Die Schildkröte Grete

saß traurig im Sand,

für die quakenden Kröten

so uninteressant.

 

Zum Springen zu dick, ach,

zum Klettern zu dumm.

Warum bist du so stille?

Was bist du so stumm?

 

Und wie sie da weinte,

und wie sie da kroch,

lag im Sand eine Flöte,

die ging sogar noch.

 

Die Schildkröte Grete

versteckt' sich im Wald.

Und sie blies auf der Flöte

und konnte es bald.

 

Sie blies ja so traurig,

sie blies ja so schön,

da kamen die Kröten,

das Wunder zu sehn.

 

Sie lauschten drei Tage,

dann hielten sie Rat.

Und sie schenkten der Flöterin

einen Strauß aus Salat.

 

KINDERTAG

Ob bei Jimmi oder Jonny,

ob bei Kathi oder Kai,

ob bei Mimi oder Mommi,

 

Pedro, Lisa und Marei,

ob bei Wowa oder Bruni –

überall ist erster Juni.

 

MIR FEHLT AM BETT EIN BEIN

Mir fehlt am Bett ein Bein,

wie sollt' ich da nicht schrei'n?

Mein Vater repariert's nicht,

meine Mutter – rührt's nicht,

mein Bruder hat's zerbrochen,

das war vor sieben Wochen.

Und ich, ich bin noch klein.

Wie sollt' ich da nicht schrei'n?

 

HEUT HEIRATET GRIT

Heut heiratet Grit.

Wer heiratet mit?

Der Heiner, der Heiner,

der wagt den Schritt.

 

Was trägt man zur Feier?

'nen Hut und 'nen Schleier,

ein Kleid, recht weit,

davon reden die Leut.

 

Womit fährt man zur Heirat?

Mit'm Auto, mit'm Dreirad.

Grit tritt, Heiner schiebt,

wenn er sie liebt.

 

Was braucht man zur Hochzeit?

'ne Küche und Kochzeit.

Klops, Drops, Sauerkohl.

Bekomm' es euch wohl.

 

Wer tanzt auf dem Feste?

Ein Hof voller Gäste,

eine Windel voll Wind.

Fürs Kind.

 

Erstmals 1986 erschien im VEB Hinstorff Verlag Rostock der Roman „Abgefunden oder Das Siegel“ von Erich-Günther Sasse: Nach verzweifeltem Umherirren und strapazenreicher Flucht gelangt die im Krieg verwitwete, schließlich besitz- und rechtlos gewordene Gräfin Eva von Kutschberg-Hohenau mit ihrer vierjährigen Tochter Astrid im Herbst 1946 auf ein Dorf nahe Magdeburg. Die völlig verängstigte und fast zum Tier herabgekommene junge Frau findet Unterschlupf bei der alten Reimann, Besitzerin eines respektablen Bauernhofes, die sie aus Mitleid, vor allem aber wegen der überraschenden Ähnlichkeit zur eigenen sterbenskranken Tochter aufnimmt. Unter dem Namen Eva Krüger, als Frau ohne Herkunft und Geschichte, findet sich die einstige Gräfin allmählich in den neuen Lebensumständen zurecht. Bald entwickelt sich eine lebenshungrige Liebesbeziehung zwischen ihr und Meyer, dem Ehemann der Todkranken und zukünftigen Erben des Bauernhofes. Durch Heirat mit dem schließlich verwitweten Meyer etabliert sich Eva wieder als Herrin, kann sich aber mit den heraufziehenden historischen Umbrüchen auf dem Lande nicht mehr abfinden. Während Astrid, Vertreterin einer neuen Generation, den Weg zur Kunst findet und wie selbstverständlich in die neue Zeit hineinwächst, flüchtet Eva erneut - in Zurückgezogenheit und eine Art innerer Emigration. Aber wie hat eigentlich alles begonnen?

 

„1. Kapitel

Auf dass Du daran gedenkest, und Dich schämest, und vor Schande nicht mehr Deinen Mund aufthun dürfest; wenn ich Dir alles vergeben werde, was Du gethan hast ...

Hesekiel 16,63

 

Es war noch nicht Mittag an diesem Tag im Spätherbst, als die Männer auf dem abgeernteten Rübenfeld standen und über die schlimmen Zeiten redeten, aber auch darüber, dass es nun wohl doch weitergehen werde. Hoffentlich, sagte der ältere, ein bisschen schwerfällige, und biss von seiner Klappstulle ab, während der jüngere mit der Stiefelspitze Löcher in die Erde bohrte und dem braunen Pferd die Blesse auf der Stirn streichelte.

 

An diesem Herbsttag, der hell und kalt war, lag die Welt still und verlassen. Die Männer hatten so viel erlebt, dass sie nichts mehr aus der Fassung bringen konnte. Der Krieg war schon anderthalb Jahre vorbei. Gefühle, die verschüttet waren und für immer verschwunden schienen, brachen hervor. Die Männer schwiegen. Das Pferd kaute trockene Grashalme und kratzte manchmal mit seinem Huf die Erde.

 

Der jüngere Mann blickte dorthin, wo Himmel und Erde zusammenstießen. Er sah nur einen schwarzen Punkt, der seine Aufmerksamkeit fesselte, als er größer wurde. Auf einmal waren es zwei Punkte. Der jüngere Mann entdeckte, dass eine Frau und ein Kind etwas hinter sich herschleppten, das wie ein Handwagen aussah. Bevor er etwas sagen konnte, sagte der ältere: Ach du lieber Gott, noch welche, die unterwegs sind, wird Zeit, dass sie unterkommen!

 

Er faltete das Brotpapier zusammen und steckte es in die Joppentasche. Dann zog er dem Pferd das Geschirr zurecht und legte ihm die Leine über den Hals. Er blieb stehen und sah auf die Frau, die sich langsam näher schleppte. Sie schien uralt zu sein, ihre Bewegungen waren müde und kraftlos, das Gesicht wirkte unnatürlich blass und starr. Sie hielt den Kopf gesenkt. Als sie die Männer entdeckte, zuckte sie zusammen und wollte weglaufen. Die Frau trug ein Lumpenkleid, das aus Säcken zusammengenäht war. Sie hatte nackte Beine, die Füße steckten in halbhohen Lederschuhen. Die Männer hörten ihre Stimme, die ängstlich war, zugleich aber voller Härte, leise fragen: Kann ich vielleicht hier irgendwo unterkommen? Mit einem Ruck drehte die Frau sich um, als fürchte sie, verfolgt zu werden.

 

Dann blickte sie die Männer an, ihre Augen waren groß und kalt. Der jüngere Mann musterte die Frau, wie sie dastand, die Lumpen, die groben schmutzigen Schuhe, er sah, dass die Frau sehr jung war, und etwas erschütterte ihn, dass er dachte: Großer Gott, wie viel muss die durchgemacht haben, um so runterzukommen. Etwas zwang ihn, seine Hand auszustrecken und dem Kind, das ihn mit neugierigen, furchtlosen Augen anstarrte, über den Kopf zu streichen. Als die Frau das merkte, knurrte sie böse und zog die Oberlippe hoch. Es schien, als fletschte sie die Zähne. Plötzlich riss sie das Kind an sich und presste es gegen ihren Leib. In ihren Augen war ein Ausdruck, dass der jüngere Mann zurückwich: Aber ich wollte doch nur ...

 

Der ältere Mann wartete. Die Frau beugte sich über das Kind, in ihren Augen war dieses Flackern, Furcht und Drohung zugleich.

 

Dem jüngeren schien es, als ähnelte dieses armselige, heruntergekommene Wesen einer anderen, die in ihrem verdunkelten Zimmer lag und nicht mehr wusste, wer sie war, dass sie ein Kind gehabt hatte und schon überhaupt nicht, dass sie bald sterben würde.

 

Nein, sagte der ältere abweisend, wir haben auch kein Unterkommen. Was denken Sie, wie viele schon hier waren! Er bückte sich und befestigte das Pferd mit Ketten am Pflug.

 

Bitte, sagte die Frau leise und senkte den Kopf. Sie wusste nicht, was es war, das sie ausgerechnet jetzt bitten ließ. So oft auf ihrem langen Weg hatte sie fremde Menschen angefleht, dass sie es nur noch mit größter Anstrengung tun konnte. Weil hier etwas anders zu sein schien, wiederholte sie: Bitte, wir wissen nicht, wo wir bleiben sollen!

 

Der jüngere Mann spürte den Gestank, der von ihr ausging. Er trat ein paar Schritte zurück, sah wieder die Lumpen und die groben Schuhe an den schmutzigen Beinen, er sah aber auch das Kind, das ihn aufmerksam und überhaupt nicht ängstlich anblickte. Da fühlte er eine Scham, deren Ursprung ihm rätselhaft war. Ihm war, als wäre er verantwortlich für das, was aus der Frau und dem Kind würde. Er erschrak.

 

Der ältere Mann legte sich die Leine über den Rücken und klatschte sie dem Pferd auf die Kruppe. Er schnalzte mit der Zunge. Das Pferd zog an, und der Mann drückte mit seinem ganzen Gewicht auf den Pflug. Hü! rief er. Die Rufe wurden schnell leiser und waren bald überhaupt nicht mehr zu hören.

 

Nein, sagte der jüngere Mann und starrte auf die braune Erde, wo Rübenblätter herumlagen, ein Unterkommen haben wir wohl nicht, aber vielleicht könnten Sie mit uns essen!

 

Essen, die Frau warf mit einem Ruck den Kopf nach hinten, essen, stieß sie hervor, und dann?

 

Der Mann spürte ihre Furcht und Verachtung. Er wusste, was die Frau meinte, und fühlte sich ertappt. Wieder war da das Gefühl der Scham. Die Frau stieß ihn ab, aber in ihm war auch dieses andere, das immer stärker wurde.

 

Als die Frau ihr Kind losließ und sich vor den Handwagen spannte, um mit müden, kraftlosen Bewegungen weiterzuziehen, dachte der Mann: Was geht ihr mich an! Er nahm sein Fahrrad, das am Feldrand lag, warf noch einen Blick auf den älteren Mann, der das andere Ende des Feldes pflügte, und setzte sich auf das Rad. Er fuhr hinter der Frau her, die schon ein Stückchen weg war, und erinnerte sich an seine Frau, daran, wie sie ausgesehen hatte früher, und ihm fiel ein, dass ihr Kind schon fast ein Jahr alt wäre. Er rief: Warten Sie doch, vielleicht lässt sich irgendwas für Sie finden! Warten Sie doch, rief er noch mal. Er ärgerte sich, dass seine Stimme so bittend klang.

 

Worauf? Die Frau zerrte den Handwagen und das Kind weiter.

 

Der Mann fuhr voraus und bestimmte: Los, kommen Sie mit! Dann stieg er vom Fahrrad. In ihren Augen, die ihn verwundert ansahen, entdeckte der Mann ein Flackern, das Furcht war, zugleich Hass und Verachtung. So trostlos hatte ihre Stimme geklungen, dass er sich an seinem Fahrrad festhielt und zu frieren begann. Auf einmal wusste er, dass er schon längst Verantwortung übernommen hatte.

 

Das Kind sah ihn neugierig und überhaupt nicht ängstlich an, und dem Mann war klar, dass er die Verantwortung tragen wollte. Er ging neben dem Handwagen her, der tief einsackte, und manchmal, wenn die Frau sich besonders anstrengen musste, fasste er mit zu. Er schob den Wagen den Hügel hoch und auf die Straße bis zu den ersten Häusern. So kamen die Frau und ihr Kind in das Dorf.“

 

Erstmals 1981 veröffentlichte Jutta Schlott im Kinderbuchverlag Berlin „Der Sonderfall. Eine Geschichte mit gutem Ende“: Die vier Geschichten in diesem Buch berichten von Kinderschicksalen, wie sie uns jederzeit im alltäglichen Leben begegnen können: Markus’ Mutter heiratet zum zweiten Mal; Edgars Großvater stirbt; Brunhilde muss sich um Geschwister und Haushalt kümmern; Siegfried schafft das Schulpensum nicht. Dies sind die Anlässe der Schwierigkeiten, die sich für die Kinder ergeben. Nichts Ungewöhnliches also! Und dennoch sind es ungewöhnliche Geschichten von eigenartigem Reiz, spannend und anrührend. Man kommt diesen Kindern nahe, möchte gerne mehr von ihnen erfahren — denkt über sie nach. Ihr Schicksal erweckt unsere Anteilnahme. So wie in der Geschichte von Martin:

 

„Der andere Name

 

An der Tafel stand eine Wiederholungsübung. Martin wischte sich die feuchten Hände an seiner Hose ab, schraubte den Füller auf und begann zu schreiben. Sven knuffte ihn von hinten in den Rücken, aber Martin tat, als bemerke er es nicht.

 

Die Gefahr war vorüber. Martin saß tief über sein Heft gebeugt. Ab und zu warf er einen Blick auf Fräulein Heinz. Fräulein Heinz war die neue Praktikantin. Sie stand neben dem Tisch in der letzten Reihe, wo ein Platz frei war. Dort saß Frau Harnack, die Klassenleiterin. Beide waren zusammen in die Klasse gekommen. Fräulein Heinz reichte der Lehrerin gerade bis zur Schulter. Die Praktikantin hatte Jeans an. Ihr volles Gesicht mit den weit auseinanderstehenden Augen war gerötet. Sie hatte aufgeregt gezwinkert. Nachdem Frau Harnack die Praktikantin vorgestellt hatte, zog Fräulein Heinz ein sorgsam gekästeltes Blatt aus der Tasche. Der Klassenspiegel!

 

Martin hatte, während sie in Ruhe jeden Schüler aufrief und ihn sich ansah, auf die Tischplatte vor sich geblickt. Seine Hände waren feucht geworden, sodass sich die Fingerabdrücke sichtbar auf der grauen Sprelacartplatte abzeichneten. Als er aufgerufen wurde, war er unsicher aufgestanden. Ganz still war es in der Klasse gewesen, nur sein Stuhl, den er beim Aufrichten zurückschob, hatte einen knurrenden Laut von sich gegeben. Fräulein Heinz hatte ihn bestätigend angesehen, mit demselben Lächeln wie alle anderen. Ihr Plan stimmte. Fräulein Heinz ging jetzt ruhig durch die Reihen. Manchmal blieb sie stehen und sprach leise mit einem Schüler, oder sie zeigte wortlos auf einen Fehler im Heft. Man merkte, sie war nicht mehr so aufgeregt wie am Beginn der Stunde.

 

Es klingelte zur Hofpause. Martin räumte umständlich seine Sachen weg und sah nicht auf. Sven wartete an der Tür auf ihn. Er besah den Belag auf seinen Frühstücksbroten.

 

„Was hast du drauf?“

Martin ging zurück und holte die Brotbüchse aus der Tasche. „Leberwurst.“

„Ich hab Jagdwurst. Wollen wir tauschen?“

 

Martin schüttelte den Kopf. Er biss in einen Boskop, der neben den Stullen gelegen hatte.

 

Auf dem Hof blieb Sven in seiner Nähe. Wohin sich Martin auch wandte, Sven ging neben ihm. Schließlich stellte er sich vor Martin hin. „Denkst du, sie kommt nicht dahinter?“

 

„Wohinter?“

„Ach Mensch, stell dich doch nicht so blöd!“ Sven ließ ihn ärgerlich stehen.

 

Martin ging langsam über den Schulhof, bis an den Zaun. Von dort konnte man den Bahnhof und die Eisenbahnbrücke sehen. Wenn er pünktlich war, musste gleich der D-Zug aus Berlin durchfahren. Manchmal standen Leute am Fenster. Die Kleinen aus der Unterstufe winkten dann, und meist winkten welche zurück. Das Ausfahrtsignal wurde auf freie Fahrt gestellt. Martin drehte sich um. Es interessierte ihn heute nicht. Ein Stück Knüllpapier wehte ihm vor die Füße. Er schoss es mit einem kräftigen Stoß beiseite.

 

In der letzten Stunde hatten sie Russisch. Die Kinder tuschelten, als hinter Frau Harnack wieder die Praktikantin durch die Tür kam. „Ich habe heute Morgen vergessen, euch zu sagen, dass ich auch in Russisch ein paar Stunden bei euch unterrichte.“

 

„Ein paar?“, fragte Ines dazwischen, vorlaut wie immer.

„Zwei Monate bleibe ich da“, sagte Fräulein Heinz.

„Bis Mai“, redete Ines schon wieder laut.

 

„Ines, nimm dich zusammen!“, rief Frau Harnack von der letzten Bank. „So“, sagte Fräulein Heinz, „und jetzt fangen wir an.“

 

Wie üblich nach den Ferien, war es auch eine Wiederholungsstunde. Martin merkte, dass er viele Vokabeln vergessen hatte. Die Praktikantin sprach auch ein bisschen anders als Frau Harnack. Trotzdem hob Martin oft den Finger, selbst wenn er sich nicht ganz sicher war.

 

Bei den mündlichen Übungen rief ihn Fräulein Heinz nicht auf. Auch bei Frau Harnack kam er selten dran. Es war eben zu oft falsch, was er sagte. Aber Fräulein Heinz konnte das eigentlich gar nicht wissen. Sie fragte, wer einen Satz mit dem russischen Wort Lehrerin bilden könne und ihn an die Tafel schreiben wolle. Nach ein paar Sekunden schossen mehrere Finger in die Höhe. Auch Martin meldete sich. Er hatte sich den Satz ausgedacht: Die neue Lehrerin steht in der Klasse.

 

Fräulein Heinz sah ihn an, nickte ihm zu und sagte: „Martin Majak bitte.“ Martin war schnell aufgestanden. Als er den Namen hörte, fühlte er, wie das Blut aus seinem Kopf, seinen Armen, seinen Beinen rieselte und sich im Bauch sammelte.

 

„Geh zur Tafel“, sagte Fräulein Heinz russisch.

Martin bekam das Gesicht nicht gehoben. Er schüttelte den gesenkten Kopf. Es fiel ihm nicht einmal ein, sich zu setzen. Er hatte genau bemerkt, dass alle zu ihm sahen, als Fräulein Heinz ihn aufrief.

 

„Martin Majak bitte“, wiederholte Fräulein Heinz schnell und freundlich. Martin schüttelte kaum merklich den Kopf.

 

„Martin, du gehst sofort an die Tafel!“, rief von hinten Frau Harnack.

„Ich heiß nicht so“, quetschte Martin mit Mühe heraus. Seine Stimme klang heiser. Er schob sich langsam auf den Stuhl zurück und blieb sitzen.

 

In der Klasse war es still. Man hörte durch ein Fenster, das nur angelehnt war, Kinderstimmen aus einem anderen Raum der Schule. Martin sah mit einem Ruck auf. Vorn stand unbeweglich Fräulein Heinz und zwinkerte ihn erschrocken an. Er senkte die Lider. Irgendwem rollte ein Bleistift von der Bank. Er klackste auf den Fußboden.

 

„Machen Sie bitte weiter, Fräulein Heinz“, fiel Frau Harnacks Stimme in die Stille, „mit Martin rede ich später.“

 

Die Klasse regte sich wieder. Einige schnipsten vor Eifer mit den Fingern. Eigentlich war das strikt untersagt. Fräulein Heinz rief Birgit auf, die ihren Satz fehlerfrei an die Tafel schrieb. Die Stunde verlief wie jede andere. Vielleicht ein bisschen munterer sogar, weil sich wegen der Neuen alle anstrengten. Martin sah nicht mehr auf. Er kratzte mit dem Fingernagel über die eingeritzten Buchstaben auf seiner Tischplatte. Stones stand unten an der Kante. Martin wusste nicht, was das Wort bedeuten sollte. In die rechte Ecke war L. + H. eingeritzt. Das hatten bestimmt welche aus einer anderen Klasse getan. Bei ihnen gab es keinen Namen, der mit L anfing.

 

Nach einer Weile hörte Martin wieder Fräulein Heinz zu. Manche Frage hätte er beantworten können, aber er meldete sich nicht. Als die Praktikantin die Klasse aufforderte, die Bücher zu öffnen, blieb er reglos sitzen. Er fuhr mit seinem Zeigefinger unablässig um das O von Stones.

 

Fräulein Heinz las einen Abschnitt vor. Während sie sprach, ging sie durch die Reihen. Als sie zu Martin kam, nahm sie sein Buch, schlug es auf und schob es ihm hin. Alles, ohne einmal zu stocken oder auch nur den Tonfall der Stimme zu ändern. Kaum, dass sie einen Moment lang neben seinem Platz stehen geblieben war. Als die Klasse im Chor lesen sollte, hielt Martin die Hand vor den Mund, damit man nicht sehen konnte, ob er die Lippen bewegte.

 

Die Stunde schien ihm endlos. Immer öfter sah er auf seine Armbanduhr. Der große Zeiger rückte kaum weiter. Es klingelte, gerade als er überlegte, ob es nicht besser wäre, alle Stunden ohne Pause hintereinander zu haben. Höchstens eine kurze zum Essen oder wenn man mal musste. Dann könnten sie jeden Tag spätestens um zwölf aus der Schule sein.

 

Frau Harnack kam zu ihm, als er noch beim Einpacken war. „Was denkst du dir eigentlich?“, fragte sie streng.

 

Martin antwortete nicht. Er schnipste mit dem Schloss an seiner Tasche. Auf und zu. Auf und zu.

 

„Wir beide reden noch“, sagte Frau Harnack und ging zum Lehrertisch. Martin atmete auf.

 

Für heute war es überstanden. Frau Harnack flüsterte mit der Praktikantin. Martin schob sich schnell an ihnen vorbei.

„Wiedersehen“, murmelte er beim Hinausgehen.“

 

Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wagte sich Wolfgang Schreyer zum zweiten Mal auf ein für ihn ungewohntes Terrain und schrieb zum zweiten und zugleich letzten Mal in seinem lange 90 Jahre währenden Schriftstellerleben ein Schauspiel – „Tod des Chefs oder Die Liebe zur Opposition“. Als Druckausgabe erschien der Text dann erstmals 1975 im Eulenspiegel-Verlag Berlin: Wolfgang Schreyer, profilierter Romanautor, legt hier ein Bühnenstück vor, das die Liaison faschistischer Diktatur und bürgerlicher Scheindemokratie behandelt. Eine künstliche Opposition wird ins Leben gerufen, um eine demokratische Fassade zu demonstrieren und gleichzeitig einer wirklich revolutionären Entwicklung vorzubeugen. Doch die als Scheinopposition gegründete „zweite Partei“ entpuppt sich als durchaus aktionsfähige politische Kraft, und in die vom „Chef“ aufgestellten Attrappen kommt unversehens Leben ...

 

Wolfgang Schreyer kennt sich aus in Atmosphäre, Milieu und Politik der mittelamerikanischen Republiken. Sein Stück beruht auf historischen Vorgängen in der Dominikanischen Republik in den Jahren 1961 bis 1965. Das Motiv wurde ebenfalls in dem Roman „Der Adjutant“ verwendet, der von der DEFA 1971 verfilmt wurde. Uraufgeführt wurde das gesellschaftskritische Stück 1974 am Volkstheater  Rostock. Verlagert auf einen anderen Kontinent enthält es etliche Spitzen zur damaligen DDR-Politik:

 

Personen

Hauptmann TOMÁS, 28, 1. Adjutant (Armee)

Major PEZUELA, 40, 2. Adjutant (Staatsschutz)

Leutnant COSTA, 20, 3. Adjutant (Marine)

GENERAL Tomás, 55, Armeeminister

Der PRÄSIDENT, 60, Premierminister

Dr. PILAR, 40, Dozentin für alte Geschichte

Oberst LUNA, 36, Stabschef (Luftwaffe)

ESTRELLA, 40, Führer der Opposition

NÚÑEZ, 58, Mitglied der verbotenen KP

KING, 35, Stationschef der CIA

Der CHEF, 69, Wohltäter des Vaterlandes

Leibarzt, zwei Leibwächter, zwei Mitarbeiter des Staatsschutzes

 

Spielt in einer Bananenrepublik, nach der cubanischen Revolution.

Die Szene ist stets die Adjutantur im Nationalpalast.

 

Die Adjutantur ist das Vorzimmer, die Kanalschleuse der Macht. Wer immer zum Präsidenten oder gar zum Chef gerufen wird, der muss den gepanzerten Schauplatz des Stücks passieren; ebenso, wer das Machtzentrum verlässt. Der Raum hat drei Zugänge, gemäß ihrem Rang auf drei Ebenen: rechts vorn zum Wartesaal und in die nachgeordneten Teile des Palastes; links, drei Stufen hoch, zum Amtszimmer des Präsidenten; in der Mitte, nochmals erhöht, die große Flügeltür zu den Gemächern des Chefs. Wenn sie sich öffnet, lässt ein süßes Leuchten schwelgerischen Luxus ahnen. Sie wird flankiert von einem Fenster (Blick über hitzeflirrende Dächer) und einer gleichgroßen Wandtafel - darauf gut lesbar das Modell der Staatsspitze. Das Interieur vereint militärische Kälte und Sicherheitserfordernisse mit dem Prunk entschiedener Verehrung. Vorn kanalisiert ein langer Stahltisch mit farbigen Telefonen und Arbeitsplätzen für die drei Adjutanten den Zugang zur Macht. Da ist ein Trinkwasserballon und, in die Aktenwand eingelassen, der Kühlschrank - das Menschliche der Militärs anzeigend. Auf der mittleren Ebene steht eine Sitzgruppe mit Sofa, auf der oberen, schwungvoll fallend, die blaurote Staatsfahne. An den Wänden: Das Porträt des Chefs, untermalt von dessen fünf Generalissimussternen, jeweils mit Kometenschweif; ferner das barocke Staatswappen (Kreuz mit Bibel, Friedenspalme, Degen und Gewehren) und die vier Leitworte des Chefs - RECITTUD, LIBERTAD, TRABAJO y MORALIDAD. Wer die Adjutantur auch betritt, der erhält einen gehörigen Eindruck von der Lebenskraft des Regimes, von der unvergänglichen, gottgewollten Allgewalt des Herrschers.

 

Erstes Bild

Costa ins Telefon: Herr Präsident, der Erzbischof lässt sagen, er müsse die Morgenmesse lesen. Er lehnt es wieder ab, in den Palast zu kommen ... Ja, die Posten sind verstärkt; der Flugplatz, der Hafen, Radio Nacional und die Brücken werden scharf bewacht; Patrouillen sichern den Stadtrand ... Zu Befehl, Exzellenz: Keinen vorlassen. Legt auf.

 

Pezuela von rechts herein: Lang lebe der Chef!

 

Costa Er lebe! Adjutantur des Wohltäters des Vaterlandes besetzt mit Leutnant zur See Costa.

 

Zu den Grußformeln in legerer Korrektheit ein rasches Heben des rechten Arms; die Hand wird dann, ewige Treue signalisierend, für Sekunden ans Herz geführt.

 

Pezuela Neue Vorkommnisse?

 

Costa Ja, Major: Der Präsident ist beim Chef; man wünscht keine Störung. Das Wachregiment hat Urlaubssperre, die Polizei steht in Bereitschaft.

 

Pezuela Ich weiß. Setzt sich. Noch etwas?

 

Costa auf die Flügeltür deutend: Der Armeeminister ist auch da drin.

 

Pezuela General Tomás - so früh?

 

Costa Man hat sogar nach dem Erzbischof geschickt; aber der ließ sich entschuldigen.

 

Pezuela Wieder mal. Diese fette Laus.

 

Costa Verzeihung, Major: Was kann das wohl bedeuten?

 

Pezuela Der Klerus sagt uns die Gefolgschaft auf.

 

Costa Ich meine - all die Maßnahmen des Chefs ... Pezuela Nicht so neugierig, Costa. Er rückt Akten zurecht. Der Chef wird schon wissen. Wir tun unsere Pflicht.

 

Costa nimmt Haltung an.

 

Tomás von rechts herein: Lang lebe der Chef!

 

Pezuela steht auf: Er lebe! Adjutantur des Wohltäters des Vaterlandes besetzt mit Major Pezuela und Leutnant Costa.

 

Tomás Danke, Major. Gibt's was Neues?

 

Pezuela Die Wachen sind verstärkt; überall Alarmbereitschaft. Auf die Flügeltür deutend. Und da drin tut sich was: Der Chef berät mit dem Präsidenten und Ihrem Herrn Vater.

 

Tomás Um diese Zeit? Recht ungewöhnlich. Zu Costa: Wo ist denn das Mädchen? Wartet nebenan?

 

Costa bedrückt: Nein, Hauptmann; sie hat sich hier noch nicht gemeldet.

 

Tomás Sehen Sie mal unten nach, vielleicht hält man sie auf.

 

Costa Zu Befehl. Ab.

 

Pezuela Ging's denn glatt mit ihr, gestern im Theater?

 

Tomás So glatt wie immer.

 

Pezuela Mancher beneidet Sie um dieses zarte Amt.

 

Tomás Wenn Sie das ein Jahr lang machen, Pezuela, steht es Ihnen bis hier.

 

Pezuela Na, na ... Ein kleines Prickeln ist doch sicher noch dabei.

 

Tomás Ach was! Erst glauben die ja immer, ich wär' hinter ihnen her. Und wenn sie dann merken, für wen man spricht, starren sie einen entgeistert an.

 

Pezuela genüsslich: Denen wird schwindelig. Der Chef! Ein Herrscher über drei Millionen Menschen! Das Erlebnis der Macht - danach lechzen sie doch alle ... Hat er denn Teresa schon gesehen?

 

Tomás Nein; er geht ja nicht ins Theater ... Das Stück war wieder schwach, ein Volksstück. Es hätte ihn gelangweilt.

 

Pezuela Das Theater ist zu verwickelt, die reinste Falle. Wir hätten alle Karten aufkaufen müssen, sicherheitshalber.

 

Tomás Warum nicht - Ihr Staatsschutz hätte sich amüsiert.

 

Pezuela Wohl kaum. Die Bühne ist für Leute, die nichts erleben. Liebe und Tod und Spaß, wer von uns braucht da Ersatz?

 

Tomás Major, ich staune. Sie denken ja nach über Kunst.

 

Pezuela kopfschüttelnd: Ich frage mich, wer Teresa dem Chef empfohlen hat. Costa diesmal nicht - sie ist doch sein Mädchen.

 

Tomás Finden Sie's heraus, wenn Sie müssen.

 

Pezuela Und ob ich muss. Jede Person, die durch diese Tür da geht, ist ein Sicherheitsrisiko.

 

Die Flügeltür öffnet sich, General Tomás tritt auf. Jenseits der Tür zwei salutierende Leibwächter, diese wieder schließend.

 

Tomás General: Adjutantur des Wohltäters des Vaterlandes besetzt mit Major Pezuela und Hauptmann Tomás.

 

General abwinkend: Ja, ja, schon gut ... Ach du bist das, Junge. Tupft sich die Stirn. Mal ein Schluck Wasser.

 

Tomás füllt Pappbecher aus dem Trinkwasserballon: Bitte, Vater.

 

General gierig trinkend: Ah ...!

 

Tomás Vater, was ist passiert?

 

General Nichts, nichts ... Er strafft sich. Kleines Feindmanöver, Bagatelle. Riegeln wir ab, im Gegenstoß. Er zerknüllt den Becher. Jungs, die Yankees rempeln uns an, nach dreißig Jahren Freundschaft. Uns, den karibischen Fels, die Ordnungsmacht Nummer eins, den Garanten der Stabilität! Und bloß wegen der dreckigen Nachbarinsel!

Er wirft erregt den Becher weg.

 

Castro wollen sie stürzen und brauchen dazu ein Alibi: Kampf auch den rechten Autoritäten! Tun, als wären sie nicht nur gegen die rote Gefahr, sondern auch gegen Recht und Ordnung! Setzen uns unter Druck, drosseln die Zuckereinfuhr, ziehen den Botschafter ab und plärren, wir seien keine wahrhafte Demokratie!

Er schlägt auf den Tisch.

 

Das ist doch lachhaft! Gibt's hier denn keine Wahlen, keinen Kongress und keine Verfassung? Genießt der Chef nicht das Vertrauen der Nation? ... Aber er wird's denen zeigen! Der Chef macht einen Gegenstoß. Die Welt wird staunen!“

 

Aufschlussreiche Hintergründe zu diesem Stück und zum Umgang damit und mit seinem Autor erfahren wir in den erstmals im Jahre 2000 in der „Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH“ veröffentlichten Memoiren „Der zweite Mann. Rückblick auf Leben und Schreiben“ von Wolfgang Schreyer, die 2013 bei der EDITION digital auch als E-Book erschienen sind. Dort lesen wir:

 

„… Da greift das Rostocker Volkstheater zu. Der Generalintendant Hanns Anselm Perten, in Ahrenshoop mein Nachbar, liest den Text. Nach seinem Schiffbruch am Deutschen Theater Berlin fasst der 55-Jährige eben wieder Fuß an der See. „Wir denken darüber nach“, teilt er mir kühl mit, im Pluralis majestatis. Ein arger Despot dem Vernehmen nach – immerhin, zum Verdruss seines Erzfeindes, des Leipziger Bühnenstalins Kayser, hat er als Erster im Osten Dramen von Rolf Hochhuth und Peter Weiss aufgeführt.

 

Bei mir am Kachelofen spricht Perten über das alberne Zeug im Westfernsehen, dessen wahrer Zweck es doch sei, Waschpulver, Autos, Politiker und Abführmittel zu verkaufen. Hochgebildet ist er, hochautoritär, sein eigener Marketing-Direktor. „Jeder von uns ist das Produkt der Bücher, die er gelesen hat“, sagt die Frau neben ihm, sein Bühnenstar Christine van Santen, so nett, als mache sie mir ein Geschenk damit. Ihr Ehemann kriegt vom Verlag Volk und Welt ein Exemplar jeder Neuerscheinung!

 

Der Großmeister verströmt Kompetenz. Er lässt den Entscheidungsmuskel spielen und akzeptiert – zack, zack – mein Stück. Egal, was es taugen mag, das Kulturministerium zahlt seinem Haus pro Uraufführung stets 5000 Mark. Das Geld für mich, denkt er, den Ärger für die anderen. Bald freilich droht ihm da selbst welcher. Schon recht, ein Autor darf zuspitzen, übertreiben, doch muss es gleich im Titel sein? Dem Rhythmus des Frisch-Knüllers „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ folgend, hab ich das Stück „Tod des Chefs oder die Liebe zur Opposition“ genannt. Und nun verstirbt uns Walter Ulbricht! Schön, seit zwei Jahren ja entmachtet, aber spukt nicht im Hinterkopf der Bürger die Idee, er sei der echte Chef?

 

Die Frage klingt ängstlicher, als Perten ist. Der handelt forsch, im Schutz des Schweigens, als er, unbemerkt von mir, den halben Titel streicht – zack, zack. Nur noch „Die Liebe zur Opposition“ bleibt übrig, saftlos. Nach einer Testvorführung auf der Podiumsbühne lege ich mich deshalb an mit dem Zampano, vergleiche ihn frech, wenn auch treffend, mit dem Chef im Stück. Das Publikum platzt vor Lachen, ich aber lerne, daß jede Erhellung sich ein neues, eigenes Dunkelfeld schafft – in das er mich nun rückt. Rache ist süß und sein Stand im Küstenbezirk so stark, dass dort niemand mehr Notiz nimmt von mir. Selbst dem Rostocker Buchbasar hält sein Verdikt mich für acht Jahre fern.

 

Perten, der Fuchs. Abwarten und Aussitzen, diesmal gilt ihm das mehr als Schnellsein. Ans Ende der Spielzeit 73/74 schiebt er die Uraufführung, längst stinkt ihm der Braten. Haben wir, Ingrid und ich, doch das Streichen in den Proben gestoppt. Man muß eben hingehen, wo man was retten will. Und so bleibt uns der Genuss, an gewissen Stellen Heiterkeit zu spüren. Etwa wenn der Major vom Staatsschutz sagt: „Der Chef hat einen genialen Plan verkündet: Die Gründung einer Opposition!“

 

Der Adjutant perplex: „Was will er gründen?“

„Eine Op-po-si-tion.“

 

„Das ist ein Fremdwort, ja?“

„Das sind Leute, die anderer Meinung sind, und sich zusammentun, um sie zu äußern.“

„Äußern, die andere Meinung? Ein ganz neuer Gedanke.“

 

„Das ist der Gegenstoß“, tönt der Major. „Bringt all die Hetzer aus der Fassung, die unseren Staat als Diktatur verleumden.“

 

„Die Bürger werden`s aber nicht fassen.“

„Bürger! Das ist Sache der Politiker.“

 

„Politiker, Major? Woher nehmen nach dreißig Jahren?“

Zeit, dass dies in den Orkus sinkt. Das Stück stirbt in Rostock stiller als der Chef. Als nach vier oder fünf Abenden der letzte Vorhang fällt, hat es kaum ein Fünftel der 3000 Mark Tantieme eingespielt, die „Fremder im Paradies“ in Magdeburg erbrachte. Dabei ist es das bessere Stück, mehr Zeit und Witz sind investiert.

 

Wie zum Trost druckt man mir, korrekt betitelt, dann immerhin noch den Text. Ziemlich zögernd bringt der Eulenspiegel Verlag, Berlin, das Büchlein 1975 schmuck kartoniert heraus, für 7,40 Mark und von Peter Muzeniek deftig illustriert. Glanz und Elend der dramatischen Kunst! Zum Schreiben wie auch zum Lancieren von Stücken braucht es ein Spezialtalent“, erkannte Wolfgang Schreyer.

 

Zum Superpreis von nur 99 Cents steht diesmal der erste von insgesamt 16 Bänden der Zeitreisenden-Reihe von Hardy Manthey im Angebot. Als Eigenproduktion der EDITION digital war „Die Zeitreisende, 1. Teil: Vom 22. Jahrhundert zurück in das antike Karthago“ erstmals 2011 als E-Book und 2015 in einer 2., stark überarbeiteten Auflage erneut erschienen:

 

Das E-Book beschreibt die atemberaubenden Abenteuer einer jungen Frau, die durch Raum und Zeit reist. Sie ist eine auffallend schöne, blonde und vor allem intelligente Schwedin, die in München erfolgreich Medizin studiert hat. Die blinde Liebe zu einem Mann stürzt sie in das Abenteuer ihres Lebens. Ihre Erlebnisse in diesem Roman und in seinen Fortsetzungen schildern beklemmend realistisch, was Frauen seit vielen tausend Jahren, zum Teil bis heute, erdulden und erleiden müssen. Maria Lindström überlebt als einzige einen Flug zum Pluto und landet sicher auf der Erde – allerdings 150 Jahre vor Christi Geburt. Als Aphrodite schließt sie sich Nomaden auf dem Weg nach Karthago an. In die noch unzerstörte antike Stadt zieht sie in Ketten ein und muss als begehrte Hure ihrem Herrn dienen. Aphrodite hat nicht nur das elende Sklavenleben zu erdulden, noch mehr Sorgen macht sie sich, ob sie den 3. Punischen Krieg und die Zerstörung Karthagos überleben wird. Doch genau dieses Wissen über die Zukunft der Stadt setzt sie für ihre Rettung ein. Wird es ihr gelingen, rechtzeitig Karthago zu verlassen und in das 22. Jahrhundert, aus dem sie als Maria startete, eine Botschaft zu übermitteln? Das Buch schildert die Ereignisse überaus spannend und macht süchtig auf die weiteren Teile. Der Autor hat mit der 2. Auflage sein Erstlingswerk sehr stark überarbeitet und die kritischen, trotzdem begeisterten Hinweise berücksichtigt.

 

Für alle diejenigen die bisher noch keine Bekanntschaft mit Maria Lindström und mit dem literarischen Werk von Hardy Manthey gemacht haben, zitieren wir hier anstelle von Textauszügen das Vorwort des Autors zu seinem Erstlingswerk, welcher dieses übrigens seiner Frau gewidmet hatte, „die mir Mut machte, meine persönlichen Aufzeichnungen zu veröffentlichen und die für mein zeitintensives Hobby Verständnis aufbringt“. Und hier nun die eben angekündigten Erläuterungen des Autors in eigener Sache, die gewissermaßen selbst ein kleines Abenteuer beschreiben:

 

„Vorwort

Bevor ich dem geneigten Leser meinen Roman zumute, bedarf es wohl einiger klärender Worte zur Entstehung dieses spannenden Titels über die Zeitreisende. Denn der Anlass meines Buches ist nicht weniger abenteuerlich als die Geschichte, die ich Ihnen in meinem Roman erzählen werde.

 

Alles begann mit jenem denkwürdigen Tage im Jahre 2004 direkt an der Cheopspyramide. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt ein hoffentlich normaler Mann, der gerne spannende Romane las und sich brennend für Geschichte interessierte. Meine Vorliebe für die Vergangenheit hat mir nicht nur eine kleine Bibliothek beschert, sondern mich auch auf meinen zahlreichen Reisen an viele geschichtsträchtige Orte geführt. Bei allem Interesse für Geschichte und ihre oft dramatischen Ereignisse suchte ich, alles aus dem rationalen wissenschaftlichen Standpunkt zu betrachten und mir auch so zu erklären. Selbst die Religionen und Mythen des Altertums hatten nur wissenschaftlich betrachtet einen Platz in meiner Gedankenwelt. Die Idee, selbst Geschichten oder gar Romane zu schreiben, kam mir dabei nie. Lieber telefonierte ich, statt mühselig lange Briefe zu verfassen. Das alles stimmte bis zu diesem denkwürdigen Tag im September des Jahres 2004 auch.

 

Nun also stand ich mit meiner Frau an diesem frühen Morgen vor der Cheopspyramide und war wie schon beim ersten Besuch von diesem Bauwerk ergriffen. Ich berührte einen dieser Quader und spürte ein Kribbeln in den Händen, gerade so, als seien sie eingeschlafen. Nun weiß ich nicht, ob das überhaupt hierher gehört. Das können Sie hinterher für sich selbst entscheiden. Ich schüttelte meine Hände, das Kribbeln ließ langsam nach und ich konnte meinen Spaziergang um die Pyramiden fortsetzen. Doch jetzt meldete sich in mir ganz aus der Tiefe eine weibliche Stimme, die mir sagte, dass ich von nun an einen Auftrag zu erfüllen hätte. Ich konterte, ja, wir Menschen müssen doch immer einen Auftrag erfüllen, und ignorierte einfach die immer schwächer werdende Stimme.

 

Die Fahrt zurück zu unserem Hotel in Hurgada dauerte über sieben Stunden. Ich verfiel in eine Art Halbschlaf. Plötzlich tauchte vor mir eine wunderschöne Frau auf und plauderte munter drauf los. Sie brauche mich, behauptete sie kühn. Ich hätte den Auftrag, ihre Abenteuer niederzuschreiben. Sie duldete keinen Widerspruch und begann sofort, mir ihre Geschichte zu erzählen.

 

Eine Vollbremsung holte mich zurück in die Realität. Etwas verdattert schaute ich mich um und dachte nur: „Wow, was für ein verrückter Traum!“ Vor allem konnte ich mich an jede Einzelheit klar erinnern. So etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt. Meine Träume waren sonst bei mir nur undeutliche Erinnerungsfetzen. Für eine Stunde hielt ich mich wach. Als es draußen dunkel wurde, siegte erneut die Müdigkeit. Sobald ich die Augen schloss, war diese Frau wieder da und erzählte ihre Geschichte unbeirrt weiter. Ich protestierte und sagte ihr, dass ich als Mann doch nicht über eine Frau schreiben könne. „Das geht doch nicht!“ Sie erwiderte, gerade weil ich ein Mann sei, müsse ich ihre Erlebnisse niederschreiben. Ich müsse mich auch einfach nur an ihre Erzählung halten. Denn nur ein Mann habe den nötigen gesunden Abstand, der für ihre wahrlich abenteuerliche Geschichte notwendig sei. Sie behauptete, dass besonders Frauen gerne dazu neigen, sich einmal erlebte schlimme Dinge am Ende schönzureden. Das wolle sie aber nicht. „Ihr Männer seid dagegen oft schön brutal realistisch.“ Ich solle mich also nicht ständig herausreden und in Zukunft lieber aufmerksam zuhören, belehrte sie mich erneut. So gab ich mich geschlagen und wurde beinahe eins mit ihr.

 

Denn diese Frau lässt mich bis heute nicht mehr los. Wenn ich jetzt schreibe, genügt etwas Konzentration und schon kann ich loslegen. Mit ihr bin ich in ferne Welten gereist und habe oft Raum und Zeit durchbrochen. Siebzehn dicke Bücher sind so schon bis heute entstanden. Ich weiß noch nicht, wann es ein Ende geben wird. Das werden Sie als Leser sicher auch mit entscheiden! Aber vielleicht ist sie eines Tages einfach weg. So weg, wie sie damals gekommen ist?

 

Ich habe mich auch oft schon gefragt, warum es ausgerechnet eine Zeitreisende sein musste. Warum ist es kein Mann, der durch Raum und Zeit reisen kann? Ein Mann, ein wahrer Held, eben ein ganzer Kerl, der all diese Abenteuer bestehen muss. Ich habe diese Variante für mich auch schon durchgespielt. Schon allein aus Solidarität zu meinem Geschlecht. Was soll angeblich diese Frau besser können als ein Mann? Doch mein Wunschheld war schon an den ersten Abenteuern in der Antike kläglich gescheitert. Die Natur des Mannes erlaubt es in vielen Situationen einfach nicht, sich kampflos zu unterwerfen. Sich gar wie unsere Heldin oft ganz aufzugeben, fällt jedem Mann unglaublich schwer. Sich wie unsere Protagonistin unter Zwang zu prostituieren, ist doch die brutalste Form der Selbstaufgabe. Oder etwa nicht? Selbst die modernen Waffen könnten einen männlichen Helden nicht lange vor den Gefahren beschützen. Auch ein Recke braucht mal etwas Schlaf. Wenn ich also mit meiner Hauptfigur glaubwürdig bleiben wollte, müsste ich sie am Ende doch viel zu früh opfern. Schade, aber leider wahr.

 

Meine Heldin dagegen hat wahrlich viele Fehler gemacht, aber nie wirklich um jeden Preis gekämpft. Ehre, Ruhm oder gar Macht waren ihr nie wichtig. Nur für die Liebe und für ihre Kinder kämpfte sie bis zur Erschöpfung. Das ist das Geheimnis ihres Erfolges bis heute, glaube ich. Das ist eben das Naturwunder Frau! Folgen Sie also dieser Frau auf ihren vielen Abenteuern durch Raum und Zeit. Ich wünsche Ihnen dabei gute Unterhaltung!

Hardy Manthey“

 

Und diesem Wunsch des Verfassers und Zeitreisen-Experten können wir uns nur anschließen. Am besten, Sie verlieren jetzt weder Zeit noch Raum und lassen sich mehr oder weniger sofort von Maria Lindström verführen – zum Lesen natürlich, meine Herren! Was dachten Sie denn? Sehr gespannt aber ist die Newsletter-Redaktion auch auf die Reaktionen der Leserinnen. Wie empfinden Sie die Art und Umstände ihrer Zeitreise und ihrer mitunter recht brutalen Unterwerfung unter männliche Macht und Lust? Oder macht ihr das vielleicht sogar Spaß? Die Diskussion ist eröffnet.

 

Viel Spaß beim Lesen, beim Reisen durch Zeit und Raum und bis demnächst. Und noch was: Halten Sie sich gut fest! Möglicherweise kommt es zu literarischen Turbulenzen …

DDR-Autoren: Newsletter 13.04.2018 - Kritzeleien aus dem Literaturinstitut, eine Gräfin in schlimmen Zeiten,