Die Himmelssammlerin, Karl Mary und Satchmo sowie Schwierigkeiten beim Namensagen - Sechs E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 17.08. 2018) Sammeln kann man viele Dinge. Und tatsächlich sammeln die Leute viele Dinge – zum Beispiel Briefmarken, Steine und Schmetterlinge oder auch Erfahrungen und nicht zuletzt Bücher. Aber das, was Elli im ersten von sechs Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 17.08.18 – Freitag, 24.08.18) zum Sonderpreis zu haben sind, sammelt, ist schon sehr ungewöhnlich und poetisch zugleich. „Ellis Himmel“, erzählt und gemalt von Johannes Helm, ist jedenfalls ein wunderbares Kinderbuch nicht nur für Kinder, das Lust macht zu lesen und – zu malen. Und es lädt nicht zuletzt auch dazu ein, selbst ab und an mal wieder in den Himmel zu schauen …
Um sehr ungewöhnliche und abenteuerliche Erlebnisse einer jungen deutschen Journalistin und Auslandskorrespondentin in Jerusalem geht es in „Lea – Leben und Lieben einer jungen Journalistin in Palästina“ von Wolfgang Licht.
Die Liebe einer jungen Frau zu zwei Männern steht im Mittelpunkt von „Meine doppelte Liebe“ von Heinz Kruschel.
Als eine Neue in die Klasse kommt, ändert sich vieles – auch für den Klassenbesten Frank, Frank Behrendt. Die Geschichte dieser beiden jungen Menschen erzählt Gabriele Herzog in „Das Mädchen aus dem Fahrstuhl“.
Wer war eigentlich Karl Gottlieb Mauch? Und welche Verdienste hat er sich erworben? Aufklärung liefert der Roman „Das Goldland des Salomo“ von Dietmar Beetz. Es ist eine Spurensuche nach einem in Deutschland fast vergessenen Entdecker, der unter bis heute ungeklärten Umständen starb. 1871 hatte er als erster Europäer die sagenumwobenen Ruinen von Great Simbabwe erreicht.
Eine ungewöhnliche Chronik vom Leben auf dem Lande „dort in Wallkau, jenem Dorf auf dem platten Lande zwischen großem Fluss und eiszeitlichem Hügelland“, hat Erich-Günther Sasse in seinem zur Zeit seines Erscheinens (je nach Klassenstandpunkt) sehr unterschiedlich beurteilten Buch „Der Brunnen – Roman einer Kindheit“ geschrieben. Spannend liest sich nicht nur das Buch selbst, sondern auch die damaligen Reaktionen darauf.
Und damit zurück zum Anfang dieses Newsletters, zum ersten Titel der heutigen Ausgabe und zu Elli:
Erstmals 1981 erschien „Ellis Himmel“, erzählt und gemalt von Johannes Helm, im DDR-Kinderbuchverlag Berlin: Sonnenschein, Gewitter, Feuerwerk, ... jedes Mal sieht der Himmel anders aus. Elli will jeden ihrer Himmel in ihrem Kopf speichern. Dann hat sie Angst, dass sie die Bilder doch vergisst und malt ihren Himmel. Aber wo finden wir Elli eigentlich?
„Ellis Himmel
Elli wohnt in einem Dorf zwischen Hügeln, Wiesentümpeln und weiten Feldern. Alle Winkel und Wege kennt sie dort. Sogar mit dem alten Rehbock und den Hasen ist sie vertraut. Aber die Unken in den Wassertümpeln sah sie noch nie. Immer wieder hat sie sich vorsichtig herangeschlichen und den klagenden Rufen gelauscht, doch die Unken blieben unsichtbar, zwischen dem Kraut unter Wasser versteckt.
Nur der Himmel spiegelt sich in dem glatten Wasser. Wenn es ein schöner Himmel ist, schaut Elli nach oben. Sie liebt Himmel über alles. Und deshalb sammelt sie Himmel, so wie andere Kinder Steine, Schmetterlinge und Briefmarken sammeln. Niemand weiß davon; schon seit dem Frühling ist es ihr Geheimnis.
Beim Dorffest am 1. Mai fing sie damit an. Alle freuten sich auf das Feuerwerk am Abend, Ulli hatte noch nie eines gesehen. Als es dunkel wurde, zündete ihr Bruder die Kerzen in den Lampions an, und sie gingen zusammen mit anderen Kindern zum Seeufer hinunter.“
Erstmals 2006 brachte der Tauchaer Verlag damals noch unter dem kürzeren Titel „Lea“ das Buch „Lea – Leben und Lieben einer jungen Journalistin in Palästina“ von Wolfgang Licht heraus: Es sind ungewöhnliche, abenteuerliche Erlebnisse, die Lea als Journalistikstudentin in Deutschland mit diversen Männern und mit deren Umwelt erfährt. Doch als sie dann nach dem Studium als Auslandskorrespondentin in Jerusalem arbeitet, erlebt sie derart Dramatisches und kommt in komplizierte psychologische Situationen, die sie sich bisher nicht vorstellen konnte. Ursachen dafür sind der Konflikt zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Volk und Leas intensive, prickelnde Liebesbeziehung sowohl zu einem Juden als auch zu einem Palästinenser, die in packenden Szenen geschildert wird. Ein unter die Haut gehendes Buch mit einem realistischen, bisher ungelösten gesellschaftlichen Hintergrund. In der ersten Szene des Buches macht Lea eine überraschende und unerhörte Entdeckung:
„Erster Teil
1. Kapitel
In der Stille hörte sie nur das Geräusch ihrer Schritte auf dem Kiesweg. Sie atmete den Duft von Pflanzlichem, der ihre Sinne wie eine Würze erregte. Vom Schein ferner Stadtlampen getroffen glänzten die Blüten mächtiger Rhododendren, die Lea wie die farbigen Lampions eines Zaubergartens erschienen. Mit einem leichten Erschrecken nahm sie die dunkle Gestalt eines Nachtvogels war, der plötzlich aus einem nahen Gebüsch aufgeflogen war und nun lautlos mit ausladenden Schwingen davonstrich und in der Dunkelheit verschwand. Der Vogel kam ihr wie ein Bote vor, ein Abgesandter der hier lebenden Geschöpfe. Auf seltsame Weise fühlte sie sich den Pflanzen und Tieren zugehörig, wie der Erde, deren Nachtdüfte sie gierig atmete.
In ihr herrschte jetzt ein Gefühl der Schwere. Sie hätte hinsinken wollen, auf das Gras, eintauchen in das Blütenmeer der Rhododendren. In ihre Neugier, Begierde auf das Leben, mischte sich für einen Augenblick aber auch Beklemmung, Angst vor der Dunkelheit, die sie sich nun voller ungestalter Wesen dachte, denen sie in ihrer Einsamkeit hilflos ausgeliefert wäre. In diesem Augenblick stieß sie an einen Stein, was einen harten, hellen Laut gab, der sie veranlasste stehenzubleiben, um zu lauschen; war jemand auf sie aufmerksam geworden, hatte sie sich verraten? Lea glaubte, sich in einer zauberischen Welt zu befinden; ein Unhold hätte sie womöglich an- und aufgreifen können. Die Dunkelheit, ein besonderes Reich, in das Tagmenschen nicht eindringen dürfen.
Als sie in die Richtung sah, in die der Vogel davongeflogen war, fiel ihr Blick auf eine am Wege in einer Nische stehende Bank, auf der zwei Menschen lagen. Dass es Menschen waren, erkannte sie erst im Näherkommen, als deren schattenhafte Umrisse deutlicher wurden. Anfangs nahm sie nur eine dunkle, klumpige Masse war, die mit der Bank verschmolzen schien. Ein dem Schreck verwandtes Gefühl beherrschte sie augenblicklich.
Der für einen Zeitbruch aufzuckende Gedanke, sich wegzuwenden, davonzumachen, die Augen zu schließen, umzukehren oder einen anderen Weg zu nehmen, erstarb vor dem Drang, Zeuge eines Vorgangs zu werden, der nur in dieser Verborgenheit stattfinden konnte. Die Begier, Unerhörtem beizuwohnen, ergriff ihre Sinne wie eine aufschießende Hitze. So ging sie weiter, vorsichtig, um das Geräusch ihrer Schritte zu dämpfen. Sie behielt die Bank unverwandt im Auge, senkte ihren Blick keinen Augenblick auf den Weg, in Furcht, eine entscheidende Phase zu verpassen, etwa, dass sich das Paar voneinander lösen könnte, der Mann aufstehen und sie den Blick auf seine Blöße hätte und die der Frau. Da sah sie einen weißen gebogenen Schenkel aufschimmern, vom Licht der Stadtlampen getroffen, wie vorhin die Blüten der Rhododendren, sah das Heben und Senken des männlichen Körpers in einem schaukelnden Rhythmus. Weitere von Kleidern entblößte Partien waren nicht zu sehen.
Lea war herangekommen. Unterdrückte ihren Drang, stehen zu bleiben. Wendete aber im langsamen Vorbeigehen ihren Blick von dem Paar nicht ab. Da sah sie, wie die Frau Lea das Gesicht zuwandte, dem Mann etwas sagte, offenbar, dass sie beobachtet würden, dabei hielt sie ihn mit beiden Händen an der Schulter, als wolle sie ihn veranlassen, sich ruhig zu verhalten. Doch der Mann ließ sich nicht beirren, setzte seine Handlungen fort. Er hatte seinen Kopf zur Seite gedreht und Lea flüchtig angesehen. Es schien ihr, dass er, nachdem er sie wahrgenommen hatte, intensiver zu Werke ging. Ein so junges Mädchen wie sie, dachte Lea, sah er jedenfalls nicht als Grund an, seinen Liebesakt zu unterbrechen.
Vielleicht war das der Grund, warum sich Lea gewissermaßen in den Akt einbezogen und sich berechtigt fühlte, ihn bis zum Ende zu verfolgen. Es traf sie in diesem Augenblick ein kühler Luftzug an Waden und Schenkeln und sie vermeinte zu fühlen, wie jener Mann sie berührte, obwohl sie wusste, dass es die Bewegung der Luft war, ein leichter Wind, den sie wie eine kosende Berührung empfand. Sie war weitergegangen. Der Weg machte jetzt eine Biegung. Sie würde, dachte Lea, dem Paar nun aus den Augen sein. Da blieb sie stehen. Ein abenteuerlicher Gedanke kam ihr. Sie wollte das Ende des Aktes abwarten. Herausfinden, was das Paar danach beginnen würde. Sie betrat den Rand einer Wiese, die mit Buschwerk besetzt war. Vorsichtig ging sie im Schutze der Büsche zurück bis zu einem Baum, hinter dessen Stamm sie sich verbarg. Die Bank hatte sie deutlich im Blickfeld. Doch sie war zu spät gekommen. Das Paar war schon aufgestanden und kam, sich an den Händen haltend, langsam den Weg entlang, den Lea eben verlassen hatte. Auf seltsame Weise war Lea enttäuscht. Sie dachte, dass der Akt in dem Antlitz der Liebenden Spuren hinterlassen haben müsste, die Leidenschaft sich in ihren Zügen wieder finden. Am liebsten hätte sie ihre Gesichter mit einer Lampe ausgeleuchtet. Sie beschloss, dem Paar nachzugehen. Vielleicht würde sie aus ihrem ferneren Verhalten erkennen können, was der Liebesakt bei ihnen bewirkt hatte. Denn nach Leas Verständnis müsste ein solches Ereignis zwei Menschen vollkommen verwandeln. Obwohl, das war ihr natürlich bewusst, eine solche Wandlung nicht vor den Augen der Öffentlichkeit, gewissermaßen auf der Straße erkennbar sein konnte. Und genau hätte Lea auch nicht sagen können, worin diese Wandlung im Konkreten bestehen sollte.
Vorerst hielt sich Lea hinter dem Baum weiterhin verborgen. Sie veränderte ihren Standort nur immer so weit, dass sie von den Liebenden nicht bemerkt werden konnte. Nach einer Weile kamen sie an Lea vorbei. Sie hielten sich nicht mehr an den Händen, berührten sich auch sonst nicht. Nach geraumer Weile trat Lea hinter dem Baum hervor und ging in gehörigem Abstand hinter den beiden her. Diese blieben plötzlich stehen, wodurch sie Lea zwangen, ebenfalls stehen zu bleiben. Sie küssten sich, aber wie es Lea schien, ziemlich flüchtig. Der Mann war es, der sich aus der Umarmung löste, weiterging und die Frau gleichsam an der Hand nach sich zog. Unerwartet rasch war der Weg, der aus dem Park heraus in die Stadt führte, zu Ende.“
Erstmals 1983 veröffentlichte Heinz Kruschel im Verlag Neues Leben Berlin „Meine doppelte Liebe“: Die neunzehnjährige Erle, deren Freund Matti zur Armee einberufen wird, lernt einen kubanischen Studenten kennen. Sie will Matti nicht weh tun und führt ein Doppelleben, das sie in Konflikte bringt. Als Orestes plötzlich nach Kuba zurückmuss, kümmert sich Erle nicht mehr um Studium und Prüfungen, dabei wäre sie gern Lehrerin geworden. Probleme über Probleme, aber Erle schlägt alle Hilfsangebote aus. Wir treffen Erle während einer Vorlesung im Hörsaal:
„1. Kapitel
Seine Berührung spüre ich noch. Manchmal, wenn mir einer sehr sympathisch ist, wünsche ich mir, er möge mich anfassen, mir die Hand geben oder die Hand auf meinen Arm legen. Nicht mehr leben möchte ich, wenn mich kein Mensch mehr berühren würde ...
Nun ist er weg. Ob er genug Socken mitgenommen hat? Vorn doziert Ernst, unser Lieblingsprofessor, er sieht mich an. Dreißig Prozent sollen die Arbeit verhauen haben. Sie müssen nachschreiben. Ich bin nicht dabei. Ich denke an Matti. Draußen ist Waschküchennebel. Mancherorts wird bei solchem Wetter Smogalarm gegeben. Matti wird inzwischen in der „Taiga“ sein und sich leid tun. Dreizehn Stunden ist es schon her. Er wird angekommen sein nach so langer Fahrt. Ich spüre noch seine Lippen und Hände und habe mich seitdem nicht gewaschen. Er ist losgezogen. Gezogen ist genau das richtige Wort, halb zog es ihn, halb … nein, es zog ihn ganz tüchtig. Er wurde gezogen, früh um fünf. Draußen der dichte Nebel, seine Mutter und ich in der Tür. Er Tränen in den Augen. Der Eingezogene ist rückwärtsgegangen und hat gewinkt, nach zehn Metern haben wir das Winken nicht mehr sehen können. Ich weiß von Willi, dass sie die Jungen manchmal vier Stunden lang warten lassen, bis der Zug abfährt. Ich hätte Vorlesung und Seminar geschwänzt, aber er wollte allein gehen. Ich hätte ihn souverän gemacht, denn er wirkte schwach und so traurig. Wie er im Nebel verschwand, das war ein Abschied wie im Kino. Frau Richards hat geweint. Ich habe nicht geheult, aber einen Schmerz in der Herzgrube habe ich gespürt. Die letzte Nacht haben wir kaum geschlafen, weil wir zwischen Himmel und Erde lagen. Gesprochen, geflüstert, damit seine Eltern nichts hörten. Aber sie wussten ja, das Mädchen ist bei ihm. Wir haben Pläne gemacht. Wohin fahren wir im Sommer, eine Rundreise durch das Land, mit der „Honda“ und dem Zelt, nach Bernburg an der Saale, wo Eulenspiegel geblasen haben soll, in den Spreewald, wo die Mücken so gekonnt stechen können, an die überfüllte Ostsee und nach Rostock, wo die Dichter in Schwärmen zusammenhocken. Und wir haben uns abgefragt. Weißt du noch, der erste Kuss und wie wir das erste Mal zusammen geschlafen haben. Geständnisse, die jeder schon kannte. Ich mag deine Brust, Erle. Ja, die verändert sich, wenn du sie streichelst. Ich möchte dich immer anfassen und die Uhr anhalten.
Ich fasse Matti gern an. So ein Typ bin ich. Die Menschen, die ich mag, die muss ich berühren, sie können siebzig sein oder erst sechs Wochen alt. Ich muss ihre Haut, ihre Wärme spüren. Aber vor denen, die ich nicht mag, ekele ich mich, wenn sie mich berühren. Meine Eltern müssen nicht unbedingt erfahren, wo ich die Nacht über war. Die sollen sich um ihren Hund kümmern, um den Chow-Chow Kurti. Ein Chow-Chow soll der treueste Hund unter der Sonne sein. Er stirbt, wenn er seinen Herrn verliert. Aber man bringt ihm keinen wirklichen Appell bei, ums Verrecken nicht, und dem dicken Kurti schon gar nicht, der liegt am liebsten auf seiner Hundehaut.
Matti soll nicht so durchhängen. Wenn sie Mädchen nehmen würden, ich hätte mich freiwillig gemeldet, natürlich nur für seine Einheit. In England soll es sogar einen weiblichen Admiral geben.
Ernst trägt heute wieder Strickhemd, Pullover und noch eine Weste unter dem Jackett, nun sieht er stämmig aus und ist dabei so dünn. Aber er verspritzt literweise Geist und flicht französische Sätze in die Rede. Dann hat er gute Laune. Ich passe nicht auf, weil ich nicht durchgerasselt bin, brauche demnach nicht zur Nachprüfung, muss überhaupt nicht zuhören, kann also Matti einen Tröstebrief schreiben.
2. November 1976 ...
war natürlich Quatsch, was ich Dir gestern gesagt habe. Ich meine, mit jedem Tag, den wir uns sehen, den Du da sein wirst, ist es wie einen Tag weniger dienen. Wir wissen, warum das alles, und vielleicht müssen wir es unseren Urenkelkindern mal erklären, wäre schön. Wir wissen, also sind wir frei. So einfach soll es sein? So einfach ist es nicht, ich fühle mich nicht so frei, obwohl ich weiß, warum Du wegmusstest. Eigentlich ist das mit dem „einen Tag weniger“ auch Quatsch. Man kann es auf das ganze Leben beziehen, und schon wird es pessimistisch. Denn mit jedem Tag, den wir leben, kommen wir dem Tod näher. Ich kann richtig doof sein! Ist mir eingefallen, als ich die Naht an Deiner Kutte genäht hatte. Und glaub nur, den Willi juckt es, dass Du nicht da bist, der tut nur so lax. Inzwischen wirst Du dort sein. Aber wo nur? Du hast Zivil ausgezogen und steckst in einer Uniform. Passt sie? Sicher nicht, bestimmt ist sie zu groß, die Ärmel zu lang und die Hosenbeine zu kurz. Du musst, wenn dieser Brief ankommt, in einem von Dir selber bezogenen Bett geschlafen haben, allein. Weißt Du, was mir an Dir so gefällt? Dass Du immer versuchst, aus einer Situation das Beste zu machen, auch wenn sie noch so verfahren ist. Das musst Du auch diesmal tun, Du darfst nicht schwach sein. Du darfst natürlich, aber Du musst bald darüber wegkommen. Ich mache es Dir nicht gerade leicht, und dabei will ich es tun. Gebe ja zu, dass mir vor Schreck der Daumen in die Hand fällt, wenn ich an die lange Zeit denke. Aber ein Schreck ist dazu da, dass er überwunden wird, horrido. Erst am Abend dusche ich heute, Du — und weißt Du, warum? So lange will ich den Geruch von Dir auf meinem Körper haben. Du, halt Dich schön senkrecht, tu Dir nicht leid, werde ein guter Mensch, Du Schuft, ich grüße Dich ganz lieb und küsse Dich ganz dick überallhin ...
2. Kapitel
Ernst, der Professor, sieht zu mir. Er wird nicht glauben, dass ich seine Rede mitschreibe, obwohl er sieht, dass ich schreibe. Ernst, du kannst mich heute mal ... Hoffentlich kommt bald Mattis erster Brief, wir haben ja die schnellste Post der Welt. Warum fallen mir bloß immer wieder die Socken ein? Ob er genug mitgenommen hat? Willi hat ihn gewarnt und gesagt, dass man nur zwei Paar bekommt, von denen ein Paar gleich in den Tornister muss. Strenge Sitten sind das.
Willi hat gesagt: Dann wirst du mit den Rechten und den Pflichten bekannt gemacht. Pflichten hast du sehr viele. Rechte gibt es auch. Dann kommt eine Grippeschutzimpfung. Und von da an, hat der Willi gesagt, wird jeder merken, dass die Armee ganz anders ist, als er sie sich vorgestellt hat. Es kommt die Enttäuschung und mit ihr die Um- oder auch Einstellung auf Einheitsessen. Jawohl. Wegtreten. Bitte eintreten zu dürfen. Gestatten, Genosse Leutnant. Bitte wegtreten zu dürfen. Dann kommt die wichtige Frage, ob die Unterwäsche in Weiß ausreichen wird.
Willi hat gesagt: Drei Kreuze kannst du bereits nach der Grundausbildung machen, mein Bruder Matti. Aber für solche Worte des Bruders Willi hatte Matti nur ein müdes Lächeln übrig. Er wird oft an ihn denken, das ist meine Meinung, Willi ist nämlich ein Praktiker vor dem Herrn.
Zur Vereidigung fahre ich hin. Ich freue mich heute schon. Wenn auch seine Eltern dabei sein werden. Es ist egal, die verstehen uns und gönnen uns eine Stunde, in der wir allein sein können.
Nun erinnere ich mich. Das ist das Wort der erfahrenen Menschen, die ein gewisses Alter erreicht und viel erlebt haben. Nun habe ich meine Erinnerungen an ihn, weil ich ihn nicht selber haben kann. Ich habe das Echo seines letzten Lachens und weiß, dass auch vergangenes Lachen nachscheppern kann. Gott, wie das klingt. Es fehlt nur, dass Tränen meinen Blick trüben. Erle, heule nicht.
Ich werde mich an diesen Zustand gewöhnen. Ich kann Matti nicht mehr anrufen, am Wochenende treffe ich ihn nicht an, ich weiß nicht einmal, wo er ist, weil die Wüste noch keine Anschrift hat.
Kitty will mich ablenken. Sie hat einen Block an die Wand genagelt. Er hängt zwischen unseren Schreibtischen. Jeden Tag soll eine von uns eine Erkenntnis daraufschreiben, hat sie verlangt, eine eigene oder eine fremde, zu der man selber stehen kann. Sie hat den Anfang gemacht: Für die eigenen Fehler ist man wie ein Maulwurf, für fremde Fehler wie ein Luchs, altes Sprichwort. Schöne Einsicht! Ob der Spruch von ihr stammt?
Nach drei Tagen der erste Brief von Matti. Anscheinend hat er gleich nach der Ankunft geschrieben. Das stelle ich mir so vor: Auf dem Flur brüllt der baumstarke Hauptfeldwebel, Männer mit solchen Dienstgraden müssen aus Gründen des Respekts immer baumstark sein, und die jungen, frisch eingetroffenen Knaben laufen hektisch los. Nur mein Matti nicht, der steht am Tisch und bückt sich tief, diese Haltung mag er nämlich beim Schreiben. Er teilt seiner Liebsten mit, und nun endlich beginne ich den Brief zu lesen:
... mit der Frisur hast Du Dich getäuscht wie ich. Kaum waren wir gegen neunzehn Uhr hier ... Also muss er tatsächlich vierzehn Stunden unterwegs gewesen sein, die haben auf jedem Rübendorf gehalten oder sind über Suhl gefahren.
... da wurde ich meine Haare los. Jetzt sehe ich vielleicht aus! Übrigens habe ich Zeit zum Schreiben, weil Stromausfall ist. Wir schreiben alle bei Taschenlampenlicht. Meine Illusion schmilzt wie Schokolade, die man auf die Heizung gelegt hat, von wegen, der schreibt, während ein baumstarker Hauptfeldwebel auf Alarm geschaltet hat, der schreibt nämlich, weil alle schreiben und ihm nichts anderes übrig bleibt. Dir würde es gefallen, dieses Licht, wenn wir allein sein könnten. Das aber dauert noch lange. Du, ich sehe aus wie Jimmi Hendrix kurz vor seiner Jugendweihe, hoffentlich gefalle ich Dir so noch ...
Er gefällt mir auch mit Glatze. Aber mein lieber Matti könnte ruhig persönlicher schreiben. Man kann einen Menschen mit einem Brief berühren.
Vielleicht geht es ihm zurzeit wie mir. Ehe ich in Gang komme — drei Stunden Sport könnten da was ausmachen. Überhaupt habe ich heute einen schönen Tag. Eine Arbeit, Lexikologie, voller Schuss in den Ofen. Aber nicht nur bei mir, ein Trost. Dann Leitungswahl mit den sinnlosen Diskussionen Duppes um des Diskutierens willen („Wir müssen uns selber provozieren, Freunde!“), ausgerechnet dieser Duppe. Dann Tütensuppe, für die ich verantwortlich war. Als sie schon duftete, kippte der Kocher um, alles spritzte voll. Jedenfalls waren da eine Menge kleiner Nudeln drin, die ich aufsuchen musste, viele kleine Buchstaben. Ich hätte hundertmal das Wort Matti zusammensetzen können und Dutzende Male den Satz: Du fehlst mir sehr. Wir brieten uns je ein Ei und durften Polök machen.
Der Brief ist ein Lichtstrahl. Ich lese und lese ihn immer wieder, aber es steht nicht mehr drin. Kitty hat den Marx immer noch nicht durchgeackert.
Nach drei Stunden, schon im Bett, stoße ich erst auf das Geheimnis: Ich habe Mattis
Briefumschlag auseinandergespielt und sehe, dass er von innen beschrieben ist, ganz klein. Mann, mir war wie Weihnachten. Matti ist ein Schlauer.
Ich stelle mir vieles vor. Ich möchte vor Dir liegen an einem Strand und über Deine Fußspitzen hinweg zu Deinem Gesicht sehen, über Deine Zehen, den Bauch und die Brüste bis auf Deine Stupsnase. Verrückt, was? Und Du hast nichts an. Und dann möchte ich auf Deinem Rücken liegen, Du hast einen sehr schönen Rücken, aber auch eine schöne Vorderseite. Wir kennen unseren Ovid. Ich kann hier vieles ertragen, weil ich Dich habe, weil es solche Bilder gibt.
Er ist richtig frech und macht mir Appetit. Von wegen Bauch, von wegen Stupsnase. Aber sonst, das wäre nicht schlecht, ich kenne das Spiel. Ich mag ihn sehr, aber komisch, denn das, was das Allerschönste sein soll, das Letzte, das Größte, von dem alle schwärmen, das habe ich noch nicht empfunden, und dabei weiß ich, dass er es immer empfindet. Warum ist es so?
Ich kann nicht mehr lernen, nun nicht mehr. Es geht auf Mitternacht zu. Eigentlich müsste ich drei Dutzend Verben, die einen bestimmten Fall verlangen, zusammenstellen und einpauken. Seitdem ich den Umschlag auseinandergespielt habe, ist es aus mit dem Lernen. Vor den Füßen liegen, ja, und dann kitzeln, das kenne ich.
Kitty schläft wie ein Dachs. Sie hat sich was einfallen lassen. Unsere Zimmertür sieht ganz toll aus. Von außen ein Plakat: Marx macht Macht! und sein Porträt, aber von innen, sozusagen Hinterkopf an Hinterkopf, Satchmo. Wenn das Licht aus ist, scheint durch die Glasscheibe Satchmos Grimasse, ganz unheimlich, und dazu der Löwenkopf von Karl Marx, dem Zweifler. Alles braucht eben seinen richtigen Platz. Die beiden passen zusammen. Ich glaube, sie hätten sich gut verstanden.
Nur zwei Jahre nach dem vorigen Buch erschien ebenfalls im Verlag Neues Leben Berlin „Das Mädchen aus dem Fahrstuhl“ von Gabriele Herzog: Das Mädchen aus dem Fahrstuhl ist anders als alle Mädchen, die Frank Behrendt kennt. Sie ist klug und schüchtern, verletzlich und sehr allein. Eine gute Schülerin aber ist sie nicht, darum will niemand Franks Liebe zu ihr akzeptieren. Und Frank, der immer als Klassenbester im Mittelpunkt stand, beginnt über sich nachzudenken. Ein ergreifendes Buch über Mut, Freundschaft, Toleranz, die erste Liebe und Vertrauen. „Das Mädchen aus dem Fahrstuhl“ wurde Anfang der neunziger Jahre von der DEFA in der Regie von Herrmann Zschoche mit Barbara Sommer als eben diesem Mädchen aus dem Fahrstuhl und Rolf Lukoschek als Klassenbester verfilmt. Drehbeginn war übrigens der 1. Dezember 1989 – und damit für sein Thema schon fast zu spät, um noch wirken zu können. Am Anfang des Buches scheint Frank allerdings kaum Notiz von dem Mädchen zu nehmen:
„1. Kapitel
Er hatte sie zum ersten Mal im Fahrstuhl gesehen. Morgens. Irgendwelchen Eindruck machte sie nicht auf ihn. Nie wieder hätte er sich an sie erinnert, hätte er nicht eine Stunde später mit ihr in einem Klassenzimmer gesessen. Aber das war schon nach dem Appell.
Diese Appelle! Er hat sie nur zu gut im Gedächtnis. Er stand unter der Fahne, neben ihm der Direktor, der stellvertretende Direktor und so fort. Vor ihm seine Mitschüler. In einem schönen Viereck, exakt ausgerichtet. Und brav anzuschauen, jedenfalls von seinem Standort aus. Aber ihm brauchte keiner was zu erzählen! Von wegen „brav“! Trotzdem. Er wollte in diesen Augenblicken nicht tauschen, mit keinem. Denn er war der King. Er, kein anderer. Nur er war wichtig. Die vor ihm standen, aufgereiht, die waren es nicht. Da konnten doch getrost zehn fehlen oder zwanzig. Solchen Mist hatte er sich eingebildet. Das muss man mal zu Ende denken. Totaler Krampf. Als ob nicht jeder Idiot dem Direktor hätte melden können, dass die Schüler zum Appell angetreten waren.
Er kann nie vergessen, wie super er sich damals fand. Gerade bei diesen Appellen. Er war überzeugt, niemand hätte es besser gekonnt, würdiger. Ob man's glaubt oder nicht. Würdig! Schon dieses Wort. Was ist heutzutage nicht alles würdig? Auch Atmosphären sind mitunter würdig. Unzählige Halstücher, Urkunden, Mitgliedsbücher werden in „würdiger Atmosphäre“ übergeben. Was das genau sein soll, kann wahrscheinlich niemand sagen. Vielleicht ist auch würzig gemeint? In würziger Atmosphäre. Geht doch auch. Weihnachten zum Beispiel ist die Atmosphäre würzig, und was das bedeutet, weiß jedes Kind. Nach diesem Appell jedenfalls kam die Pippig mit Regine in die Klasse.
Er war erstaunt, das Mädchen aus dem Fahrstuhl wiederzusehen, und stieß Micha in die Seite. Der lernte gerade seinen hundertsten Schaltplan auswendig, kam also vom Mond. „Die wohnt bei uns im Haus.“
Micha setzte seine Brille auf, schaute nach vorn, setzte die Brille wieder ab. „Das hat sie frei.“
Und die Pippig sagte: „Wir haben eine neue Mitschülerin bekommen. Ihren Namen wird sie uns gleich selbst verraten.“
Herrje! Die Pippig und ihre Eiapopeia-Art. Sah die nicht, dass das Mädchen nur eins wollte, nämlich sich hinsetzen. Aber nein, die Pippig ließ sie da vorn stehen. Natürlich glotzten alle blöd, schließlich waren Sensationen in der Schule nicht häufig. Und dann sollte Regine auch noch ihren Namen sagen. Als ob man so einfach seinen Namen nennen könnte! So wie guten Tag oder Dankeschön. Ihm trocknete die Zunge an, wenn er irgendwo seinen Namen sagen musste. Wobei mit Namen wirklich Name gemeint war. Also der volle, vollständige, so mit Vornamen und Familiennamen. Das schaffte er nie, laut und deutlich, so wie es sich für einen anständigen Menschen gehört: Frank Behrendt. Warum, wusste er selbst nicht. Dabei gab es an dem Namen nichts auszusetzen. Ein Höhepunkt war er gerade nicht, und das war gut so. Enrico Meyer, Yves Blaschke oder Moritz Agamemnon Reinicke (er kannte das arme Schwein persönlich) — das hätte ihn erledigt.
Regine hauchte etwas in die Klasse. Und die Pippig sagte prompt: „Sie müssen schon etwas lauter sprechen!“ Es hätte ihn maßlos erstaunt, wäre der Satz ausgeblieben. Vielleicht ließ die Pippig sie auch noch ihren Namen buchstabieren oder an die Tafel schreiben. Regine sagte dann mit ziemlicher Anstrengung: „Regine Erdmann.“ Die Hälfte der Klasse lachte, warum, würde immer ihr Geheimnis bleiben. Er begriff, das Mädchen da vorn hatte die gleichen Schwierigkeiten beim Namensagen wie er selbst. Irgendwie machte ihn das froh. Knallrot setzte sich Regine auf einen freien Platz. Gern hätte er sich zu ihr umgedreht. Einfach so, zur Aufmunterung, weil er verstand, wie beschissen ihr zumute war. Bloß wer macht so was schon?
Aber die Geschichte zwischen ihm und Regine fing ganz anders an. Keineswegs mit Sympathie, fast mit Krach. Wobei angemerkt werden muss, dass dieser „Krach“ nichts weiter war als ein missbilligender Blick, den er von Regine bekam. Er kann sich deshalb daran erinnern, weil dieser Blick ihn ziemlich getroffen hatte und weil er über ihren Mut erstaunt war. Schließlich war er nicht irgendwer in der Klasse. Aber es war kein Mut, sondern die Unfähigkeit Regines gewesen, sich zu verstellen. Ihr Gesicht gab jedem preis, was sie über die Leute dachte. Bloß das konnte er nicht wissen.
Nachdem Regine sich gesetzt hatte, erzählte die Pippig was von einer Fahrt nach Rostock, auf die Werft und so, an der die besten Schüler der Klasse teilnehmen sollten. Sie sagte: „Ich schlage Frank, Sibylle, Peter, Elke, Heike und Karin vor“, und wartete auf Zustimmung. Diese blieb aus, und die Leute fingen an zu maulen. Die Pippig war irritiert. Ihn ließ die Angelegenheit zunächst völlig kalt. Wenn die Besten fahren sollten, dann mussten die Besten fahren. Insofern war gegen die Vorschläge nichts einzuwenden. Trotzdem reagierte die Klasse sauer. Die Pippig forderte Ruhe und Erklärungen.
„Nicht alle durcheinander. Und wir melden uns!“ Natürlich meldete sich niemand. „Wenn euch meine Vorschläge nicht gefallen, bitte ich um andere. Vielleicht habe ich mich geirrt. Wer gehört denn eurer Meinung nach zu den Besten?“
Denzelmann stand auf. „Sie haben sich nicht geirrt. Das sind schon die Besten. Bloß, warum sie auch fahren sollen, weiß ich nicht.“
„Sind immer die gleichen!“, brüllte Schulze von hinten. Ihm begann die Sache auf den Docht zu gehen. Hier hatte sich doch keiner vorgedrängelt oder selber vorgeschlagen. Tante Lehrerin, ich will mitfahren. Und überhaupt hatten die sich doch sonst nicht so. Die wahre Pracht war Rostock ja nun auch nicht. „Enrico, nach welchen Kriterien würden Sie denn die Schüler aussuchen?“
„Vielleicht, wer sich am meisten für so was interessiert“, antwortete Denzelmann, „und Ralph sollte mit, weil er zur See will.“ Die Klasse bekundete Zustimmung.“
Erstmals 1993 erschien im Verlagshaus Thüringen der Roman „Das Goldland des Salomo“ von Dietmar Beetz: Er hatte den Großteil seiner Ausrüstung zurückgelassen. Nicht nur die Tauschwaren, die er noch besaß, auch das meiste von seinem eigentlichen Gepäck, so den Schnappsack, die Wolldecke, den Regenschirm. Behangen mit einem gefüllten Wasserschlauch und mit der doppelläufigen Flinte, marschierte er in die empfohlene Richtung. Ringsum war es still wie oft in der Mitte des Tages. Kein Vogelgezwitscher, kein menschlicher Laut, nur das Zirpen einzelner Zikaden. Hätte Mauch nicht gewusst, dass sich da und dort eine Siedlung befand, der Landstrich wäre ihm trostlos entlegen und öde erschienen. Und plötzlich verspürte er wieder Zweifel: In dieser toten Gegend - das einstige Ophir, das Goldland des Salomo? Die Expeditionen des legendären biblischen Königs sollten vor nahezu dreitausend Jahren, nachdem sie das Rote Meer passiert hatten und bis in die Höhe von Madagaskar gesegelt waren, auf dem afrikanischen Kontinent noch einmal Hunderte Kilometer vorgedrungen sein, hierher, um Gold einzutauschen oder zu erbeuten und es schiffladungsweise nach Jerusalem zu schaffen? Während Karl Gottlieb Mauch in Südafrika als „Vater des Bergbaus” in die Lehrbücher einging, geriet er in Deutschland fast völlig in Vergessenheit. Als der Roman beginnt, da ist Mauch allerdings noch nicht in, sondern noch vor Afrika, auf einem Schiff:
„Erstes Kapitel: EIN SEGELSCHIFF VOR PORT NATAL
Gut sechseinhalb Jahre vorher, am Abend des 11. Januar 1865, näherte sich die „Leeuwenhoek”, ein Dreimastschoner aus Rotterdam, der Reede vor Durban. Das Schiff war gezeichnet von den Strapazen der Fahrt entlang der westafrikanischen Küste und vom Kampf mit den Stürmen am Kap, doch sah es zu diesem Zeitpunkt noch leidlich intakt aus.
Karl Mauch, Steward und Hilfskoch, pendelte seit Stunden zwischen Kombüse und Deck hin und her. Sobald das Schiff anlegen würde, war seine Heuer, die Arbeit für Kost und freie Fahrt, zu Ende, aber nicht nur deshalb trieb es ihn jetzt wieder zum Kapitän, mit dem er sich während der Reise angefreundet hatte.
„Geschafft!“
Van Rijk wiegte den Kopf. „Abwarten!“
„Du meinst die Brise, die aufgekommen ist?“
„Genau. Eine Brise. Noch.“
Er warf einen Blick voraus, wo bereits drei Schiffe, heftig dümpelnd, vor Anker lagen. Dahinter, versperrt durch eine von Gischt markierte, bei Ebbe unpassierbare Barre, begann die Einfahrt zum Hafen, links flankiert von einem steilen, üppig bewachsenen, wie ein Bollwerk vorragenden Berg. Zwischen den Klippen an seinem Fuß - das Wrack eines Schiffes. Mauch starrte hin, bevor er den Blick hob. Den Leuchtturm auf der Kuppe des Berges und den Mast der Signalstation hatte er schon von See aus bemerkt. Nun aber stutzte er. Es war, als lege sich ein Schleier auf die Farben der Flagge, als verschwimme der weiße wuchtige Turm in dunstigem Grau.
Das Barometer am Kompasshaus war, den Worten des Rudergängers zufolge, in der letzten Stunde zwei Strich gefallen. Ein Kommando des Kapitäns, und Matrosen refften die Segel, soweit sie das Tuch nicht schon vorher eingeholt hatten. Über ihren Köpfen, dicht über Rahen und Toppen, jagten Wolken, die der Wind böig-peitschend von See herantrieb. Der Kapitän befahl, den Anker zu werfen. Er musste dabei die Stimme heben, um den Aufruhr in den Lüften zu überschreien, und dann ging das Rasseln der Ankerkette unter in Fauchen und Donnergrollen. Bald folgten Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag. Über der See barst die Wolkendecke, entleerte sich sturzartig - eine Wand aus schrägen Güssen, die sich heranschob.
„Na, noch der Meinung, wir hätten’s geschafft?“ Der Kapitän, in Ölzeug, war stehengeblieben bei Mauch, und der erwiderte: „Was kann uns hier schon groß passieren?“
„Hast du eine Ahnung! Überhaupt: Geh lieber unter Deck! Oder zieh dir wenigstens was über!“
Sturmböen, Vorreiter des Wolkenbruchs, rissen ihm die Worte vom Mund, und Mauch beeilte sich, den Rat zu befolgen. Er lief zum Niedergang, sprang, drei, vier Stufen auf einmal nehmend, hinab, griff in der Kajüte, wo sich seine Hängematte und seine Habseligkeiten befanden, nach Südwester und Ulster. Ein Ruck ließ ihn wanken, sich abstützen. Sekundenlang krängte das Schiff nach Backbord. Irgendwo Klirren, Gepolter, Geschrei ...
Mauch stülpte sich den Südwester auf den Schopf und zog, zurückhastend, den leinölgetränkten, wasserabweisenden Mantel über. Er fühlte sich zwar als Laie in Sachen Schifffahrt, glaubte aber zu ahnen, was eben passiert war. Und dann stand er an Deck im niederpeitschenden Regen, hörte Befehle des Kapitäns, sah Matrosen an den Wanten und an den Rahen. Wo waren die anderen Schiffe? Von Reede verschwunden? Er erblickte sie achtern; vorn, trotz der Regenschleier und trotz der einsetzenden Dämmerung erkennbar, erhob sich jener Berg, ragte das Wrack, bedrohlich nah schon, aus brodelnder Gischt. Die Ankerkette gerissen, also doch, und nun trieb die „Leeuwenhoek”, trieb, geschoben vom Sturm, Richtung Klippen.
Pfiffe aus der Signalpfeife, die der Kapitän bei Unwetter benutzte, und Mauch sah, wie der Rudergänger das Steuerrad bewegte. Träge drehte sich der Bug nach Backbord, weg vom Land, weg von den Klippen, der See zu. Da aber kam der erste Brecher über, und Mauch, der neben der Kapitänskajüte stand, musste sich festhalten. Er warf einen Blick hinüber zur Gischt, die in der Dämmerung zu leuchten schien, und hörte im Getöse, das ihn umgab, das Klatschen des Focksegels, das sich endlich entfaltet hatte.
Klar zur Wende! Raus auf die offene See! Weg von den Klippen, von der Barre, die den Hafen versperrte, von den anderen Schiffen auf Reede, und - verdammt! - weg auch von Afrika!“
Erstmals 1980 veröffentlichte Erich-Günther Sasse im damaligen VEB Hinstorff Verlag Rostock „Der Brunnen – Roman einer Kindheit“: Als Jean, der Franzose, zurück nach Nizza gegangen ist, am Ende des großen Krieges, sind keine Männer mehr auf dem Hof, dort in Wallkau, jenem Dorf auf dem platten Lande zwischen großem Fluss und eiszeitlichem Hügelland. Die Erde ist fruchtbar, und nicht zählbare Generationen haben sich das Brot von ihr geholt. Nun müssen drei Frauen alles allein machen. Der Bauer ist tot, und auch von zwei Söhnen sind nur die Namen geblieben für den Enkel: Karl-Ludwig. Lange wird es dauern, bis die alte Grafe versteht, dass eine Zeit, gemessen nach Jahrhunderten, unwiderruflich zu Ende ist. Erst sträubt sie sich und kämpft, und ihr Stolz will nicht brechen und ihre Hoffnung nicht vergehen auf die Beständigkeit des Vergangenen: Karl-Ludwig soll der Erbe sein und alles so werden, wie es vielleicht nie war. Selten nur kann die alte Grafe den Rücken gerade machen und über die weiten Felder sehen bis zum Horizont. Und Erna, die Tochter, wird das Land ihrer Sehnsucht nicht erreichen. Und Frieda, Schwester und Magd, wird das Glück der eigenen Familie auch auf ihre alten Tage nicht mehr verspüren. Dreimal wird gefeiert: Karl-Ludwigs Taufe, da ist sogar sein Vater noch am Leben, die Hochzeit Franzens, der ein Versager ist, und später, schon nicht mehr ein dörfliches Fest, die bescheidene Hochzeit Karl-Ludwigs. Der kann nicht der Erbe sein und ist es doch. Das weiß die alte Grafe, als sie stirbt.
Erich-Günther Sasse schlägt mit diesem Buch, angefüllt mit Lebensläufen und Schicksalen, Träumen und Tatsachen, Komischem und Ernstem, unbekannte Seiten einer Chronik auf, in der Weltveränderndes vermerkt ist. Nicht aber bekannte geschichtliche Tatsachen sind sein Thema, sondern vielmehr die schlichte und wahrhaftige Schilderung von deren Wirkung auf Veränderte und Betroffene, von denen er wohl selbst einer ist. Der erstmals 1980 im Hinstorff Verlag erschienene Roman wurde von der Stasi stark kritisiert. Er sei – so hieß es damals inoffiziell – „... in seinem wesentlichen Inhalt nach offenkundig von einer feindlichen Position aus verfaßt und geeignet, antikommunistische Haltungen auszulösen bzw. zu verstärken. Seine Förderung und Herausgabe ist objektiv unverantwortlich im Sinne sozialistischer Kulturpolitik und ihrer Prinzipien.“ Joachim Nowotny dagegen empfahl das Buch seinen Studenten am Leipziger Literaturinstitut als Lektüre. Das kritische Buch erlebte in der DDR drei Auflagen. Dem E-Book wurde der Auszug aus der Stasiakte und die Rezension von Joachim Nowotny angefügt. Möge der Leser entscheiden! Seinem Buch hat der Autor eine aufschlussreiche Erklärung vorangestellt: „Die Figuren in diesem Buch sind Produkte der Fantasie. Jede Übereinstimmung mit lebenden oder toten Personen, tatsächlichen Orten und Geschehnissen kann nur zufällig sein.“ Dieser Erklärung folgen ein Vorspann und das erste Kapitel, in dem auch Gänse geschlachtet werden – allerdings zu unpassender Zeit:
„Vorspann
Man kann die Stadt wechseln, aber nicht den Brunnen.
(Chinesisches Sprichwort)
Es ist Zeit, drängt mich der Teil meines Ichs, der vielleicht mein Gewissen ist, das manchmal die Züge der alten Grafe trägt: Es ist an der Zeit, aufzuschreiben, was war, bevor die Letzten sterben. Zeit ist es, zu reden über Wallkau, das mein Zuhause ist. Ganz gleich, wo ich gerade bin, ganz gleich, was ich tue, ganz gleich, wo ich sein werde.
Immer wird die alte Grafe, meine Großmutter, am Fenster ihrer Stube stehen und mich ansehen mit ihren vertrauten Augen. Mit ihren vertrauten Händen wird sie winken. Immer werde ich mich an den Geruch in ihrer Küche erinnern. Nach Kamille, die unter dem Fensterbrett zum Trocknen hing. Nach Reseda. An die ins Fenster fallende Sonne. An die schlurfenden, humpelnden Schritte der alten Grafe.
Den Gesang dieses Hauses, der mir die Erinnerung leicht werden lässt. Eine Erinnerung voller Hoffnung, ohne die ich nicht leben könnte. Wallkau war ein Dorf von zweihundert Seelen, das im platten Land lag, ungefähr dort, wo die Saale in die Elbe fließt, dreißig Kilometer von der großen Stadt entfernt und gut zweihundert von Berlin. Eine Teerchaussee führte in die kleine Stadt, und mehrere Feldwege verliefen sich zwischen den Äckern. Generationen von Bauern hatten die dichten Wälder abgeholzt und Gräben gezogen, die das Wasser von den Feldern leiteten.
Von alters her gab es in Wallkau einige große Höfe, ein paar mittlere und viele Leute, die nichts besaßen. Es gab Neid und Streit, aber alle waren davon überzeugt, dass Wallkau der wichtigste Ort der Welt sei und schon immer gewesen war. Viel wichtiger als Leiwitz und die kleine Stadt und als die Kreisstadt sowieso. Grafes Hof war nicht der größte, aber auch lange nicht der kleinste. Ställe, Scheunen und das Wohnhaus, dessen sechsfenstrige Vorderfront zur Straße sah, bildeten ein Viereck. Genau in der Mitte des Vierecks befand sich der Brunnen. Ein tiefer Brunnen mit gutem, gesundem Wasser, der auch bei der größten Trockenheit nicht versiegte.
1. Teil
1. Kapitel
An einem Apriltag des Jahres vierundvierzig, der große Krieg dauerte fast fünf Jahre, saßen die alte Grafe und Frieda in Grafes Waschküche. Jede der Frauen hielt auf ihren Knien eine fast fertig gerupfte fette Gans.
Um diese Zeit werden keine Gänse geschlachtet. Aber Grafes hatten eine Gans, die sich jedes Frühjahr auf ihre Eier setzte und Gössel aufzog, wie andere, normale Gänse das tun. Im Herbst fing diese wunderliche Gans noch mal an, mit ihrem Ganter schönzutun. Letzten Oktober hatte sie sieben Gössel ausgebracht, mit denen nun geschehen war, was das Schicksal der Gänse ist.
Frieda strahlte die Schwester an: Nun sind die Russen bald kaputt! sagte sie und wischte mit dem Handrücken ihre rote Nase ab.
Wie kommst du denn darauf?
Ach, nur so.
Die alte Grafe wusste, dass Frieda manchmal die absonderlichsten Gedanken hatte: Du bist doch bescheuert! Hätte sie vielleicht sagen sollen, dass Erna, ihre Tochter, manchmal Radio London einstellte, nicht ohne vor alle Schlüssellöcher Topflappen zu hängen? Vielleicht, dass sie selbst, die alte Grafe, vor Angst, ihre beiden Söhne könnten auch noch fallen wie ihr zweitjüngster, jede Nacht wach lag und betete: Lass sie leben, lieber Gott, bitte, bitte! Was du bloß immer redest. Frieda war gekränkt und biss auf ihren Lippen herum.
Erna kam in die Waschküche. Sie war schmal und blass und hatte tiefe Ringe unter den Augen.
Ist Post gekommen? fragte die alte Grafe und sah auf.
Erna schüttelte den Kopf und schluckte.
Wieder nichts, murmelte die alte Grafe, wieder nichts, ich versteh das nicht!
Erna stellte sich neben ihre Mutter und schwieg. Sie sah auf die roten, knochigen Finger, die Federn aus der fetten Gänsebrust rupften und in eine Schüssel fallen ließen.
Ich weiß nicht, sagte die alte Grafe. Ihre Stirn wurde faltig, das Gesicht verzog sich zu einem verlegenen Lächeln: Wenn wir nur heil davonkommen!
Hör mal, Frieda wippte aufgeregt mit dem Fuß, an dem ein Holzlatschen hing, damals in Hamburg ...
Hättest ja dableiben können, fuhr die alte Grafe sie an.
Ohne mich, sagte Frieda, wärt ihr hier nie fertig geworden, aber das wird ja nicht gesehen.
Die alte Grafe lachte, und Frieda starrte die weiß gekalkte Wand an. Mit ihrer rechten Hand strich sie über den Verlobungsring an der Linken, der war ganz schmal geworden im Laufe der Zeit. Hamburg, dachte sie, ach, Hamburg! Hier wischte sie Fußböden und wusch die große Wäsche, ach, Hamburg! Sie sah, dass Erna einen dicken weißen Brief mit amtlichem Stempel auf den Dämpferrand legte und die Finger auf ihren Mund drückte.
Erna ahnte, was in dem Brief stand, deshalb hatte sie nicht den Mut gehabt, ihn zu öffnen, und sie wagte nicht, die alte Grafe anzusehen. Sie lief aus der Waschküche. Auf dem Hof blieb sie stehen. Sie hörte ihre Mutter fragen: Was war denn mit Erna? Sie hörte Frieda sagen: Ich hatte da ganz andere Aussichten, jawohl, das kannst du dir endlich merken! Und die alte Grafe: Ja, einem Verheirateten bist du auf den Leim gegangen, das haben wir gesehen.
Dann war es still. Vielleicht eine Minute, vielleicht zwei. Als die alte Grafe zu schreien anfing, hielt Erna sich die Ohren zu und lief ins Haus.“
Es sind sehr bewegende, schicksalshafte Geschichten, die da in den sechs Angeboten des aktuellen Newsletters der EDITION digital erzählt werden – egal, wo und wann sie auch immer spielen. Sie machen uns mit fremden Leben bekannt, die einem näherkommen und auf wundersame-wunderbare Weise fast zu eigenen Erfahrungen und Erlebnissen werden. So als wäre man selbst dabei gewesen und hätte Elli, Lea, Frank und Regina, aber auch Karl Mauch und die Frauen aus Wallkau persönlich gekannt. Und tatsächlich kennen wir sie jetzt ein bisschen genauer …
Viel Spaß beim Lesen und weiteren Kennenlernen, immer noch weiter einen schönen „Jahrhundertsommer“ und bis demnächst.
Und im Übrigen sollen Sammler und Zeitungsleser zu den glücklichsten Menschen der Welt gehören. Bücherleser wohl auch. Und Himmelssammlerinnen und Himmelssammler sowieso. Also, worauf warten Sie noch?