Zwei Amerikakrimis per Zeitungsausschneidedienst, drei Liebesgeschichten und ein Baumeister – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 03. 05. 2019) Es gibt sehr unterschiedliche Arten, wie man einen Krimi schrieben kann. Eine der ungewöhnlichsten davon dürfte die Hilfe eines Zeitungsausschneidedienstes sein – so geschehen Mitte bis Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der DDR. Die Ergebnisse sind in den ersten beiden Deals der fünf Deals der Woche nachzulesen, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 03.05.19 – Freitag, 10.05.19) zu haben sind. Es handelt sich um die beiden spannenden Krimis „Tödliche Jagd“ und „Deckname Condor“ von einem gewissen John U. Brownman, der aber gar kein Autor ist, sondern zwei. Und was das alles mit dem bereits erwähnten Zeitungsausschneidedienst zu tun, dazu mehr weiter unten.
Drei Liebesgeschichten erzählt Jutta Schlott in „Roman und Juliane“.
Mit dem Leben und Schaffen des Ludwigsluster Baumeisters „Johann Hinrich Preßler 1718-1789“ befasst sich Friedrich Preßler.
Außerdem präsentiert der aktuelle Newsletter wieder ein Angebot zum Supersonderpreis von 99 Cents.
Und damit nach Amerika, genauer gesagt in die USA.
Erstmals 1988 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Tödliche Jagd“ von John U. Brownman – das ist das Pseudonym für Hans-Ulrich Lüdemann und Hans Bräunlich. Lüdemann schreibt dazu: Hier und heute können wir uns outen: etwa Mitte 1985 kamen meinem Co-Autor Hans Bräunlich und mir die Idee, mittels Krimis den jugendlichen Lesern in der DDR etwas über die USA - Geografisches und Alltägliches - nahezubringen. Und um glaubwürdiger zu wirken, wählten wir ein Pseudonym, indem wir Teile unserer Namen pur übersetzten. Der Schriftsteller John U. Brownman war geboren. Ehrensache war, dass nicht nur auf unsere Fantasie gesetzt wurde: In jedem der auf zehn Bände konzipierten Krimi-Reihe sollte Wissen über einen weltbekannten US-Schriftsteller vermittelt werden. Die Fakten des Alltags lieferte der VEB Globus - ein Zeitungsausschneidedienst, der als Dienstleistung dem jeweiligen Kunden monatlich deutschsprachige Artikel zu angesagten Themen wie Kriminalität oder Alltagsgeschichten in den USA oder Kuriosa in aller Welt zuschickte. Alles, die notwendige staatliche Befürwortung und auch die Bezahlung leistete der Kinderbuchverlag Berlin. Nebenbei: Prominente DDR-Bürger, Künstler oder Sportler, nahmen den VEB Globus unter Vertrag, um sich Pressebeiträge für die Selbstdarstellung ihrer Persönlichkeit zukommen zu lassen. Also, an authentischem US Material mangelte es nicht. Als ersten unseren Krimi begleitenden Autor legten wir Jack London fest. Die entsprechende Lokalität war San Francisco und Umgebung. Wir verabredeten die Story - meine Aufgabe war es, eine diskussionswürdige Vorlage zu schaffen, die letztlich Hans Bräunlich mit mir zu einer Druckfassung formte. Die Story handelt grob umrissen vom Gewerkschaftsfunktionär Tom Eden, der den Betrügereien an ausländischen Hafenarbeitern seinen Kampf ansagt und schließlich eliminiert wird. Gemeinsam mit einem Schwarzen, dem ehemaligen Angehörigen der Green Berets, Anthony Lincoln, gelingt es Mike Eden, dem 12-Jährigen Sohn des ermordeten Gewerkschafters, Licht in die dunklen Geschäfte des Syndikats zu bringen. Obwohl beide über wohlmeinende Helfer verfügen - am Ende stehen sie allein einer Übermacht gegenüber und sie müssen Hals über Kopf vor den Killern der Organisierten Kriminalität fliehen. Eine wichtige Rolle spielt in dem aktionsreichen Krimi der Deutsche Schäferhund Ringo, dem der an Bord seiner Jacht in die Luft gesprengte Gewerkschaftsboss zu Lebzeiten eine entscheidende Funktion hinsichtlich der geheimnisvollen Videokassette Nummer sieben zugedacht hatte. Obwohl zwei Auflagen - die gebundene betrug 12 000 Exemplare; 60 000 Exemplare waren es als gleichnamiges Taschenbuch - vergriffen waren, gefiel es einem von der Treuhand eingesetzten Verlagschef, diesen überaus erfolgreichen und spannenden Titel abzusetzen. Seine dümmliche Begründung uns Autoren gegenüber lautete seinerzeit: Tödliche Jagd (San Francisco & Jack London) und Deckname Condor (New York & Edgar Allan Poe) hätten sich nicht verkauft! Dazu passt eine Begebenheit, von der ich telefonisch Kenntnis durch meine langjährige Lektorin Hilga Cwojdrak erhielt: Ein Rezensent habe sich beim Verlag beschwert, dass es ein fragwürdiges Gebaren sei, Lesern von Tödliche Jagd den Namen des Übersetzers aus dem Amerikanischen zu unterschlagen. Um einen Eindruck von den beiden spannenden Büchern zu bekommen, präsentiert dieser Newsletter jeweils das erste Kapitel der beiden Krimis. Hier ist der Anfang von „Tödliche Jagd“:
„Wenn jemand ernsthaft behauptet, dass Mike Eden sich an diesem Sonnabend woanders wohler fühlen würde als in der kleinen Bucht der Richardson Bay, wenige Meilen südlich von Sausalito, dann ist er ein verdammter Lügner. Schließlich hat Mikes Vater ihn das erste Mal zu einer Wochenendtour mitgenommen. Bei Sausalito wassert nämlich Tom Edens schnittige Motorjacht AGATHA. Bislang war der Fünfzigjährige stur wie ein Fels gewesen, wenn sein Sohn ihn bat, zum Angeln mit hinausfahren zu dürfen. Aber irgendwann hatte der Mann sich hinreißen lassen, sehr gute Leistungen, die den weiteren Besuch der in Kalifornien bekannten und anerkannten privaten Hockley High School ermöglichen würden, als eine Art Jachtzoll festzusetzen. Und nun also hat Tom Eden wohl oder übel sein Wort einlösen müssen.
Die Lehrer würdigten Mikes Aufmerksamkeit und Fleiß in den meisten Unterrichtsfächern mit den bestmöglichen Prozenten! Aber - Ehre, wem Ehre gebührt - wenn von Wohl oder Übel die Rede tatsächlich gewesen sein sollte - dem Vater ist äußerst wohl bei der Erfüllung seines Versprechens! Um noch eins draufzusetzen, macht Tom Eden das Glück des Jungen vollkommen: Auch für Ringo gilt die Erlaubnis, an der Wochenendangeltour auf der AGATHA teilzunehmen! Und als ob der außerordentlich kräftige Deutsche Schäferhund-Rüde diese Ausnahme erkennt oder anerkennen will - sein Benehmen ist an diesem Tag einwandfrei. Bislang jedenfalls.
Der Zwölfjährige wirft verstohlen einen Blick auf das linke Handgelenk. Wenn sein Daddy großzügig ist, ist er es mit allem Drum und Dran! Zwei Uhr sieben Minuten und dreiunddreißig Sekunden zeigt die ladenneue CASIO-DATA-BANK Armbanduhr. Superspeicher mit zwölfstelliger Anzeige für Telefonnummern! Stoppuhr! Timer ... Mike Eden seufzt überwältigt vor Stolz und Glück, endlich Besitzer einer solchen Uhr zu sein.
Und doch stehen im Augenblick düstere Wolken über dem Liegeplatz der AGATHA. Nein, am Wetter hapert es nicht. Wenn es schöne Monate in diesem kalifornischen Landstrich gibt, dann sind es August, September, und Oktober. Tag für Tag Sonnenschein. An dem ansonsten oft geschmähten, am himmlischen Wettermanager Mr. Petrus kann also niemand seinen Zorn auslassen. Ein anderer Mann, der mit beiden Beinen auf der Erde steht, ist dabei, zumindest Tom Eden den gewohnten Wochenendsport zu verderben. Ob er will oder nicht.
„Man hat Sie gewählt, Tom, dass Sie den Bossen kräftig in die Suppe spucken! Stattdessen setzen Sie sich mit feinster Serviette auf den Knien bei diesen Herrschaften zu Tisch!“
Die Pause im Streit der beiden Männer verursacht bei Mike Eden ein Kribbeln in der Magengegend. Der Junge hat berechtigte Angst, dass sein Vater die Beherrschung verliert. In der letzten Zeit reagiert Tom Eden überaus empfindlich. Auch die Mutter hat darunter zu leiden. Irgendetwas scheint seinen Dad zu bedrücken, ahnt Mike. Aber was?
„Noch eine solche Bemerkung vor den Ohren meines Jungen, Lincoln, und ich sorge dafür, dass du die längste Zeit im Hafen einen Job bei der Sicherheit hattest. Dann kenne ich keine Rücksichten mehr. Auch nicht wegen Jonathan.“
Mike lauscht auf. Jonathan heißt der Bruder. Oder besser - das war der Name des älteren Bruders gewesen, der in Grenada gefallen ist. Und seitdem hat dieser stämmig gebaute Schwarze Anthony Lincoln öfter die Familie Eden zu Hause besucht. Aber da er sich nur mit den Eltern abgibt, vornehmlich mit der Mutter stundenlang spricht, hat Mike den Schwarzen nicht weiter zur Kenntnis genommen. Zumal ihm scheint, der Vater legt keinen Wert darauf, dass sein Sohn diesen Anthony Lincoln näher kennenlernt.
„Okay, Tom“, redet Lincoln auf Mikes Vater beruhigend ein. „Ihre Weigerung im Herbst 83, diese verdammten Pershings auf die ALEMANIA EXPRESS nach Europa zu verladen - da waren Sie voll am Wind, Mann! Gemeinsam mit den Schauerleuten! Ihr überraschender Wahlsieg geht voll in Ordnung, meinen die Docker. Wir gönnen Ihnen auch das feudale Haus in den Pacific Heights auf Gewerkschaftskosten. Aber diese Sache jetzt, Mann, lässt sich nicht steuern wie Ihre Motorjacht AGATHA: Das Ruder nach rechts legen, wenn Sie links anlegen wollen! Falls Sie das verstehen, Tom?!“
„Danke für die Belehrung. Da muss also erst einer kommen, den die Green Berets aus ihren Reihen gestoßen haben? Um mir klarzumachen, wie ich die Gewerkschaftsarbeit in Oakland aufzuziehen hätte? Ich habe doch deutlich gesagt, dass ich nach wie vor gegen den Einsatz von Leiharbeitern als Streikbrecher bin.“
„Das genügt nicht, Mann! Kriegen Sie nicht mit, dass Sie zwischen Baum und Borke sitzen? Sie hängen quasi in der Luft zwischen diesem Steg und Ihrem Apfelsinenkahn!“
Nicht nur Mike braucht Zeit, bis er das letzte Wort verdaut hat. Dieses Boot baute sein Vater, als an die hohen Einkünfte als hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär gar nicht zu denken war! Von Hause aus ist der gebürtige Chicagoer Bootsbauer. Mit abgeschlossener Lehre auf einer Werft am Michigansee. Eine Art Holzwurm also. Wenn der Vater das hinzusetzt, ist stets gute Laune angesagt. Ganz im Gegensatz zu dieser Sonnabendmittagsstunde.
„Man wird Sie wie eine Laus unterm Daumennagel zerquetschen, Tom! Wenn Sie sich nicht für, sondern gegen die Gewerkschaftsmitglieder entscheiden!“
„Soll das eine Drohung sein?“ An den Schläfen des Vaters wölben sich die Adern.
„Stellen Sie sich eindeutig auf die Seite der Docker, verdammt noch mal! Keine Leiharbeiter als Streikbrecher! Aber auch nicht irgendwelche anderen illegalen Billiglohnarbeiter! Und wenn Waffen nach Lateinamerika verladen werden sollen - Streik!“
„Wir würden uns gegen die Regierung stellen, Lincoln! Und dann - ausgerechnet du hast die Stirn, mir das einzureden? Wer hat denn meinen Ältesten abgeknallt? Wer?!“
Nein, Mike will sich nicht in das Männergespräch einmischen, doch Ringo knurrt unmissverständlich. Anthony Lincoln scheint erst jetzt den Deutschen Schäferhund zu bemerken. Nachdem der Schwarze das Tier aufmerksam betrachtet hat, wendet er sich wieder Mikes Vater zu. Der hebt ahnungsvoll beide Handflächen, um jede neu zu erwartende Wortkanonade Lincolns abzublocken.
„Komm mir nicht wieder mit deiner fantastischen Märchengeschichte, was in Grenada passiert sein soll mit Jonathan! Das zieht bei mir nicht mehr!“, fügt Mikes Vater abwehrend hinzu.
„Okay! Renn doch ins offene Messer, Mann! Aber denken Sie an meine Worte: Es geht um mehr, als Sie überhaupt ahnen können!“
„Meinst du!“
Die Art, wie Mikes Vater seine Antwort betont hat, lässt Anthony Lincoln aufhorchen. Er startet einen letzten Versuch, an Eden senior heranzukommen.
„Wenn Sie auch mehr wissen, Tom - umso gefährlicher für Sie!“
„Schluss jetzt mit diesem unsinnigen Palaver! Und ich glaube auch im Namen meiner Frau zu sprechen, Lincoln, wenn ich sage, dass wir Sie ab sofort nicht mehr in unserem Hause zu sehen wünschen! Haben wir uns verstanden?“
„Bin ja nicht taub! Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Denn Sie werden Ihre Worte bereuen! Wenn noch Zeit dafür bleibt, Tom Eden! Denken Sie doch auch mal an Ihren Jungen!“
Wortlos packt der Fünfzigjährige den überlangen Bootshaken. Die Holzstange allein ist zwar dünn und scheint wenig als Waffe geeignet; das angeschraubte Eisen hat es jedoch in sich.
Mike sieht die Fäuste, die die gefährliche Stange halten, weiß werden. Da ertönt ein Knurren, und mit einem Sprung ist der Schäferhund an dem Jungen vorbei. Gegen den Neger seine Zähne fletschend, hockt Ringo neben Mikes Vater.
„Du bist selbst für den Hund unerwünscht, Lincoln!“
„Bilden Sie sich ja nicht ein, dass ich Furcht hätte vor dem vierbeinigen Teufel da! Ich war schließlich bei den Green Berets. Und würde Ihr Sohn noch leben, könnte er Ihnen bestätigen, ein gewisser Nigger Anthony Lincoln hat vor nichts Angst! Halten Sie es Jonathans Andenken zugute, Tom Eden, dass Sie als sein Vater so mit mir reden durften!“
Die dünne gelbe Nappalederjacke spannt in den Nähten, als Lincoln sich bückt. Er streckt furchtlos seine Rechte dem offenen Fang des Schäferhundes entgegen. Ringo weicht zurück. Es hat den Anschein, als wolle er sich mit Schwung auf den vermeintlichen Angreifer stürzen. Dann aber - Vater und Sohn glauben ihren Augen nicht zu trauen -, Ringo leckt die dargebotene Hand! Nicht ohne den Schwanz unterwürfig zwischen die Beine zu klemmen. Eine Demutshaltung, die Mike bisher höchst selten bei dem kräftigen Rüden beobachten konnte.
„Solltest mal bei Jack London nachlesen, Junge“, sagt der Schwarze, als er die staunenden Augen bei Eden junior bemerkt. „Der Mann ist immerhin in Oakland auf die Welt gekommen! Aber Lockruf der Wildnis ist sicher kein Lehrstoff für die Hockley High School, die dein Daddy für dich ausgesucht hat. Kostet doch bestimmt über fünftausend Dollar Schulgeld im Jahr! Und ein feines College danach für sicher fünfmal zehn Riesen ...“
Der Schwarze kommt aus seiner Hockstellung hoch, einem Revolver gleich richtet er den Zeigefinger auf Mikes Vater, der noch immer wie angenagelt steht. „Und das alles finanzieren seine ehemaligen Kumpels von der Hafenarbeitergewerkschaft! Oder?“
Anthony Lincoln lacht bitter auf. Sein strahlendweißes Gebiss ist ein nicht zu übersehender Kontrast zum pechschwarzen bartlosen Gesicht. Es dauert, bis das Schrittgeräusch seiner Knöchel hohen Lederstiefeletten auf dem hölzernen Steg verklungen ist. Tom Eden und sein Sohn Mike sehen stumm dem Davongehenden nach. Dann aber wollen beide, so schnell es geht, diese Begegnung vergessen. Und jeder hat dafür seinen Grund.
„Lass dir doch von so einem nicht die Sonne verdunkeln, Dad!“ Nach diesem tröstend gemeinten Satz winkt Mike den Schäferhund-Rüden Ringo an seine Seite. Noch immer verblüfft über die Selbstsicherheit, mit der Anthony Lincoln dem Tier Respekt abgenötigt hatte.
„Schutz garantiert Ringo auch nicht gerade“, sagt der Vater mit einem geringschätzigen Seitenblick auf den hechelnd dastehenden Hund. Tom Eden hat erst nach stürmischem Drängen von verschiedenen Seiten seinerzeit nachgegeben und nur widerwillig diese Anschaffung bei einem der besten Zwinger in der gesamten San Francisco Bay Area perfekt gemacht. Er scheint seine Entscheidung zu bereuen.
„Er hat doch nur auf einen Befehl von mir gewartet!“, nimmt Mike spontan seinen vierbeinigen Freund in Schutz. Insgeheim wächst des Jungen Wut auf jenen Anthony Lincoln. Musste der alles, aber auch wirklich alles an diesem sonnenklaren Mittag verderben?
„Befehl!? Befehl?!“
Mike erschrickt über die Erregung des Vaters. Fast mutlos hockt er sich nieder. Seine hohen Prozentzahlen in den einzelnen Unterrichtsfächern haben wohl nur für ein Zwischenhoch gesorgt? Ist die Schönwetterlage nun vorbei? Als ob Ringo ihn trösten will, fährt er mit der Schnauze in den offenen Hemdausschnitt des Jungen.
„Ein Hund an sich ist nicht das Wichtigste, mein Junge. Wenn ein Hund nichts mehr taugt, zieht der Mensch eben einen anderen groß. Aber dessen Halsband, das sollte einer stets in Ehren halten. Denk an meine Worte ...“
Mike begreift nichts. Auf Ringos Halsband steht ja nicht einmal der Name geschweige denn die Adresse, wo er zu Hause ist!
„Egal, was kommt, Mike: Denk immer an Ringos Halsband!“, wiederholt der Vater seine Worte. „Manchmal ist das sogar ganz besonders wichtig.“
Seit dem Streit auf dem Bootssteg ist eine auffällige Veränderung mit Tom Eden vorgegangen. Irgendwie wirkt der Fünfzigjährige auf einmal müde. Es ist aber nicht das Abgeschlafftsein eines Familienvaters, der sich müht, die notwendigen Dollars für seine Angehörigen heranzuschaffen - nein, eine Art Willenlosigkeit scheint ihn zu lähmen. Doch wo ist der Grund dafür zu suchen? Doch Tom Eden wäre kein in vielen Redeschlachten und Gewerkschaftskämpfen gestählter Mann, könnte er nicht jene Schwachheit überspielen.
„Alles, was Beine hat - an Bord!“, schreit Mikes Vater und breitet die Arme aus. Er greift seinen Jungen und hebt ihn über die Reling auf die Jacht. Mit einem Satz springt Ringo sofort ebenfalls auf das Schiff. In diesem Augenblick ist das Knattern und Tuckern eines kleinen Motorbootes zu hören. Winzig und äußerlich derart altersschwach, dass jeder schon von weitem sich die Augen bedeckt, um nicht unmittelbarer Zeuge des unausweichlichen Untergangs zu sein, nähert es sich der Jacht. Dieser schwimmende Sarg scheint von Berkeley herüberzukommen und hält unbeirrt Kurs Richtung Golden Gate Bridge. Hat der Mann am Steuer dieses Seelenverkäufers vor, im Pazifik seine letzte Heuer abzuholen? Eine Rückkehr ans sichere Ufer hält Tom Eden nämlich für unmöglich. Aber nicht deswegen geht Mikes Vater nach Backbord, um jenen Schlickrutscher genauer unter die Lupe zu nehmen. Mitleid mit dem alten Mann drüben am Ruder ist es auch nicht. Tom Eden will keineswegs jenem wohl lebensmüden Steuermann eine Warnung zukommen lassen. Nein, Mikes Vater ist stocksauer, weil da drüben klammheimlich irgendetwas in das Wasser der Bucht gelenzt wird!
„Dreckskerl!!!“
Mike erschrickt fast mehr als der, dem diese Beschimpfung gilt, aber sich in seinem Tun nicht stören lässt. Es ist auch nicht der Ton. der den Jungen beunruhigt. Er findet nur, dass der Vater sich erneut über die Maßen an einer Sache hochzieht, die gewiss nicht gerade selten hier geschieht. Sich die Bootsnummer notieren, bei der Umweltschutzbehörde eine Anzeige machen - das genügte doch, um sich den Wochenendfrieden zu bewahren. Aber nein: Tom Eden verfolgt mit wutverzerrtem Gesicht den nahen Kurs des leicht dümpelnden Potts. Und er jagt von achtern zum Bugspriet, dabei wüste Flüche ausstoßend! Ärger hin, Ärger her - Mike findet dieses Gehabe gewaltig übertrieben. Aber es passt gegenwärtig zu Dad. Beinahe das Summen einer Mücke in ihrem großen Haus in den Pacific Heights reicht seit kurzem aus, dass der Mann sofort ausflippt.
Total überarbeitet, denkt Mike. Aber diese Erkenntnis ist für den Jungen nicht neu. Da hat er, ohne Dad zu fragen, kürzlich dessen Videokamera benutzt. Der Teufel wollte es, dass die Tonaufnahme-Automatik dabei einen Hieb abbekam. Nicht wörtlich gemeint. Mehr im übertragenen Sinne. Kurzum - Mike stellte das Ding klammheimlich ins Regal zurück. Nicht im Traum wäre ihm eingefallen, dass sein Alter einen solchen Affentanz deswegen aufführen würde. Wenn Agatha Eden, Mikes Mutter, nicht dazwischengegangen wäre - der Junge hätte wohl das erste Mal Ohrfeigen vom Vater bekommen ...
„Ringo! Bei Fuß!“
Von dem Gezeter, das Tom Eden an Bord verursacht, ist der Schäferhund immer unruhiger geworden. Mit lautem Bellen unterstützt er die Schimpfkanonade hinüber zu dem schwerfällig davon tuckernden Schrotthaufen.
„Riechst du es, Mike?! Verflucht noch einmal! Du riechst es doch auch?!“
Der Junge nickt. Mit einer Hand krault er beruhigend Ringos Hals. Jetzt könnten sie aber langsam mal ablegen ...
„Himmelherrgottnochmal!“
Erneut zuckt Mike hoch. Dieser Tag steht wahrlich unter einem verdammt schlechten Stern, denkt er. Der Mutter wird er von all diesen Zwischenfällen nichts erzählen, schwört sich der Junge. Sie hat ohnehin außergewöhnlich schwache Nerven. Ein ums andere Mal beklagt sie, dass man Vaters Heimatstadt Chicago verlassen hat. Dort hätten sie schließlich auch ihr Auskommen gehabt. Diese Karriere des Vaters in der Gewerkschaft werde noch allen in der Familie Eden Unglück bringen. Das luxuriöse Haus auf den Hügeln empfindet Mikes Mutter als einen goldenen Käfig. Und sie hat sich entschieden die Einstellung von Bediensteten verbeten. Nein, es liege ihr nicht, die Arbeit anderer Leute zu beaufsichtigen, lieber mache sie alles selbst ...
„Erst fehlt die Harpune! Jetzt hat deine Mutter auch noch vergessen, mir Zigaretten einzupacken! Sie kann es einfach nicht lassen, mir das Rauchen abgewöhnen zu wollen! Da drüben - am Anlegeplatz der Fähre ist ein Shop, Mike! Der hat geöffnet übers Wochenende. Meine Marke kennst du ja! Am besten bringst du gleich eine Stange!“
Dass Vater ein starker Raucher ist, weiß Mike zwar - aber eine Stange?! Sie sind doch nur zwei Tage auf dem Wasser! Erstaunt registriert der Junge jetzt, dieses schrottreife Boot von vorhin hat doch nicht Kurs auf die Golden Gate Bridge genommen, sondern gewendet. Der spindeldürre Kerl am Steuer hält ein zweites Mal auf die AGATHA zu …
„Ich beeil mich, Dad!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmt Mike davon. Mit langen, geschmeidigen Sätzen folgt Ringo. Mal seinen Herrn überholend, mal ihn spielerisch umkreisend. Beide sind froh, den erneut lauthals über die Richardson Bay schallenden Wutanfall Tom Edens gegen den Umweltsünder nicht mit anhören zu müssen. Kaum hat der Junge den Shop erreicht, da erschüttert eine gewaltige Explosion den Fährhafen mit seinen vielen hundert Liegeplätzen für Motorboote und Segeljachten.
Mike duckt sich vor Schreck. Als er wieder hochkommt, hört er Ringo ängstlich fiepen. Eine zweite, schwächere Detonation folgt. Der Junge will es nicht wahrhaben - aber das Krachen muss genau aus der Richtung gekommen sein, wo die AGATHA an den Festmacherleinen schaukelt! Tom Edens Sohn muss Ringo nicht erst auffordern, ihm zu folgen. Als ob der Schäferhund etwas ahnt - auf dem Rückweg läuft er stracks voran - keinerlei Ansätze zum sonst üblichen übermütigen Spielen!“
Ein Jahr später als „Tödliche Jagd“ erschien ebenfalls im Kinderbuchverlag „Deckname Condor“ von John U. Brownman: Wie beim Krimi „Tödliche Jagd“ haben die Autoren von „Deckname Condor“ das Pseudonym John U. Brownman gewählt. Es sei daran erinnert, dass der Name aus einer englischen Kombination von Hans-Ulrich Lüdemann und dem Co-Autor Hans Bräunlich entstand. Der Hintergrund dieser spannenden Story Deckname Condor ist der Militärputsch im September 1973 in Chile. Millionen Chilenen flüchten aus ihrer Heimat. Die weltweite Solidarität ist den Emigranten sicher. Viele finden in der solidarischen DDR zeitweilig eine neue Heimat. John U. Brownman alias Hans-Ulrich Lüdemann hatte damals öfter Kontakt mit der chilenischen Gruppe Aparcoa in Rostock. In seiner Erinnerung waren das höchst sympathische Musiker und Sänger. In der Geschichte spielen die dreizehnjährige Maria Gomez und ihr vorgeblicher Vater Gonzales Gomez eine zentrale Rolle. Der Ex-Geheimdienstoffizier ist aus Gewissensgründen von Chile nach New York geflohen, um in diesem menschlichen Moloch unterzutauchen. Er hat als ein Faustpfand für seine und die Sicherheit der Tochter einer ermordeten Chilenin entscheidende Filmdokumente, die das mörderische Pinochet-Regime vornehmlich dessen Geheimdienst DINA bloßstellen. Aber der fahnenflüchtige Militär irrt, wenn er glaubt, dass seine und Marias Spur sich verloren hat. Im turbulenten Geschehen agieren sowohl chilenische Emigranten als auch fortschrittliche US Amerikaner, die ihren Möglichkeiten gemäß, den politisch Verfolgten aus der lebensgefährlichen Situation helfen. Von großer Bedeutung ist übrigens ein Condor aus Stoff, zu Marias Talisman avanciert. Die Bedeutung bzw. das Geheimnis dieses Andenvogels wird anderthalb Jahrzehnte nach der Flucht aus Chile im Laufe der Geschichte offenbart. Deckname Condor war der zweite Band einer auf zehn Krimis konzipierten Reihe, die in US Großstädten angesiedelt sein sollten. Der Plan der Autoren Hans Bräunlich und Hans-Ulrich Lüdemann war es, diese Orte nach ihrem Bezug zu einem prominenten Schriftsteller auszuwählen. War es in Tödliche Jagd der weltberühmte Schriftsteller Jack London, so ist es hier der ebenso geschätzte Detektiv-Roman-Schreiber Edgar Allan Poe und die Stadt New York mit Umgebung. Ein weiteres Geheimnis sei an dieser Stelle verraten: Die beiden Autoren, die unter dem Pseudonym John U. Brownman veröffentlichten, wechselten sich jeweils in der Federführung ab. Und auch das sei noch gesagt: beim Schreiben für den vorliegenden Krimi hatte Hans Bräunlich den Hut auf. Und auch hier präsentiert der aktuelle Newsletter wieder das erste Kapitel:
„Die Fahrt geht nach Süden. Vorbei an dunklen Bürogebäuden und den hellen Fenstern von Apartmenthäusern. Grellbunte Leuchtschriftreklamen immer noch geöffneter Läden huschen vorbei. An Straßenecken hingeduckte Imbissbuden sind dicht umlagert. Auf besser zahlende Gäste warten Speiserestaurants mit Spezialitäten aus der ganzen Welt. Aber auch Hotels aller Preisklassen haben noch Zimmer frei. Die Millionenstadt wirkt schläfrig und wach zugleich.
Das gelbe Auto rollt zielgerichtet durch die nächtlichen Straßenschluchten Manhattans. East River und Hudson River, die die steinerne Insel umspülen, hat die Dunkelheit verschluckt.
Das Taxi will zügig die 34. Straße kreuzen. Ein Betrunkener torkelt auf den feucht glänzenden Asphalt. Der Fahrer muss scharf abbremsen. Er flucht laut, weil sein Fahrgast bei dem Ausweichmanöver nach vorn geschleudert wird.
„Alles okay?“
„Alles“, kommt die lakonische Erwiderung des Mädchens.
Mit roten und blauen Lichtsignalen sowie bedrohlich heulender Sirene jagt ein Streifenwagen vorbei. Maria Gomez wendet den Kopf, drückt ihr Gesicht gegen die Heckscheibe und blickt neugierig dem davonrasenden Polizeiauto nach. Es hält auf das Theaterviertel zu. Keine Frage, denkt die Dreizehnjährige, Sheriffs von heute müssen motorisiert sein. Und hier erst recht! Zu Pferde hätten sie doch keine Chance in dieser Prärie aus Asphalt. In diesen kilometerlangen Canyons aus Betongebäuden, die hoch zum Himmel aufragen. Die die Wolken zu kratzen scheinen, wie ihnen treffend nachgesagt wird. Und wovon sich ihr Name abgeleitet hat.
Der Taxifahrer weist auf ein Buch mit buntem Umschlag, das neben ihm auf dem Beifahrersitz liegt: „Hat ein Fahrgast mir geschenkt. Und da steht drin, dass Manhattan beileibe nicht mehr die Himmlische Insel ist. Wie die Indianer vom Stamme der Manhate sie einst nannten. Bis ihnen dieser Flecken Erde für Tuche und Glasperlen im Werte von 60 Gulden abgeluchst wurde. Stimmt sicher, diese Story! Die weißen Siedler aus Europa waren an Geschäftssinn zweifellos den naiven Eingeborenen weit überlegen.“
Der Mann klatscht wie zur Bestätigung seiner Worte mit der Hand auf den Buchdeckel. Den Blick auf die Fahrspur gerichtet, lacht er beinahe anerkennend:
„Eine Insel von vielleicht 5 mal 5 Meilen! Für nur 24 Dollar! Stell dir das vor! Nach dem Kurs im vergangenen Jahrhundert waren das 60 Gulden. Nimm dagegen die heutigen Grundstückspreise im Lande!“
Was soll das Mädchen darauf erwidern? Grundstückspreise haben sie noch nie interessiert. Die Indianer tun ihr höchstens leid. Heute noch. Dass deren Gutgläubigkeit brutal ausgenutzt worden war. Um sie ganz gemein und schäbig zu betrügen. Aber das wird der Mann nicht hören wollen. Also schweigt Maria Gomez lieber.
Das Heulen der Polizeisirene gellt dem Fahrer immer noch in den Ohren. Es hat in ihm Neugier wach werden lassen. Zu gerne würde er wissen, wohin der Streifenwagen fährt. Welchen Auftrag hat seine Besatzung? Sollen ein paar kleine Dealer geschnappt werden? Weil man hofft, über sie endlich an die weitaus wichtigeren Hintermänner heranzukommen? An die großen Bosse!
Das Geschäft mit dem Rauschgift läuft auch am Broadway inzwischen bestens. Es ist hier sogar ergiebiger als in den Gegenden von Brooklyn, der Bronx oder Harlem. In diesen Elendsvierteln greift man nur eher zum Stoff, aus dem die Träume des Vergessens kommen. Um wenigstens zeitweilig einer Welt mit Arbeitslosigkeit, Armut und Rassendiskriminierung zu entfliehen. Dass das Erwachen aus dem Rausch jedoch oft schmerzhafter ist als der Lebenszustand zuvor, das will natürlich niemand wahrhaben. Auch nicht die Tatsache, dass sich die Sucht von Tag zu Tag steigert. Immer mehr Geld ist zu ihrer Befriedigung erforderlich. Zu beschaffen oft nur mit kriminellen Mitteln. Und je länger der Teufelskreis der Abhängigkeit andauert, um so schwerer ist er zu durchbrechen. Wenn überhaupt noch. Die Endstation heißt häufig Zuchthaus. Oder Tod!
„Ob irgendwo ein Überfall stattgefunden hat?“ Maria Gomez lenkt die Gedanken des Mannes in eine neue Richtung.
„Kannst recht haben. Vielleicht hat man eine Bank ausgeraubt? Wieder einmal! Oder hat es irgendeinen kleinen Ladeninhaber erwischt? Jedenfalls sind die Hüter der Gerechtigkeit alarmiert und über Funk zum Tatort beordert worden.“
In dieser Stadt ist alles möglich. Das weiß auch die dreizehnjährige Maria Gomez. Rivalisierende Banden liefern sich auf offener Straße blutige Kämpfe. Ein führender Mafiaboss wird umgebracht. Weil der machthungrige jüngere Konkurrent dessen Platz einnehmen will.
Vor noch nicht zwei Jahren erging es einem gewissen Paul Castello so. Am 16. Dezember 1985! Die Abendnachrichten auf Kanal 7 brachten es als Spitzenmeldung: Man habe den 70-Jährigen brutal niedergeschossen, als er um 5 Uhr 26 nachmittags das Restaurant „Sparks Steak House“ in der 46. Straße betreten wollte, um sein Abendessen einzunehmen. Die flinken TV-Übertragungswagen mit ihren mobilen Videokameras sendeten live vom Tatort. Wie üblich waren sie eher als die Polizei am Ort des Verbrechens gewesen ...
Der ermordete Paul Castello hatte den Gambino-Clan angeführt. Eine der sogenannten fünf ehrbaren Familien, die den BIG APPLE beherrschen. Aber nicht nur sie sind wie Maden, die den Großen Apfel New York so ungenießbar machen. An korrupte Polizisten und Politiker wäre ebenso zu denken. Und seit Langem bedroht der sich immer mehr verschärfende Kontrast von Armut und Reichtum sein gesundes Wachstum. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann diese um sich greifende innere Fäulnis den BIG APPLE endgültig zerstört haben wird ...
„Glaubst du etwa an die Freiheit, die die im Hafen postierte Riesendame mit ihrer Fackel in der Hand seit über 100 Jahren bewacht?“
Maria zuckt erst unsicher die Schultern. Dann schüttelt sie den Kopf.
„Es waren ganz und gar nicht nur die salzigen Winde vom nahen Atlantik und ebenso wenig allein die giftigen Dämpfe der unweit gelegenen Chemiewerke von New Jersey, die unsere Eiserne Lady in der Robe rosten ließen! Dass ihr der Kopf schließlich nicht mehr fest genug auf den Schultern saß, Mädchen! Und dass in ihrem Arm, der die Freiheitsfackel hochhält, schlingpflanzenähnliche Gebilde heranwuchsen! Aber eine fast dreijährige kosmetische Operation hat ihr den äußerlichen Glanz zurückgegeben. Dabei sollte die Statue of Liberty nach dem Willen ihres französischen Schöpfers haltbar sein! Wie die Bauten der alten Ägypter!“
Maria staunt. Ihr will scheinen, der Mann am Lenkrad weiß mehr über New York als ihr Geografielehrer an der Highschool.
„Steht alles in dem schlauen Buch hier drin“, dämpft der Taxifahrer ihre Bewunderung. „Auch dass dieser Monsieur Bartholdi im Antlitz der Freiheitsgöttin das Gesicht seiner Mutter Charlotte verewigte. Doch seine Voraussage über die Standfestigkeit des Denkmals erfüllte sich nicht. Leider! Die hat stattdessen wohl eher Schritt gehalten mit dem Gang unserer amerikanischen Geschichte.“
Hinter den wuchtigen Schultern des mit irischem Akzent sprechenden Fahrers, die seine speckig glänzende Lederjacke zu sprengen drohen, fühlt Maria sich geborgen und beschützt. Schickt sie deshalb ein dankbares Lächeln in den Rückspiegel? Ein gutmütiges Grienen und ein verschmitztes Augenzwinkern kommen als Antwort. Mit seinem buschigen rötlichen Vollbart und der lockigen, kaum zu bändigenden Haarflut im gleichen Farbton ähnelt der Mann einem gutartigen Bären. Wer zu dieser nächtlichen Stunde nach Hause will in New York, sollte wie Maria ein Taxi benutzen. Keineswegs die SUBWAY. Und schon gar nicht den Heimweg zu Fuß antreten wollen.
Am Madison Square erreichen sie den unteren Broadway. Er führt südlich geradewegs ins Finanzviertel. Hin zur berühmten Wallstreet. Einst stand hier nur ein Palisadenwall. Er reichte vom East River bis zum Hudson River und sollte die Siedler vor Indianerüberfällen aus dem Norden schützen. Heute schlägt in dieser Gegend das Herz der internationalen Geldwirtschaft - die Börse! Westlich zum Hudson River erstreckt sich das von Touristen zu jeder Tageszeit eifrig besuchte und inzwischen unter Denkmalsschutz stehende Künstlerviertel Greenwich Village ...
Das Taxi fährt an einer reglos liegenden Gestalt vorüber. Sie scheint zu schlafen. Ein Betrunkener? Einer der immer zahlloser werdenden Obdachlosen? Maria kann durch das Autofenster nicht einmal erkennen, ob es eine Frau oder ein Mann ist.
An der Ecke Union Square stehen mehrere Farbige. Einer von ihnen spielt Gitarre. Seine Begleiter klatschen den Rhythmus und wiegen sich dazu tänzerisch in den Hüften.
Die sonst tagsüber zahlreich dahinschlendernden Passanten sind zu dieser Stunde verschwunden.
Die üblichen Rufe der Schuhputzer fehlen ebenso wie die der Souvenirverkäufer. Es ertönen auch nicht mehr die überlaut gespielten Plattenhits aus den Kompaktboxen der Radiogeschäfte und Diskotheken.
Maria Gomez weiß mit Sicherheit, dass ihr Dad sauer sein wird, weil sie so spät zu Hause landet! Sie habe einfach nicht bemerkt, wie die Zeit verflogen sei!? Damit kann sie ihrem Vater nicht kommen. Soll sie ihm die Wahrheit sagen? Noch nicht! Wenn die Aufführung ein Erfolg geworden ist, dann wird sie es nachholen. Falls der ehrgeizige Versuch ihrer Musiklehrerin überhaupt gelingt, überzeugend eine Schulaufführung der WEST SIDE STORY mit zwei Klassen der Highschool auf die Beine zu stellen. Aber wenn doch - die Beifallsstürme im Saal werden kein Ende nehmen! Und voller Stolz wird Dad dann seinen Arm um ihre Schultern legen, träumt das Mädchen vor sich hin ...
Sie war mit Miss Miller und deren Freund nach der Probe noch in eine Snackbar gegangen. Alle hatten Sandwiches gegessen und dazu Juice getrunken. Maria ließ sich gern von dem jungen Tänzer bestätigen, wie trefflich besetzt er sie in der Rolle finde. Sie konnte nicht oft genug hören, dass sich ihre Stimme glänzend eigne, aber auch ihr großes tänzerisches Talent unübersehbar sei. Er, der an einem kleinen Broadwaytheater engagiert ist, habe dafür einen Blick!
Und Maria sieht sich wieder am späten Nachmittag auf der Probebühne stehen. Sie sang ihr „I Feel Pretty“ aus dem 2. Akt des Musicals. In der Rolle der Heldin, die wie sie Maria heißt, bereitete sie sich auf ihr Rendezvous mit Tony vor:
„Weil ich nett bin,
Einfach nett bin,
Und adrett bin und süß und gescheit -
Tun mir Mädchen,
Die nicht ich sind, heute sehr, sehr leid.
Nette Hände
Sprechen Bände,
Nette Schultern, so weiß wie der Schnee,
Ja, am Ende
Ist Maria eine Märchenfee ...“
Ja! Eines Tages wirklich Schauspielerin sein! Und an vielen Abenden auf der großen Bühne stehen! Die besten Theaterkritiker überschlagen sich vor Begeisterung in ihren Urteilen ...
Du spinnst, Maria Gomez! ruft sich das Mädchen zur Ordnung. Träume sind Schäume!
Aber ist sie nicht eine überzeugende Maria in diesem Musical? In dieser auf dem Theater seit Jahrzehnten erfolgreichen und auch als Film weltberühmt gewordenen Geschichte. Auf der Leinwand konnte man vor über zwanzig Jahren Nathalie Wood als Maria bewundern. Ein Star inzwischen. Warum soll sie das nicht auch werden?
Miss Miller, deren Freund und Maria hatten am Abend wieder und wieder den Inhalt der WEST SIDE STORY durchgesprochen: Zwei rivalisierende Jugendbanden in einem New Yorker Elendsviertel bekämpfen sich. Eingewanderte Puertoricaner und einheimische Jugendliche stehen sich in unversöhnlichem Hass gegenüber. Es ist eine Rivalität auf Leben und Tod. Obwohl beide Gruppen unter einer ähnlichen Notlage leiden. Aber weder die JETS noch die SHARKS erkennen das. Deshalb muss auch zwangsläufig die Liebe des puertoricanischen Mädchens Maria zu einem jungen Amerikaner tragisch enden. Tödlich für Tony! Es ist die moderne Version der ROMEO UND JULIA-Geschichte. Auch bei Shakespeare kostet die Liebe einen gleich hohen Preis: Das Leben!
Was in unzähligen Hollywoodstreifen über die Liebe vorgeführt wird, das hat damit wohl wenig zu tun. Nein! Energisch schüttelt Maria den Kopf. Das kann einfach nicht jenes aufrichtige und tiefe Gefühl sein, wie es zwei Menschen füreinander empfinden. „Ist was?“
Die Stimme des Fahrers reißt das Mädchen aus seinen Träumen. Maria wirft einen Blick aus dem Seitenfenster.
„Bitte, halten Sie! Ich möchte aussteigen.“
„Hier?“ Es ist Besorgnis statt Neugier, die den Mann fragen lässt.
„Sind nur noch ein paar Schritte.“
Beinahe ruckartig hält der Wagen. Maria winkt großzügig ab, als der Taxifahrer einen halben Dollar herausgeben will. Er braucht nicht zu wissen, dass das der Rest vom gesparten Taschengeld war. Soll er sie für die Tochter eines Millionärs halten! Aber die geben sicher mehr als nur einen halben Dollar Trinkgeld. Und die wohnen auch nicht in solchen Gegenden.
„Wirklich nur noch ein paar Schritte?“ Marias Stimme klingt selbstsicher: „Mir kann nichts mehr passieren.“
„Hoffentlich!“ Die Männerstimme klingt immer noch besorgt.
Das Mädchen steht bereits auf der Straße.
„Meine Tochter jedenfalls dürfte um die Zeit hier auch nicht einen Schritt alleine machen“, knurrt es aus dem roten buschigen Bart.
„Aber das berühmte 9. Polizeirevier mit Lieutenant Theo Kojak befindet sich doch in der Nähe“, erinnert Maria lächelnd an eine bekannte Krimiserie.
„Ach komm, Baby! Der Lollyball lutschende Glatzkopf ist nichts weiter als ein TV-Detectiv. Diese Werbung für clevere Bullen bezahlt nicht etwa Coca Cola, sondern das New Yorker Polizeihauptquartier! Nur auf der Mattscheibe hat dieser Kojak seinen erfolgreichen Einsatz in Manhattan. Im wirklichen Leben aber ... - den lassen smarte Gangster doch zu Boden gehen, bevor er auch nur ...“ Ein müdes Abwinken beendet den Satz. Dann braust der Wagen davon.
Stille bleibt zurück. Und eine dunkle leere Straße.
Maria Gomez schultert ihren Sportbeutel. Sie hakt die linke Hand in den Trageriemen und läuft die 14. Straße hinunter. Richtung Avenue of Americas. Es sind im Grunde nur ein paar Schritte. Doch selbst die können verdammt lang werden!
Was soll mir schon geschehen, beruhigt sich das Mädchen. Aber ganz wohl ist Maria trotzdem nicht. Ihr fällt ein, was die Polizei immer wieder Frauen rät: Sich spätabends nicht allein auf menschenleeren Straßen aufhalten! Spraydosen mit speziellem Reizgas zur Gegenwehr in Handtaschen mitführen! Noch besser: Karate können! Aber bei einem Überfall sich weder des einen noch des anderen zu bedienen! Keinen Widerstand leisten! Damit alles nicht noch schlimmer wird ...
Überlegungen, die Angst einjagen. Also sucht sich das Mädchen abzulenken. Denkt an das, was ihr gleich bevorsteht: Dads Zorn! Wie kann sie ihn besänftigen?
Aber was ist das?! Dieses Geräusch ...
Maria hat das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Sie wendet sich ruckartig um. Nichts zu sehen! Das Mädchen bleibt stehen. Wartet. Nein. Nichts zu hören. Maria geht weiter. Zögernd. Auf jeden Laut jetzt achtend. Die Spannung in ihr wächst. Und mit jedem Schritt, den sie sich vorwärts tastet, steigert sich ihre Angst. Sie verharrt erneut.
Da! Es ist nicht zu überhören, sondern ganz deutlich zu vernehmen:
Tack-tack-tack ...
Es folgt ihr. Ein regelmäßiges Klopfen. Holz auf Stein? Tack-tack-tack ... Holz auf Stein!
Es scheint sich dem Rhythmus ihrer Schritte anzupassen. Tack-tack-tack ...
Hitzewellen breiten sich aus im Körper der Dreizehnjährigen. Sie sind in jeder Pore der Haut. In jeder Nervenfaser. Der Hals ist wie zugeschnürt. Kein Hilferuf würde die Kehle verlassen können. Und selbst wenn sie ihn aus sich herauspresste - was nützt das? Beistand darf Maria nicht erwarten. Von wem auch? Noch eben erleuchtete Fenster würden sich plötzlich verdunkeln. Höchstens, dass jemand die Polizei telefonisch darüber informiert, irgendetwas Schlimmes geschehe auf der Straße ...
Das Mädchen beschleunigt die Schritte. Das seltsame Geräusch bleibt hinter ihr! Tack-tack-tack ...
Maria umkrampft den Schulterriemen ihrer Tasche. Mein Glücksbringer! Hätte ich ihn jetzt zur Hand! Mir würde dann nichts passieren! Gar nichts! Ein vogelähnliches Tier aus Stoffresten besitzt für sie eine derartige Wunderwirkung. Solange Maria denken kann, hat der Stoffvogel einen Platz auf ihrem Kopfkissen. Oder er sitzt auf dem Tisch. Wenn es Zeit ist für die Schulaufgaben. Mag die Tasche noch so vollgestopft sein, für ihn findet sich ein Eckchen! Der Vater hat sie noch bestärkt in ihrem Glauben, dass diese farbigen Flicken etwas ganz Besonderes sind! Wenn eine der Stoffnähte platzt, darf nur Dad diesen Glücksbringer reparieren. Selbst Ev Hunter, Vaters Freundin, ist es nicht erlaubt, zu Nadel und Faden zu greifen!
Gonzales Gomez hat das stets mit dem Hinweis erklärt, es handle sich um ein zu wertvolles Andenken aus der chilenischen Heimat. Diese indianische Handarbeit stelle einen Condor dar ...
Und wie oft schon hatte er gesagt: „Bei ihm ist das Herz am wichtigsten, Maria. Merke dir das! Sein Herz macht den Condor zum mutigsten aller Vögel. Nur das Herz erlaubt es ihm, sich über die Kordilleren zu erheben. Dass man denken könnte, beim Fliegen streife er die Wolken. Und glaube mir, Kind, dein Stofftier kann sogar sprechen. Das hat mit Zauberei nichts zu tun ...“ Ein seltsam wissendes Lächeln glitt bei diesen geheimnisvollen Worten über das Gesicht des Vaters.
Wann immer Dad das sagte, kam er Maria wunderlich vor. Und doch wäre sie froh, hätte sie in diesem Augenblick ihr Maskottchen zur Hand. Aber der Talisman ruht vergraben in dem Sportbeutel. Unter Gymnastikanzug, Ballettschuhen, Waschzeug, Handtuch. Und - jetzt ist weder die Zeit noch der Ort, ihn hervorzukramen.
Überdeutlich registriert Maria das kleinste Geräusch aus der Dunkelheit. Nicht das Miauen einer Katze jagt ihr Furcht ein. Nicht das Quietschen der Feuerleitern an den Außenwänden der Häuser - es ist dieses geisterhafte Klacken von Holz auf Stein:
Tack-tack-tack ...
Das Mädchen wagt nicht noch einmal, stehenzubleiben und sich umzusehen. Die Schritte werden schneller. Aber das Pochen passt sich diesem Tempo an! Maria läuft. Sie schwört, nie wieder abends allein nach Hause zu kommen. Und zu so später Stunde. Nun erst begreift Maria die ständige Angst und Sorge des Vaters. Sicher wartet er voller Ungeduld und Unruhe vor dem Hauseingang ...
Die Straße liegt ausgestorben da. Kein einsamer Spaziergänger irgendwo. Niemand, der seinen Hund ausführt. Die Riesenstadt scheint endgültig verstummt zu sein. Das Mädchen hastet weiter.
Tack-tack-tack ...
Plötzlich schöpft Maria Hoffnung. Sie erblickt ein Auto. Es parkt mit abgeblendeten Lichtern. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ist ihr dieser Wagen in den vergangenen Tagen nicht schon einige Male aufgefallen? Oder täuscht sie sich? Zufall! Aber warum nicht daran glauben? Hilfe in höchster Not! Das Gedächtnis des Mädchens arbeitet wie eine Filmkamera - das Auto stand vor ihrer Schule! Sie sah es auch am Central Park! Wo sie mit Klassenkameraden joggen war und alle anschließend auf dem Rasen ein Picknick gehalten hatten! Der Wagen parkte einmal sogar am helllichten Tage vor dem Nebenhaus! Das Erinnerungsvermögen der Dreizehnjährigen reiht Bild an Bild ...
Keine zwanzig Yards! spricht sich Maria Mut zu. Dann habe ich es geschafft!
Dem Mädchen peitscht eine grelle Helligkeit entgegen! Die aufgeblendeten Scheinwerferaugen des Autos! Maria bleibt erschrocken stehen. Hat das Empfinden, erblindet zu sein. Mit der rechten Hand sucht sie ihre Augen abzudecken.
„Maria! Vamos!“
Der Befehl zwingt das Mädchen vorwärts. War es Dads Stimme? Oder hat jemand hinter ihr diese Worte gerufen? Maria weiß darauf keine Antwort. Aber sie gehorcht dem Kommando. Es muss Dad gewesen sein. Allein mit ihm spricht sie Spanisch, ihre Heimatsprache ...
Ein Motor heult auf! Aber der Wagen startet Sekunden zu spät. Maria hat den Hauseingang erreicht. Sie schlüpft hinein und drückt die schwere Tür hinter sich ins Schloss ...“
Ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin veröffentlichte Jutta Schlott erstmals 1985 ihr Buch „Roman und Juliane“: In der Nähe des Schlossparks sah Juliane zum ersten Mal auf die Uhr. Sie erschrak. Sie hätte seit zwei Stunden zu Hause sein müssen. Trotzdem machte sie keine Einwände, als Roman fragte, ob sie sich noch auf ihre Bank setzen wollten. Den Gedanken, dass sie zu spät nach Hause kommen würde, schob sie von sich. Alles war heute fröhlich, leicht. Sie dachte nur zwei Worte: Roman und Juliane. Sie redeten, krakelten Zeichen und Buchstaben in den Sand. Sie verstanden jedes Wort und jede Geste. Sie erzählten von dem, was ihnen lieb war, das Liebste bisher. Sie ahnten, mit diesem Sonntag hatte eine neue Zeitrechnung angefangen. Das Thema „erste Liebe“ bestimmt die Handlungen der drei Erzählungen dieses Buches. Bettina, Elise und Juliane begegnen Jungen, die ihnen viel bedeuten. In der ihr eigenen einfühlsamen Erzählweise schildert Jutta Schlott Verhalten und Empfinden junger Menschen, die sich zum ersten Mal verlieben. Auch hier ein Ausschnitt aus der Liebesgeschichte von Roman und Juliane:
„Die Frühjahrsferien hatten begonnen.
An jedem Sonnabend vor den Ferien packte Juliane ihre Tasche und fuhr zur Großmutter, die in einem Dorf nahe der Ostsee wohnte. In diesem Mai hatte sie zum ersten Mal kein Verlangen, dorthin zu fahren.
Vielleicht würde sie in den Ferien den Jungen wiedersehen. Das schien ihr wichtiger als die Großmutter, als die sorgenlosen Tage, an denen sie von ihr verwöhnt wurde.
Zu Hause war sie die Große, musste auf die Geschwister aufpassen. Die Eltern erwarteten, dass sie vernünftig war und ihnen half.
Bei der Großmutter aber war sie immer noch die kleine Jule, die gehätschelt und umhegt wurde. Sie konnte sich ihre Lieblingsspeisen bestellen, und die Tage wurden nach ihren Wünschen eingerichtet.
Das war jetzt nicht verlockend. Jeder andere Gedanke wurde von dem nach einem Wiedersehen verdrängt.
Der Großmutter würde sie später alles erklären. Und sie würde es verstehen.
„Du bist aber hier den ganzen Tag allein“, warnte die Mutter. Melli war bei den Ferienspielen angemeldet, der Vater musste zur Arbeit, die Mutter fuhr zur Weiterbildung.
„Ich bin gern mal allein“, entgegnete Juliane.
Die Mutter sah sie nachdenklich an.
Am ersten Ferienmorgen wartete Juliane ungeduldig, dass die anderen aus dem Haus gingen.
Als die Mutter die Tür hinter sich ins Schloss zog, stellte sie das Radio an und räumte den Frühstückstisch ab. Sie sah aus dem Fenster.
Draußen, am mittleren Laternenmast der Buswendeschleife, fuhr wie jeden Morgen zwischen acht und halb neun der kastenförmige, grüne Bus ab.
Er brachte die jüngeren Kinder der sowjetischen Offiziere in ihre Schule, einen roten Backsteinbau in der Altstadt.
Juliane fielen die Arme herab. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die anderen keine Ferien haben könnten. Lustlos machte sie sich an den Abwasch. Sie hätte doch zur Großmutter fahren sollen. Alles war ausgeflogen, nur sie hockte nun die ganze Woche allein hier. Obendrein würde sie die Hausfrau spielen müssen. Die Mutter kam erst am Freitag wieder.
Juliane ließ das Geschirr im Becken stehen. Es würde auch von selbst trocknen.
Sie setzte sich in die Straßenbahn und fuhr zum Schlosspark. Er war menschenleer.
Nur an einem der kunstvoll angelegten Blumenbeete pflanzten zwei Frauen in Arbeitskleidung Stiefmütterchen. Die aufgelockerte Erde roch nach Regenwürmern und Frühling.
Juliane ging zu der großen weißen Statue, die auf einer Rasenfläche stand. Sie traute sich, das gepflegte, kurz geschnittene Gras zu betreten. Heute war niemand zu sehen, der sie hätte ausschimpfen können.
Es war das Bildnis einer reichen Frau. Auf dem Sockel stand mit großen Buchstaben ALEXANDRINE und noch etwas, das sie nicht entziffern konnte. Gewiss ein lateinischer Spruch.
Aus der Nähe betrachtet, war die Frau nicht schön. Sie wirkte herrschsüchtig und schon ziemlich alt.
Die Kleidung war prächtig. Der Bildhauer hatte sogar die unterschiedlichen Muster der Stoffe in den Stein gemeißelt. Die Frau blickte erhobenen Kopfes in die Richtung der Brücke. Da wurde sie Juliane wieder sympathisch. Auch sie stand hier, als wenn sie auf jemand wartete.
Das Mädchen schlenderte zur Brücke und strich mit der Hand über das Geländer. Eigentlich habe ich überhaupt niemanden, dachte sie mit plötzlichem Erschrecken.
Eltern und Geschwister waren da, und trotzdem zählten sie nicht. Die hatten sie gern, weil sie zur Familie gehörte. Das war ein Gesetz, und es würde sich nichts daran ändern, wenn sie plötzlich abgrundhässlich würde, in der Schule ein totaler Versager, ein Dieb oder etwas anderes Schlimmes. Sie würden sich aufregen und dann doch alles verzeihen.
Sie wollte aber, dass man sie mochte, weil sie Juliane war. Einzigartig und unwiederholbar wie jeder Mensch auf dieser Welt. Ein Lieblingssatz der Mutter.
Von Juliane hatte aber noch niemand verlangt, sie solle einzigartig sein. Manchmal hatte sie Angst, da es so lange dauerte mit dem Erwachsenwerden, dass bis dahin alle Rätsel gelöst, alle Wunder entdeckt und alles Wichtige erfunden wäre, und sie, Juliane, würde sich schämen müssen, dass sie nichts für die Menschheit getan hatte.
Die Entdecker, Forscher und Helden hatten in ihrer Kindheit alle etwas Bemerkenswertes und Außergewöhnliches an sich gehabt; das war in jedem Buch nachzulesen.
Sie dagegen — nichts Besonderes, dachte Juliane. Ein ganz gewöhnliches vierzehnjähriges Mädchen.
Sie versuchte, über das Brückengeländer gelehnt, ihr Spiegelbild im Wasser des Grabens zu erkennen. Das halblange, blonde Haar fiel ihr bis auf die Wangen, als sie sich nach vorn beugte. Sie spuckte dem Wasserbild ins Gesicht.
Wenn sie jetzt wegginge, einfach so, immer den Weg lang und den nächsten auch noch und den danach und alle, die ihr vor den Füßen lagen — ob sie jemand vermissen würde? Würden sich die in ihrer Klasse in der Zehnten noch erinnern und sagen: Ja, als die Jule noch da war, die hat Einfälle gehabt ... Oder hätten sie Mühe, sich zu entsinnen, wer das eigentlich war, diese Juliane ... Sie bückte sich blitzschnell und knickte den Stängel einer Stiefmütterchenblüte ab. Sie drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
Sie könnte heute eigentlich ins Kino gehen. Oder den ganzen Tag nur Musik hören und auf der Couch liegen. Wie oft hatte sie sich das gewünscht, als Schule war. Sie warf das Stiefmütterchen ins Wasser, es trudelte fort. Langweilig war das alles. Öde. Und den Jungen traf sie sowieso nicht.“
Als Eigenproduktion der EDITION digital veröffentlichte Friedrich Preßler 2018 seine biographischen Erwägungen „Johann Hinrich Preßler 1718-1789. Maurermeister in Ludwigslust“: Eine genealogische Vermessenheit und die Neugierde des Verfassers aus berufsständischer Sicht waren Beweggründe, sich näher mit der Lebenswelt eines Handwerksmeisters in der Epoche des Aufbaus der Residenz Ludwigslust, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zu befassen. Der aus Thüringen stammende Maurermeister Preßler war maßgeblich an der Errichtung der Stadtkirche (1765 - 1770), des Ortes und des Residenzschlosses (1771/1772 - 1776) beteiligt. Wer Ludwigslust plante, ist bekannt. Wer das erbaute, formte und absichtsvoll gestaltete, was wir heute der frühklassizistischen Baukultur zuordnen und bewundernd betrachten, ist in einer Denkmaltopografie dieses Ortes ebenso zu würdigen. Hier ein längerer Auszug aus der interessanten Biografie:
„Lebensstationen des Maurermeisters und die Familie Preßler in Ludwigslust
Johann Hinrich Preßler wurde im Dezember 1718 in Rudolstadt, im thüringischen Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt, als Sohn eines Maurers geboren. Sein Vater, Hans Heinrich Preßler (err. 1667‒1720 Rudolstadt), heiratete 1708 in zweiter Ehe Elisabeth Blechschmidt aus Cursdorf, Tochter des dortigen Arbeitsmannes Johann Blechschmidt. Aus dieser Ehe entstammt Johann Hinrich. Sein Vater hatte bereits von seinen Eltern in Rudolstadt das Haus Nr. 7 in der Ludwigstraße geerbt, wurde aber als Maurer sesshaft im erworbenen und von ihm erweiterten Haus Am Bache Nr. 7. Wie häufig in der Familie von Handwerkern, so wurde auch Johann Hinrich sehr früh mit dem Beruf des Vaters vertraut gemacht, der dessen Kenntnisse und Fertigkeiten an den Sohn weitergegeben hat. Leider liegen biografisch über die Kinder- und Lehrjahre in Rudolstadt keine Nachrichten vor. Wo Preßler die Handwerksausbildung (über mindestens drei Jahre) erfuhr, bei seinem Vater in Rudolstadt oder bei einem anderen Zunftmeister, ist unbestimmt. Es folgten die üblichen Wanderjahre und wieder die Rückkehr in die thüringer Arbeitswelt, vermutlich in Rudolstadt, bevor er dann gegen Mitte des Jahrhunderts in einer gänzlich anderen Mission im westlichen Mecklenburg-Schwerin auftauchte.
Preßler kam als nachrückender Söldner einer kaiserlichen Neutralitäts- und Exekutionstruppe, die überwiegend aus Schwarzburgern beider Fürstentümer bestand, in den Norden. Ob er als Freiwilliger einer Werbung in Thüringen folgte oder als von Amts wegen Verpflichteter dem Befehl des Landesfürsten Friedrich Anton von Schwarzburg-Rudolstadt (1692‒1744, Nachfolger Fürst Johann Friedrich reg. 1744‒1767)) nachzukommen hatte, ist unbekannt, wahrscheinlich Letzteres. In einer Muster(ungs)-Liste vom 15. November 1745 der vierten Kompanie des Schweriner Regiments unter Führung von Kapitän Otto Detlev von Plessen tauchte Preßler erstmalig als Gemeiner auf, als einfacher Soldat. Er ist somit frühestens Ende des Jahres 1744 (vermutlich Oktober 1744) nach Mecklenburg gekommen.
In der genannten Liste 1745 ist unter Position Nr. 80 (von 100) angeführt: Gem(einer) Johann Hinrich Preßler, gebürtig in Rudolstadt, noch nicht gedient, unverheiratet, Montur (Bekleidung und Waffen) komplett erhalten, 24 Patronen, Traktament (Sold) erhalten, vereidigt. Dieser Umstand lässt die Eintragung einer Taufe in Groß Laasch für die uneheliche Tochter des schwarzburgischen Soldaten Preßler erklären.
Ein Blick zurück in die mecklenburgische Geschichte: Obwohl per kaiserlichem Dekret Herzog Carl Leopold von Mecklenburg-Schwerin bereits 1713 vom Kaiser ob seiner vielfachen politischen Fehlentscheidungen gemaßregelt und suspendiert wurde, akzeptierte er nicht die Einsetzung des jüngeren Bruders, Christian Ludwig II. als Administrator des Landes. Die Landstände und die Ritterschaft beschwerten sich wiederum über die ruinösen und absolutistischen Ambitionen des Herzogs. Der Kaiser handelte. Beide Schwarzburger Häuser nahmen 1733 das Angebot von Kaiser Karl VI. (reg. 1711‒1740) an, durch ein Reichsexekutions-Infanterie-Regiment aus zwei Bataillonen mit je 600 Mann, zu 12 Kompanien je 100 Mann, ihn in seiner Mission gegen Bezahlung zu unterstützen. Regimentschef war Oberst Johann Adolf von Diepenbroick. Ihm wurde das Kommando über das […] hochfürstliche Schwarzburgische Infanterie-Regiment Römisch-Kaiserlicher Kommissionstruppen im Mecklenburgischen Lande […] übertragen. Das Bataillon aus Schwarzburg-Sondershausen kommandierte Major Georg von Uhder, das aus Schwarzburg-Rudolstadt unterstand Oberstleutnant Christoph Friedrich von Dobeneck. Auch fremde Angeworbene, also Ausländer, sind den Musterungslisten zu entnehmen. Die Regimentseinheiten wurden umgehend vereidigt.
Der Abmarsch erfolgte im Spätherbst 1734. Eine erste bekannte Listenerfassung der Militärs aus beiden Fürstentümern ist vom November 1734 aus den Musterungsorten auf den Schlössern Sondershausen, Rudolstadt, Arnstadt und Frankenhausen bekannt. Ende Januar 1735 standen die schwarzburgischen Truppen vor Schwerin, die von Wittenförden kommend auf die Landeshauptstadt vorrückten. Herzog Carl Leopold floh Anfang Februar über den Schweriner See und das Dorf Görslow nach schwedisch Wismar. Nach dem Einrücken in Schwerin bis zum Abschluss der militärischen Mission wechselten kleinere Truppeneinheiten in verschiedene Ämter und Orte des Landes, um Quartier zu nehmen und präsent zu sein: Schwerin, Bützow, Warnemünde, Kröpelin und Penzlin, Güstrow, Waren, Neustadt und Grabow sowie auch Kleinow/Ludwigslust. Eben dort, wo sich der abgesetzte Herzog Carl Leopold mit seinen Anhängern im Lande noch zeitweise aufhielt. Letztlich wurde das Regimentkontingent gänzlich von Mecklenburg-Schwerin bezahlt und verköstigt. Als Beleg dafür mussten diese Musterungs-Listen vorgelegt werden. Den Garnisons-Stützpunkten waren 1745 folgende Kompaniegrößen zugeteilt: Schwerin erhielt vier Kompanien, Güstrow drei, Rostock zwei, Neustadt(-Glewe) eineinhalb, Waren(/Müritz) ebenfalls eineinhalb, im Wesentlichen zwischen 1 155 und 1 180 Mann. Der Rest war krank oder begründet entlassen worden.
Zu ernsthaft kriegerischen und umfassend zerstörerischen Handlungen ist es nicht gekommen. Offiziere und Mannschaften fühlten sich offensichtlich recht wohl in Mecklenburg, so auch Soldat Preßler in Dömitz, Kleinow, Neustadt und Grabow. Nach dem Ableben von Herzog Carl Leopold 1747 stellte die kaiserliche Kommission ihre Tätigkeit Anfang 1748 ein. Damit war auch die Aufgabe der kaiserlichen Exekutionstruppe hinfällig geworden. Die monatlichen Zuwendungen des Landes werden zum 1. März 1748 eingestellt. Im Journal endet die Abrechnung aller Einnahmen und Ausgaben mit dem Vormonat.
Statt in Regimenter von Soldtruppen nach Preußen oder Holland zu wechseln, verblieben einige Soldaten in Mecklenburg oder desertierten. Im Tauf- und Kopulationsregister des Kirchenbuches von Groß Laasch für das Filialdorf Kleinow werden mehrfach schwarzburgische und preußische Soldaten aus dieser Zeit bei der Anmeldung ihrer unehelich geborenen Kinder zur Taufe oder für eine Heirat mit einer Einheimischen erwähnt.
Preßler lässt sich ausmustern, verbleibt im Amt Grabow und widmet sich, der neuen Chance folgend, wieder seinem erlernten Beruf. Es folgte die Zeit des Sesshaftwerdens, die Wiederaufnahme handwerklicher Arbeit unter Beachtung der Regularien in der Zunftstruktur mit allen Vorbehalten gegenüber der ländlichen und vor Ort zunehmenden höfischen Gesellschaft. Er galt nach der Ausmusterung noch Jahre als Ausländer. In der zukünftigen Residenz begann nach 1763 das Bauen zu boomen. Für den vorübergehenden Aufenthalt im Komplex des Jagdschlosses wurden noch Reparatur- und Erweiterungsarbeiten veranlasst. Für Herzog Friedrich war das letztlich nur eine Übergangslösung. Vordergründig war der Bau des Residenzensembles, waren neue Wohnquartiere und adäquat mit Beräumung der Gehöfte in Kleinow war der Aufbau des angrenzenden, neuen Ortskerns. Als Hauptstraße und Verbinder für die Residenz wurde die Große Straße angelegt, heute Schlossstraße. Somit wurden mehr und mehr Handwerker benötigt. Auch das war für Preßler Grund zu bleiben. Seine Loyalität, womöglich auch als gebürtiger Thüringer, verschaffte ihm gelegentlich Zutritt zu Räumen im Jagdschloss zur Erledigung von Handwerksleistungen. Preßler muss über solide Fachkenntnisse im Maurerhandwerk und der Natursteinverarbeitung verfügt haben, so dass er gewissermaßen als Vorarbeiter ein geschätzter, tatkräftiger Maurer war. Sein Bestreben muss es gewesen sein, den Meistertitel zu erwerben. Als Meister hatte er volles Bürgerrecht. Ebenso könnte auch ein Zureden von Hofbaumeister Busch hierzu geführt haben.
Bei der Anmeldung seines Sohnes Jochen Heinrich Asmus 1767 zur Taufe betitelte Pfarrer C. Leberecht Rehberg den Vater mit Maurermeister Preßler allhier. Als Paten werden genannt: Zimmermeister Jochen Hinrich Giese, ein Stallbedienter Jochen Hinrich Burmeister und der selbstständige Tischler Hinrich Asmus Niemeyer, alle aus Ludwigslust. In dieser Zeit besaß Preßler bereits ein kleines Handwerksunternehmen mit einigen Gesellen und Handlangern. Dieser Titel als Freimeister ist ihm vermutlich aufgrund seiner Befähigung und der Kenntnisse in den Baugewerken nicht über die Zunft, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach Prüfung durch den Hofbaumeister und nach Zustimmung durch den Herzog anerkannt worden. Der Freimeister oder auch privilegierte Meister wurde durch den Landesherrn auf Bitte hin mit dem Meisterprivilegium gnadenweise ausgestattet. Mit der Benennung von Freimeistern wollte Herzog Friedrich gleichzeitig gegen ein erstarrtes Zunftwesen einschreiten und im Rahmen seiner Reformbemühungen zur Forcierung der Gewerbeentwicklung beitragen.
Fähige Handwerker, die aus dem Zunftniveau herausragten, konnten gelegentlich diesen Status Meister erwerben. Sie sind in etwa vergleichbar mit den Hof-Handwerkern und genossen bei der Obrigkeit einen guten Ruf. Den Lehrbrief und den Nachweis über die Wanderjahre, mindestens zwei Jahre als rechtschaffender Geselle auswärts gearbeitet zu haben, hatte auch er zu erbringen. Als ausgemusterter Söldner eines kaiserlichen Regiments muss Preßler recht gut über ein entsprechendes finanzielles Polster (und zum Nachweis) verfügt haben. Somit konnte Meister Preßler als Selbstständiger agieren, Gesellen beschäftigen und Lehrburschen ausbilden, auch wenn der Ältermann und die Zunftmeister darin eine unliebsame Konkurrenz sahen. Fähige Handwerksmeister waren stets erwünscht, ausgebildete Handwerker umso mehr. Sein bürgerliches Bewusstsein und Ansehen verschafften Preßler letztlich als Fremdem Zugang und Vertrauen zu den Zunftmeistern. In seiner Zeit war er ein ehrenwerter Handwerksmeister, obgleich es viele biografische Lücken gibt.“
Und damit sind wir bei dem fünften und letzten Deal der Woche angelangt, der zum Supersonderpreis von nur 99 Cents zu haben. Der dafür zu erwerbende Titel ist ebenfalls eine Eigenproduktion der EDITION digital und gewissermaßen noch fast druckfrisch – „Leben aus dem Schatten“ von Arnold Hiess ist der zweite von Teil von „Die Memoiren von Cartouche, dem Meisterdieb und Templermeister“: Der Autor nimmt den Leser mit auf eine Reise ins 18. Jahrhundert und erschuf gleichzeitig ein detailgetreues Paris der damaligen Zeit, in das man beim Lesen nahezu völlig eintaucht. Im vorliegenden zweiten Teil erzählt Arnold Hiess die wahre Lebensgeschichte des Meisterdiebs zu Ende und lässt dabei das damalige Leben und die dramatischen Ereignisse wieder auferstehen. Mit vielen fesselnden Elementen und historisch korrekten Facetten ausgestattet, wird es dem Leser hierbei nahezu unmöglich gemacht, vor dem Ende der Geschichte in sein eigenes Leben wieder zurückzufinden. Dabei lässt Arnold Hiess die Welt der Tempelritter wieder aufleben, die bis zu ihrer Verfolgung und Auslöschung ihr Hauptquartier in Paris hatten, und forscht nach all ihren Geheimnissen und Schätzen. In brillant erzählten Abenteuern und Zeitreisen erlebt der Leser Geschichte seit der Templerzeit und viele spannende Geschehnisse. Cartouche stellt auf seinem Lebensweg die Liebe in drei speziell gedachten Facetten immer mehr ins Zentrum seines Denkens und entwickelt sich im Alter fast zum Philosophen. Das Buch kann dadurch auch als spektakuläre Lebensanleitung für unser heutiges modernes Leben verstanden werden – ganz abseits herkömmlicher Religionen …
Was wirklich zählt im Leben, sind die eigenen Träume und deren Umsetzung – auch gegen den Widerstand vieler Konventionen. Und was wirklich zählt im Leben, ist die Liebe zu einem besonderen Menschen: Wer dieses Glück in sich trägt, sieht mit dem Herzen bereits die neuen Blumenwiesen – auch hinter dem Tod. Aber lassen wir Cartouche selber zu Wort kommen:
„Als ich nach Stunden zu mir kam, schweifte mein Blick verwirrt durch die Gegend und ich spürte, wie unser weißer Schäferhund Lucas an meinem Handrücken schleckte. Ich lag in einem Bett im Untergrundversteck und alsbald erblickte ich Babette, die mich hierher verfrachtet hatte. Ich kraulte kurz den Kopf von Lucas, stand auf und versuchte, zu mir zu kommen. Babette hatte Tränen in den Augen, fiel mir um den Hals und schluchzte. Sie konnte es ebenso wenig wie ich selbst fassen, dass Elá an diesem Tage in den Flammen verstorben war. „Warum habt ihr mich bloß weggeschickt?“, fragte sie mich, bitterlich weinend. „Hättest du auch verbrennen wollen?“, antwortete ich ihr mit leiser, trauriger Stimme. Babette setzte sich aufs Bett, antwortete mir aber nicht, und ihr Blick wurde starr. Sie schien völlig fertig zu sein.
„Ich muss ihren Leichnam begraben. Diese Widerlinge schänden sonst ihren leblosen Körper“, sagte ich, während ich frische Verbände um meinen verletzten Arm wickelte, der höllisch schmerzte. „Sei vorsichtig. Ich will dich nicht auch noch verlieren“, mahnte Babette leise und richtete ihren Blick auf den Boden des Untergrunds.
Ich nickte, küsste sie auf die Stirn, schaute kurz in ihre rehbraunen Augen, streichelte über ihre dunkelblonden Haare und verschwand aus dem Zimmer. Mein physischer und psychischer Zustand war weiterhin sehr schlecht; ich musste jedoch unbedingt zurück zum Ort des Grauens, um den leblosen Leib meiner geliebten Elá zu holen. Es war kein Geheimnis, dass man die verbrannten Leichen der Hexen verstümmelte, um eine Wiederkehr ins Reich der Lebenden zu verhindern. Diese Menschen waren dumme Narren und ich musste meiner Mademoiselle unter allen Umständen ein würdiges Begräbnis verschaffen. Ich stieg die Stufen der Kanalisation hinauf. Oben angekommen, blies mir ein unangenehm frischer und böiger Wind um die Ohren. Der Himmel wurde von gespenstischen, schwarzen Wolken verdeckt, die Vögel flogen tief und ich hatte bereits den Duft von Regen in der Nase. Mit einem Pferdefuhrwerk fuhr ich zum Scheiterhaufen, hatte fortdauernd Elá vor Augen. Ich sah ihr Gesicht. Ihr Lächeln. Ihre wunderschönen Augen. Ich weinte entsetzlich, weinte um meine verstorbene Mademoiselle. Ich blickte auf die Straße. Ein königlicher Offizier, ein großer, breitschultriger Kerl, den man La Volpe, den Fuchs, nannte, wanderte die Straße entlang. Er trug eine königliche Uniform und in seiner ledernen Scheide steckte eine Schiavona – ein leichtes italienisches Schwert mit einem goldenen Griffkorb. Diese widerlichen Bastarde kannten keinerlei Gnade, es sei denn, man war einer von ihnen.
Kurz bevor ich ankam, spürte ich die ersten Regentropfen auf meiner Haut und ich zog meine Kapuze über den Schädel. Schon von weitem sah ich zwei Männer, die den toten Körper bewachten, und roch den Qualm, der noch immer in die Luft drang. „Monsieur! Sie dürfen sich hier nicht aufhalten. Das ist ein Befehl!“, fuhr mich einer der Wächter an. „Verschwindet, oder ihr werdet es bereuen!“, erwiderte ich aggressiv und blickte grimmig. Die Männer lachten lauthals. Ein paar Augenblicke später lagen sie am Boden, krümmten sich vor Schmerzen von meinen Faustschlägen. Ich betrachtete den Scheiterhaufen, sank auf die Knie und schluchzte wie ein kleines Mädchen. Die Flammen waren fast erloschen, doch leichte Rauchschwaden schlängelten sich noch immer gen Himmel.
Elás verkohlter Leichnam befand sich mittig an einem Pfahl, den Kopf nach unten geneigt. Unter Tränen umarmte ich meine verbrannte Elá, weinte – und legte sie dann auf mein Fuhrwerk. Während der Regen immer stärker wurde, fuhr ich zu unserem Platz am Le Champ de Mars. Dort, auf unserem kleinen Hügel, sollte ihre letzte Ruhestätte sein, im Bezirk Le Invalides sollte sie für immer ruhen. Dort angekommen, grub ich mit einer Schaufel und einer Spitzhacke eine tiefe Grube.
Mittlerweile schüttete es wie aus Eimern, Blitze zuckten, die die stockdunkle Nacht erhellten; es donnerte mehrmals. Ich legte den verkohlten Leichnam meiner geliebten Elá in die Grube und schaufelte die Senke wieder zu. In dieser Nacht pflanzte ich auch einen Kirschbaum auf ihrem Grabe – dieser Baum war ihr Lebensbaum und sollte mich für meine weiteren Lebenstage immer an sie erinnern. Er möge wachsen und gedeihen; er möge genauso stark und wundervoll werden, wie sie es war. Oh! Sie war einfach fantastisch. Wahrlich! Als ich nach Stunden endlich fertig geworden war, blickte ich auf meine Gewänder und Hände: Es regnete in Strömen, ich war von oben bis unten voller Schlamm und kalter Erde, völlig durchnässt und müde. Doch ich senkte meinen Kopf, faltete meine Hände, betete zu Gott und bat ihn, auf meine Elá aufzupassen. Regentropfen, die sich wie kalter Stahl auf der Haut anfühlten, peitschten mir ins Gesicht. Böige Winde, die mir fortwährend um die Ohren pfiffen, fegten durch den Bezirk. Blitze zuckten und Donnergrollen folgte. Und während meines Gebets flossen meine Tränen wie Sturzbäche über die Wangen. Ein Aufschrei folgte – ich schrie all meinen Schmerz in die stockdunkle Nacht hinein. Aber ich hatte es geschafft – Elá bekam ein ehrenvolles, ihr würdiges Begräbnis und sie hatte nun ein Plätzchen, wo sie für immer ruhen konnte. Oh, Elá! Ich werde dich niemals vergessen! Niemals! Du warst die Frau, die mir, nachdem wir uns später richtig gefunden hatten, mein Leben schöner und heller machte, die Frau, die mir alles bedeutet hat. Ein Leben ohne dich konnte und kann ich mir nicht vorstellen.
Wie sollte es ohne sie bloß weitergehen? Ich wusste es nicht, hatte keine Ahnung, ob ich diese schlimmen Stunden überstehen würde. Ich hoffte nur, dass es ihr trotz allem gut gehen möge, dort, wo sie nun war, dort, wo ich nicht genau sagen konnte, was dies genau bedeutete. Mein Engel, mein leuchtender Stern am Himmelszelt – er war nicht mehr. Ich fühlte massive Trauer und Schmerz; ich war völlig am Ende. Doch eines wusste ich genau: Ich bin Louis-Dominique Bourguignon. Ich bin Cartouche, der Templermeister von Paris. Ich werde Rache üben – an jenen, die meine Frau auf dem Gewissen haben. Vergeltung wird mit Blut geschrieben …
Ein paar Tage darauf stand ich auf den Dächern der Häuser, wischte über meine Gesichtsnarben und ging ein Stück nach vorne, um die Rue de la Cité besser überblicken zu können. In der Ferne ragten die Glockentürme der Notre Dame Ehrfurcht gebietend in den Nachthimmel; die Sterne glitzerten und der Vollmond thronte am Firmament. Aus den Straßenlaternen schimmerte warmes Licht, und ich beobachtete einige meiner Mitmenschen, die sich auf der Straße tummelten. Zwei Männer flanierten die Straße entlang, wirkten gelöst. Sie trugen edle Gewänder und rote Umhänge, gehalten von silbernen Broschen, die im Licht der Straßenlaternen aufblitzten. Ich erkannte diese Umhänge – die beiden Männer schienen aus St. Denis zu kommen – aus dem nebeligen, düsteren St. Denis, in dem an manchen Tagen die Luft zum Schneiden war, aus dem gespenstischen St. Denis, in dessen Herzen die große Kathedrale lag, die die Gebeine unserer toten Könige beherbergte, aus dem zugigen St. Denis, in dem der Wind die Fensterläden der Häuser an manchen Tagen wie menschliche Skelette klappern ließ, aus dem gruseligen St. Denis, wo sich manche Menschen erzählten, dass auf dem großen Friedhof nachts ruhelose Seelen ihr Unwesen trieben und Horden von Raben wie Totenvögel um die Stadt kreisten, aus St. Denis, das nördlich von Paris lag und wo auf den schlammigen Straßen Hunderte Bürger tagtäglich um ihr Leben kämpften. Bettler, Waisenkinder, Schwache, Kranke – sie alle fristeten ein erbärmliches Dasein und bettelten die Oberschicht um ein paar Livre an, damit sie überhaupt einen weiteren Tag überleben konnten. Die beiden Männer, die ich auf der Rue de la Cité erblickte und die aus St. Denis stammten, gehörten der Oberschicht an. Was hatten sie in Paris verloren? Waren sie zum Feiern hier? Oder auf der Durchreise? Kurz darauf bemerkte ich ein junges Mädchen mit langem seidigem, braunem Haar, etwa 18 Jahre alt und rot gewandet. Es weinte heftig. Die Tränen flossen über ihr Gesicht – ihr schwarzer Kajal lief ihre Wangen hinab, während sie mit gesenktem Kopf die Straße entlangschlenderte.
Ich spürte es; fühlte es – ich spürte die Schmerzen in ihrer Brust. Ein paar Herzschläge später lehnte sie sich an eine Hausmauer, ehe sie zusammensackte, die Beine angewinkelt, den Kopf im Schoß vergraben – sie weinte immer weiter. Wurde sie an diesem Abend von ihrer großen Liebe abgelehnt? Hatte sie Streit mit ihrem Freund? Konnte sie jemanden nicht vergessen, der ihr Herz mit Licht füllte? Dachte sie auf den Gehwegen oder den Boulevards oder unter den Öllampen der Straßenlaternen an ihn? Beschleunigten sie vielleicht zu schnell, um sich richtig zu lieben? Was war passiert? Ich wusste es nicht – ich spürte bloß die Schmerzen in ihrer Brust. Sekunden später bemerkte ich ein paar hundert Meter weiter ein altes Ehepaar, das vor seinem Haus auf einer hölzernen Bank saß. Ein Lächeln umspielte die Lippen der beiden, und dennoch erkannte man Trauer in ihren Gesichtern. Wünschten sie sich vielleicht ein Kind, aber es klappte nicht recht? Hatten sie einen Wunsch, den Gott ihnen nicht erfüllte? Ich war überfragt. Augenblicklich entdeckte ich zwei Knaben, schwarz gewandet, die über die Straße sausten. Sie lachten, spielten Fangen und wirkten glücklich.
Millionen Lichter, werter Leser! Millionen Lichter streifen Tag für Tag durch unsere Welt – Lichter, die Kummer in sich tragen, obwohl sie lächeln, Lichter, die schwere Momente mitmachen, die sie hoffentlich überstehen werden, Lichter, die noch ihre kindliche Unbeschwertheit und Lebensfreude zeigen. Wir alle sind Gefangene der Zeit. Und jeder erlebt in dieser Zeit schwere und schöne Stunden. Dunkelheit, Helligkeit. Es braucht beides, denn die Scherben spiegeln das Licht. Kurz darauf drehte ich mich um, setzte meine Maske auf, während meine Gedanken um mein eigenes Leben kreisten. Ich hatte viele Namen: Räuber, Mörder, Bandenchef, Kasper, Schauspieler, charakterloser Filou. Doch ein Name blieb – Cartouche. Und dieser Name hatte ganz Frankreich in Angst und Schrecken versetzt. Rien ne va plus. Denn eigentlich war ich 1721 qualvoll am Rad verstorben; alle dachten dies – doch ich lebte. Diese törichten Narren spielten mit meinem Namen Theaterstücke in den Cafés, diese törichten Narren sprachen noch immer von meinen Taten, über die sie sich köstlich amüsierten. An meinem vermeintlichen Todestag hatte ich ihre Gesichter gesehen – die Gesichter all jener, die mich bespuckten, die spotteten und lachten, und all jener, die mich geißelten wie den größten Sündenbock, den die Geschichte Frankreichs je gesehen hatte. Alle dachten, ich wäre tot; alle dachten, ich würde nicht mehr in diesem Leben weilen – aber ich lebte, werter Leser meiner Memoiren. Ich lebte.“
Und nur deshalb konnte Cartouche auch seine Memoiren verfassen, obwohl er doch eigentlich längst gestorben war. Aber Autor Arnold Hiess hatte da eine ganz andere Idee und so können sich Leserinnen und Leser nicht nur mit dem weiteren Schicksal dieses berühmten Pariser Meisterdiebs, sondern auch mit seinen Gedanken über die Rätsel des menschlichen Lebens und der Liebe vertrautmachen.
Aber auch die anderen vier aktuellen Angebote lohnen das Ansehen. Viel Spaß beim Lesen und beim Wandern durch die Zeiten und bis demnächst.