Eine vom Jugendwerkhof, ein vergnügtes Wollknäuel von Adel und Fontanes Sommerfrischen – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
(Pinnow 02.08. 2019) Gesucht wird die freundliche Welt. Höchst aktuell klingt dieser Untertitel des ersten der aktuellen Angebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 02.08.19 – Freitag, 09.08.19) zu haben sind. Gesucht wird die freundliche Welt ist der Untertitel zu dem Buch „Sabine Wulff“ von Heinz Kruschel, in dem er von einer jungen Frau erzählt, in deren Leben nicht immer alles gut gelaufen ist, die dennoch eine zweite Chance bekommt und die sich ihren Platz in der Welt erkämpfen will. Gesucht wird die freundliche Welt – natürlich auch schon zu DDR-Zeiten. Damals wie heute war und ist das aber gar nicht so einfach. Dennoch bleibt es aktuell.
Heinz Kruschel ist auch der Autor des zweiten Sonderangebotes des heutigen Newsletters. „Fine, das Teckelmädchen“ beginnt mit einer unerwarteten Osterüberraschung, die vieles durcheinanderbringt.
„Bazillus phantastikus“ präsentiert Utopische Erzählungen von Günther Krupkat, einem der SF-Pioniere in der DDR-Literatur.
„Sieben fielen vom Himmel“ - so lautet der Titel eines weiteren Angebotes aus dem Genre der SF-Bücher von Alexander Kröger. Es ist zugleich der 1. Teil seiner Centauren-Trilogie.
Und passend zum Jubiläumsjahr ist Gisela Heller „Unterwegs mit Fontane von der Ostsee bis zur Donau“. Das waren die fünf E-Books, die in dieser Woche zum Sonderpreis zu haben sind.
Zum Normalpreis dagegen ist der aktuelle Beitrag der Rubrik Fridays for Future zu kaufen. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Aus Anlass der 80. Wiederkehr des Beginns des von Hitler angezettelten Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 befasst sich die Fridays-for-Future-Bewegung, die in dieser Woche vom 31. Juli bis zum 4. August in Dortmund ihren ersten großen „Sommerkongress“ abhält, mit dem Thema Krieg und Frieden: Wie und warum „entstehen“ eigentlich Krieg? Wie kann man sie verhindern? Und was lässt sich für den Frieden anstellen? Genau dazu präsentiert EDITION digital in dieser Woche ein Buch von Hans Bentzien, in dem er auch spannende Einblicke in die Biographie von Admiral Canaris gibt. Vor allem aber geht es um den Beginn von Kriegen lange vor deren tatsächlichen Beginn:
Erstmals 2004 veröffentlichte Hans Bentzien in der Edition Ost Berlin seine Untersuchung „Division Brandenburg. Die Rangers von Admiral Canaris“: Bevor Hitlers Wehrmacht fremde Länder überfiel, bereitete ein militärischer Verband den Boden dafür, indem er kriegswichtige Objekte besetzte - mit allen nur denkbaren verbrecherischen Mitteln. Man weiß heute wenig von den berüchtigten „Brandenburgern“, die unter Abwehr-General Wilhelm Canaris für dieses heimtückische Vorgehen in Hitlers Blitzkrieg ausgebildet wurden. Ihre Einsätze beruhten auf Tarnung, Täuschung, Sabotage, Terror, Mord; sie wurden geheim gehalten oder später in Landser-Manier heroisiert. Der Autor verfolgt die blutige Spur der nach ihrem ursprünglichen Ausbildungsplatz benannten Einheit. Ihre Wege führen durch ganz Europa, nach Afrika und Asien. Heute gilt ihre zielgerichtete Erstschlagtaktik und Ranger-Manier in Militärkreisen wieder als vorbildlich. Höchste Zeit, an das wahre Gesicht der „Brandenburger“ zu erinnern. Hier ein Beispiel dafür, wie Kriege „produziert“ werden und welchen Anteil Canaris daran hatte. Hier ein kurzer Ausschnitt aus dieser aufschlussreichen Publikation, in der übrigens auch der Wagner-Festspielort Bayreuth eine gewisse Rolle spielt:
„Bürgerkrieg in Spanien
Im Juli 1936 bricht in Spanien, im Land, dem sich Canaris besonders verbunden fühlt, der Bürgerkrieg aus. Eine Gruppe reaktionärer Offiziere bricht ihre Pflicht gegenüber der demokratischen Volksfrontregierung und putscht. Doch wichtige Landstriche, Teile der Marine und der Luftwaffe, schließen sich nicht an, die größten Städte sind in der Hand der Republikaner. Eine Welle der Empörung erfasst die sozialistische Bewegung in Europa und Amerika, Hilfsaktionen für die Republik entwickeln sich, Freiwillige eilen nach Spanien, darunter auch viele Deutsche, von Hitler Verfolgte. Die Sowjetunion liefert Ausrüstung und Waffen, auch die Volksfrontregierung in Frankreich unterstützt die Republikaner. Die spanischen Generäle wenden sich um Hilfe an Italien und Deutschland, weil sie wohl nicht zu Unrecht damit rechnen, dass sie bei den faschistischen Diktaturen, sie selbst streben eine faschistische Diktatur in Spanien an, Unterstützung finden werden. Vor allem geht es um Flugzeuge, um die putschenden Truppenteile von den Inseln und von Nordafrika auf das Mutterland zu fliegen.
Doch wider Erwarten lehnt Mussolini eine Hilfe ab und bleibt anfangs auch dabei, obwohl die Nationalisten und ihre italienischen Sympathisanten ihn belagern. Erst als die verschiedenen Gruppierungen unter den Rechten, die Monarchisten, Carlisten, Falangisten und auch der sich in den Vordergrund schiebende General Franco versichern, ihr künftiger Staat würde dem faschistischen Staat in Italien gleichen, stimmt er zu und stellt zwölf Transportflugzeuge zur Verfügung, von denen allerdings eines abstürzt und zwei weitere im französischen Marokko notlanden.
Das deutsche Außenministerium empfängt die spanischen Bittsteller mit kühler Zurückhaltung. Es fürchtet erhebliche Einbußen an Ansehen und Nachteile für den Außenhandel, wenn die Aufrührer unterstützt würden. Die NSDAP aber begleitet die Sendboten nach Bayreuth, wo Hitler die Wagner-Festspiele, bei denen er gern gesehen ist, besucht. Nach einer Vorstellung übergeben sie ihren von Franco geschriebenen Brief. Danach beruft Hitler eine Sitzung ein. Er steht der Bitte ablehnend gegenüber, er fürchtet mit Frankreich und England könnten neue Schwierigkeiten entstehen, haben sie doch gerade erst die Besetzung des Rheinlandes durch die Wehrmacht schlucken müssen.
In später Stunde kommen die anwesenden Regierungsmitglieder, Göring, Blomberg und Admiral Canaris, der ebenfalls Gast der Festspiele ist, bei Hitler zusammen. Bis zum Morgen um 4 Uhr besprechen sie den Fall. Göring und Blomberg raten von einer Unterstützung der Rebellen ab, den Ausschlag aber gibt Canaris pro Franco. Er argumentiert damit, dass die Volksfrontregierungen de facto eine Ausbreitung des Kommunismus in Westeuropa bedeuten, nach Frankreich nun auch noch Spanien. Damit würde auch Deutschland in die Zange genommen, das genau in der Mitte läge. Canaris überzeugt mit seiner Landes- und Personenkenntnis und gibt ein positives Porträt von Franco, den er sehr gut kenne. Er sei ein asketischer Mann, sehr begabt, immer als Jüngster auf der Rangleiter der Militärs, obwohl Katholik für die Trennung von Kirche und Staat, weil er deren Einfluss auf die Armee nicht duldet.
Die Neugier bei den beteiligten Männern wächst, sie müssen annehmen, dass Franco dem Nationalsozialismus und dem Faschismus mit Sympathie gegenübersteht, was aber keineswegs der Fall ist. Besonders lehnt er die Rassengesetze Hitlers ab, da er spürt, dass auch sein Volk zu den „minderwertigen“ gezählt wird. Diese Überzeugungen Francos verschweigt Canaris. Auch Görings Meinung, man könnte einige Flugzeuge gegen Devisen verkaufen, folgt er nicht, darauf komme es nicht an. Der politische, antikommunistische Aspekt solle entscheidend sein, dass man neue Waffen erproben könne, käme noch positiv hinzu. Nachdem er noch erwähnt, er sei vor einigen Stunden informiert worden, dass Mussolini Flugzeuge freigegeben habe, stimmt Hitler endlich zu.
Nun regeln Keitel, als Vertreter von Blomberg, Göring und Canaris die Einzelheiten, jetzt läuft die Maschinerie. Harmlos klingende Firmen werden gegründet, die die Lieferungen abwickeln sollen, vorerst sind 20 Transportflugzeuge Junckers Ju-52 und sechs Jäger Heinkel He-51 angekündigt. Franco bedankt sich mit der Meldung, dass drei Generale, unter seiner Leitung noch Queipo de Llano und Mola, die neue spanische Regierung bilden werden. Nun kann sich Canaris auf weitere Schritte zur Niederschlagung der republikanischen Regierung einrichten. Ein Vierteljahr nach Beginn des Putsches fliegt er nach Spanien, um Franco zu besuchen.
Er wird sofort empfangen und erfährt, dass eine Offensive auf Madrid beginnen wird, Toledo sei schon genommen, gleich danach auch Oviedo. Doch unter vier Augen dämpft Canaris den Optimismus Francos. Er unterbreitet ihm genaue Angaben über die Lieferungen der Sowjetunion, die unterwegs sind und die Dardanellen bereits passiert haben. In der Tat, die sowjetischen Frachtschiffe sind mit erheblichen Lieferungen bereits im Mittelmeer und werden in kurzer Zeit ausladen können. Die Bewaffnung der Internationalen Brigaden, die inzwischen aufgestellt werden, ist damit gesichert. Angesichts dieser Militärmacht könnten die Nationalisten mit ihren schwachen Landstreitkräften die Hauptstadt nicht einnehmen, was sich auch bewahrheitete.
Franco erkannte anscheinend die Überlegungen Canaris an und legte seine Absicht dar, in den von ihm kontrollierten Gebieten eine Armee zu rekrutieren. Dafür versprach Canaris die Unterstützung, wenn er sich an Italien und Deutschland mit der Bitte um Hilfe wenden würde. Nun hielt er nicht mehr mit der eigentlichen Besorgnis hinter dem Berg. Der deutsche Generalstab hielt die Kampfesweise der Francotruppen für äußerst unzulänglich, besonders die Luftangriffe seien nicht konzentriert. Alles müsse auf Madrid gerichtet werden, der Fall der Hauptstadt solle so schnell wie möglich erfolgen, das hätte die diplomatische Anerkennung der Regierung zur Folge, und damit wären weitere Hilfslieferungen einfacher und sicherer.
Franco ist anderer Meinung. Er will den Krieg schonend führen, um so wenig wie möglich das Land und besonders seine Industrie zu schädigen: „Zwingen Sie mich nicht zur Eile“. Obwohl Canaris diesen Standpunkt unterstützt, muss er doch Franco die deutschen Bedingungen für militärische Hilfe übergeben: Die deutschen Verbände stehen ausschließlich unter deutschem Befehl, wenn es auch nach außen anders aussehen soll. Ihre Stützpunkte, besonders die Flugplätze müssten ausreichend gesichert sein. Es sei zu einer aktiveren Kriegführung überzugehen, sie sei rationeller zu gestalten und sollte als erstes auf die Häfen, in denen die russischen Schiffe ausladen, gerichtet sein. Freiwillige würden nicht geschickt werden, lediglich das Fliegerkorps, die „Legion Condor“. Sollte Madrid erobert sein, würde die Anerkennung am nächsten Tag erfolgen und der Geschäftsträger Wilhelm Faupel, ein General, den Hitler als seinen Regimentskommandeur aus dem ersten Weltkrieg kennt, seine Tätigkeit sofort aufnehmen.
Ein paar Tage später wird die „Legion Condor“ aufgestellt, die Anerkennung der Regierung Franco erfolgt bereits im November, obwohl Madrid noch nicht erobert worden ist. Faupel trifft in Salamanca ein. Beide Partner halten nicht viel voneinander. Faupel ist für Franco nur ein preußischer Nazi, Franco für Faupel zwar sympathisch, aber mit seinem Amt überfordert. Obwohl in einer römischen Konferenz, bei der auch Canaris anwesend war, die Grenzen für die Spanienhilfe festgelegt wurden, weitet Italien seine Zusagen aus und schickt die „Schwarzhemden“, eine gut ausgerüstete Freiwilligen-Truppe, Deutschland verweigert die angeforderte Division, und es bleibt bei der Legion der Luftkräfte.
Canaris aber zieht sich von der direkten Unterstützung der militärischen Belange zurück und verschafft durch seine Agenten weitere Waffen aus anderen Quellen, aus Tschechien und den USA. Die finanzielle Unterstützung wird über London abgewickelt, manchmal muss Deutschland in Vorkasse gehen. In der spanischen Botschaft in Berlin arbeiten bekannte Leute aus der früheren spanischen Zeit, mit denen es sich problemlos verhandelt, und auch der Rüstungsbeauftragte Francos ist ein alter Bekannter, der Industrielle Augusto Miranda. Canaris hat mit seiner Weichenstellung in der Bayreuther Nachtsitzung in einem guten halben Jahr Deutschland fest in ein Kriegsabenteuer eingebunden.“
Und damit zu den fünf aktuellen E-Book-Angeboten zum Sonderpreis:
Erstmals 1987 veröffentlichte Heinz Kruschel beim Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig „Sabine Wulff – Gesucht wird die freundliche Welt“: Sabine Wulff reißt von zu Hause aus und lebt mit Jimmy zusammen, der sie zum Zigarettendiebstahl verleitet. Dafür muss sie in den Jugendwerkhof. Nach der Entlassung möchte sie ein neues Leben beginnen. Sie mietet ein möbliertes Zimmer und arbeitet in einer Schuhfabrik. Ihre Kolleginnen reagieren misstrauisch und ablehnend. Doch sie hat einen starken Willen und vertritt offen ihre Meinung. Sie deckt einen Betrug auf und fasst allmählich in der Fabrik Fuß. Sabine sehnt sich nach Liebe und scheint von Jimmy nicht loszukommen. Doch in der Fabrik ist ein tüchtiger junger Mann, der Vorurteile gegen eine vom Werkhof hat. Zwei Jahre nach seinem Ersterscheinen, 1978, wurde das Buch unter dem Titel „Sabine Wulff“ von der DEFA verfilmt (Drehbuch und Regie: Erwin Stranka). Die Hauptrolle der Sabine Wulff wurde von der damals noch sehr jungen Karin Düwel, Jahrgang 1954, gespielt – der große Durchbruch der Schauspielerin in Kino und Fernsehen der DDR. Der von der Künstlerischen Arbeitsgruppe „Berlin“ auf ORWO-Color gedrehte 92-Minuten-Streifen wurde am 9. November 1978 im Berliner Kino Kosmos uraufgeführt. Ab 21. Oktober 1979 lief der Film in Kinos der Bundesrepublik und am 4. Dezember 1979 wurde er im 1. Programm des Fernsehens der DDR gezeigt.
Hier ein Ausschnitt, in dem eine andere Frau über Sabine berichtet:
„Aber halten Sie sich bitte an die Wahrheit
Selbstverständlich, was denken Sie von mir? Ich bin zwanzig, ein gutes Jahr älter als Sabine Wulff. Ich arbeite in der hiesigen Schuhfabrik, Abteilung Zuschneiderei, und bin dabei, mich zu qualifizieren. Zurzeit Lohngruppe vier, sechshundert Mark. Mein Mann ist Fernfahrer im gleichen Betrieb, und er verdient gut. Er will nicht, dass ich mit Sabine wieder eine Verbindung aufnehme. Und er hat recht. Aber ein bisschen leid tat sie mir schon heute früh.
Das muss vor über drei Jahren gewesen sein, als Sabine zu mir kam. Mit dem Rad. Wir wohnten etwas außerhalb. Ihr Rücken schmerzte. Ihr Vater hatte sie verprügelt. Ich zog ihr noch einen kleinen Holzsplitter aus dem Rücken.
Ich hatte ein eigenes Zimmer unterm Dach und sagte, sie könne die Nacht bei mir bleiben, wir würden heiße Musik hören und Bier trinken, sie solle ihre alten Herrschaften schocken. Man kennt das doch. Wenn man nicht nach Hause kommt, werden die Alten ganz klein und denken, man hat sich was angetan. Da kriegen sie einfach Schiss.
Sabine fragte mich, ob meine Eltern nichts dagegen hätten. Aber die merkten von solchen Besuchen gar nichts. Die bedienten unten in der Kneipe und im Garten, zählten abends die Kasse und waren viel zu müde, um nach mir zu sehen. Sabine blieb also diese eine Nacht. Sie hat wohl damals das erste Mal Bier getrunken. Sie war blau und weinte und sagte, das wäre alles so schön bei mir.
Sabine war immer ein bisschen verrückt, sie wollte immer alles ganz haben: Jimmy, die Freiheit, das Glück, so absolut, sogar die Ehrlichkeit. Dabei hat sie mal im Selbstbedienungsladen geklaut. Aber das kam erst später. Nach dieser Nacht fuhr sie nach Hause zurück. Es gab mächtigen Krach mit ihrer Mutter. Für die war ich ein verdorbenes Früchtchen. Seitdem wohnte Sabine bei ihrer Oma und konnte ziemlich alles tun, was sie wollte. Mich besuchte sie jede Woche. Manchmal schwänzten wir die Schule, besonders dann, wenn die Hitparade von drüben übertragen wurde. Und später nahm ich sie mit zu Jimmy und zu seiner Gruppe in die Stadt, hierher, in diese Stadt. Das muss für sie völlig neu gewesen sein. Erst dieses Elternhaus und dann Jimmy, vor dem jede von uns weiche Knie bekam. Und die Musik vom Band, das Bier, die Zigaretten, der Schnaps, die Jungen und Mädchen, die kamen und gingen, wie sie wollten, die tanzten, tranken, redeten und die sich befühlten, um sich kennenzulernen, um jede Scheu zu verlieren. Entspannungspsychologie, sagte Jimmy dazu. Sie war gleich in ihn verknallt. Als sie allein tanzte, sagte er, sie solle doch die ulkige Bluse ausziehen. Sabine tat es auch, sie trug nie Büstenhalter. In der Nacht blieb sie bei ihm. Da war sie noch nicht einmal sechzehn. Jimmy sei das absolute Glück, sagte sie, bei ihm fühle sie sich frei und vergesse alles. Dabei nutzte er sie eigentlich aus. So sehe ich das heute. Ich habe auch mal mit Jimmy geschlafen. Davon darf aber mein Mann nie erfahren, da war Sabine schon im Werkhof. Es ist ein halbes Jahr her. Die Gruppe ist das wichtigste, sagte er, und man ist unfrei, wenn man nur einen Menschen liebt. Mit ihm schlief es sich gut. Eigentlich besser als mit meinem Mann, Jimmy wurde nicht müde und hatte immer neue Ideen. Aber ich will ihn nicht wieder sehen. Meine Eltern haben den Anstoß dazu gegeben und mich vor die Wahl gestellt.
Ist meine Entscheidung nicht normal? Entweder mit Jimmy auf den Bastmatten wie in einem chinesischen Schlafzimmer oder die tolle Wohnungseinrichtung hier. Entweder gammeln mit nichts in der Tasche oder sparen auf ein Auto. Entweder Großfamilie, in der kaum einer ein Einkommen hat, oder einen Ehemann mit über tausend Mark im Monat. Ich will mein Leben genießen.
Nun ist Sabine also wieder frei. Ich war froh, dass mein Mann sie nicht gesehen hat. Sie wird allerdings bei uns im Betrieb arbeiten. Zum Glück in der Stepperei. Ich hätte ihr wohl nicht erzählen dürfen, dass ein paar Frauen im Speiseraum gesagt haben: Da wird bestimmt bald geklaut werden, wir müssen unsere Klamotten wegschließen.
Sie ist ziemlich gemein geworden. Hab ich es nötig, mir das anzuhören? Nun ist es endgültig aus. Ich will nun auch nicht mehr, dass sie zu uns kommt. So eine kann mich gar nicht beleidigen. Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen.
Aber die Jungs haben sich immer um Sabine gerissen. Gott, die leichte Ader, nicht wahr?
Sie hat gefragt, ob ich Komplexe hätte. Und ich solle mich von meinem Manne schön terrorisieren lassen. Ausdrücke hat die, richtig ordinär.
Ich weiß genau, dass sie wieder unter die Räder kommt. Von Jimmy lässt die nicht. Ich habe gehört, dass viele von denen, die aus dem Werkhof kommen, wieder rückfällig werden. Wetten, dass Sabine dabei sein wird? Das liegt im Charakter.
Mich interessiert, wie man schnell zu etwas kommt. Der Mensch lebt nur einmal. Alles andere lässt mich kalt. Darum leben wir auch gut. Ich arbeite nur bis zum ersten Kinde.
Und doch hat Sabine etwas, um das ich sie beneiden könnte. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Sie hat eigentlich immer gesagt, was sie dachte, und gemacht, was ihr einfiel, was sie gerade für richtig hielt. Da hat sie sogar den Lehrer Hardtgeb beleidigt.
Man muss sich anpassen können. Ich finde, wer ehrlich ist, der hat nur Nachteile...
Sabine ist nicht normal.
Das finden andere Leute auch, zum Beispiel Erich Wulff, Sabines Vater, der Schulfreund Frank, Lehrer Hardtgeb, die Erzieherin Wachtel vom Werkhof, die lange Vegas und sogar Jimmy.
Was heißt eigentlich NORMAL? Es könnte heißen, sich nach Normen zu bewegen und immer das zu tun, was derjenige, der sich selber für normal hält, von einem erwartet. Es könnte auch heißen, nicht aufzufallen, es mit keinem Menschen zu verderben, sich lieber die Zunge zu zerbeißen, als die Wahrheit zu sagen.
In diesem Sinne funktioniert sie nicht normal. Aber es gibt auch Menschen, die halten sie für normal, in einem anderen Sinne eben, wie das Erzieherehepaar Knuth, wie Onkel Karl Siedentopf und Hansel Voigt, ihr früherer Freund, wie Frau Doktor Ida Störeke und Direktor Schimmel, Hotte aus Jimmys Truppe und andere, für die es nicht nur Schubfächer für normale und solche für unnormale Menschen gibt.
Sabine sitzt nun schon seit einer reichlichen Stunde in ihrem schwülen Hinterhauszimmer.“
Erstmals 2001 legte Heinz Kruschel im Geest-Verlag, Vechta-Langförden die Tiergeschichte „Fine, das Teckelmädchen“ vor: Am Sonnabend vor Ostern geschieht es. Als Überraschung für die ganze Familie bringt Vater Klaus einen Hundewelpen mit nach Hause, Fine das Teckelmädchen. Selbst der Kater Barmer schließt sie rasch in sein Herz, wie auch die Mutter, Sohn Robert - der wie kein anderer mit den Ohren wackeln kann - und auch Tochter Petra. Nur Großmutter Wally bleibt ein wenig auf Distanz. Fine verändert das Leben der Menschen in dieser Familie. Hier der Anfang der Geschichte:
„1. Kapitel
Am Sonnabend vor Ostern geschah es.
Vater Klaus holte die Familie in die Küche, also seine Frau Johanna und die beiden Kinder Robert und Petra. Er hatte eine Überraschung mitgebracht.
Sie glaubten alle zu träumen.
Petra schloss eine Weile die Augen vor Freude. Die Mutter schüttelte den Kopf, und Robert sagte, auf seine große Schwester zeigend: „Fass sie, die petzt immer!“
Was da auf dem Tisch saß, das konnte noch gar nicht fassen. Da hatte doch Vater Klaus einen Hund gekauft, ohne Ankündigung, ohne vorher seine Frau gefragt zu haben, wie er es sonst immer getan hatte.
Eine Handvoll Hund saß vor ihnen auf dem Tisch. Wuschelig und saufarben, wie bei solchen jungen Hunden üblich, und so langhaarig, dass man kaum die Augen sehen konnte.
„Hübsch ist das ja“, sagte die Mutter. „Hübsch? Total süß“, sagte Petra und streichelte den Hund, „Klaus, wir danken dir.“ Sie war ein paar Jahre älter als Robert und durfte deshalb den Vater beim Vornamen nennen.
„Der ist viel zu mickrig“, sagte Robert.
Mutter fragte nach der Rasse und betrachtete den kleinen Hund von allen Seiten. Robert tippte auf Zwergpinscher und Petra auf Schäferhund, aber Mutter Johanna auf irischen Setter.
Er war nämlich so lang wie breit, ein lebendiger Ball, der mit seiner kleinen, dunklen, feuchtglänzenden Nase zu schnüffeln begann.
Es war kein Traum, da saß ein richtiger Hund. Ein Ostergeschenk.
Auf dem Tisch wurde es langsam feucht.
„Vielleicht hat der zuviel Cola getrunken“, sagte Robert, „und vielleicht veräppelt der uns auch und wird noch ein richtiger Neufundländer.“ Robert war der Kleinste in seiner Klasse.
Nun nahm Vater Klaus das Wort. „Wenn unser Hund die Sprache der Menschen verstehen könnte, dann wäre er jetzt beleidigt. Und wenn er sprechen könnte, dann würde er sagen: Ich bin ein echter Rauhaarteckel und heiße Filine von der Fuzzikuhle, und meine Familie kennt man von Funk und Film, weil alle gute Schnüffler waren. Mein Vater ist erster Schnüffler im Land, und mein Onkel hat sogar in der Schweiz den Europatitel gewonnen. Wir haben einen langen Stammbaum.“
„So sieht also eine richtige Gräfin aus“, sagte Mutter.
„So mickrig?“, fragte Robert.
„Uralter Adel“, bestätigte Vater Klaus, „sieht man ihr das nicht an? Sogar Könige sollen mit Filines Großeltern auf die Jagd gegangen sein.“
„Dann kann sie vielleicht gar nicht mehr richtig laufen.“
Den uralten Adel trauten sie Filine schon zu, aber den Europameister, den nicht.
Ob sie sich noch irren sollten?
„Filine, das ist doch weiblich“, stellte Petra fest.
„Stimmt auffallend“, sagte Vater Klaus, „es ist ein kleines Mädchen. Herzlich willkommen, Filine von der Fuzzikuhle.“
„Gab es denn keine größeren?“, fragte Robert.
Petra gefiel er so, wie er war.
Einen Lappen hatte Mutter schon in der Hand, denn die Pfütze auf der Wachstuchdecke wurde größer.
„Der musste aus lauter Angst“, meinte Robert.
Sie setzten sich um den Tisch und erfuhren, dass Filine aus einem sechsköpfigen Wurf stammte und die schwächste Welpe gewesen war. Manchmal war sie von den Geschwistern zurückgeschubst worden.
„Angeblich ist sie aus der Art geschlagen“, sagte der Vater.
„Also so 'ne Art Ausschuss“, sagte Robert.
„Aus der Art geschlagen“, erregte sich Petra, „wenn ich so was schon höre, das klingt nach schlecht, nach ungezogen, also dieser kleine Welpe, ich weiß ja nicht. Mir gefällt sie so, wie sie ist. Unsere Fine!“
Und nun erfuhren sie von Vater Klaus den genauen Grund. Er hatte das Hündchen bekommen, weil Filines Abstand zwischen Bauch und Boden nicht stimmte und weil ihr Haar zu lang war.
Die Kinder riefen „Wer sagt denn so was!“ und „Was für ein Quatsch!“, und auch Johanna, die eine sanfte Lehrerin war und einer Sache immer auf den Grund ging, wollte wissen, wer das gesagt hatte.
„Die Züchter und jene Menschen, die solche Hunde brauchen, also die Jäger und die Förster. Es gibt nämlich Normen, alles wird berechnet, in Kilo und nach Zentimetern. Und eine Kommission fand Filine eben nicht normgerecht, also aus der Art geschlagen, punktum.“
Ein vergnügtes Wollknäuel saß vor ihnen. Aus der Art geschlagen, also so was.
Filine von der Fuzzikuhle. Ziemlich tollpatschig wirkte sie.
„So sieht also eine aus, die aus der Art geschlagen ist“, sagte die Mutter und Robert meinte: „Da hat sie aber Schwein gehabt.“
„Warum?“
„Sonst wäre sie nicht bei uns, sondern müsste immer Kommandos befolgen und gehorchen.“
Robert schien sich schon zu freuen.
Der Zweitklässler kannte den Ernst des Lebens noch nicht.
Das stimmte doch. Oder etwa nicht? Denn Vater Klaus entschied, dass Filine ein tüchtiger Hofhund werden sollte, der Haus, Hof und Garten zu bewachen hatte.
„Daran sollen wir alle glauben“, sagte Mutter Johanna, die das bezweifelte, „aber wir müssen erst hören, was unsere Wally dazu sagt.“
Stimmt, Wally war die Urgroßmutter, die mit im Hause lebte und immer um Rat gefragt werden wollte. Sie war das fünfte Mitglied der Familie und manchmal das wichtigste.
Und Wally besaß einen großen Kater, der Barmer hieß. Er war zu faul, um Mäuse zu fangen. Ja, wenn man sie ihm brachte, dann nahm er sie auch gnädig an.
Barmer herrschte über Hof und Garten und hatte vor einigen Jahren nicht einmal Petras Meerschweinchen geduldet. Ihr stolzer Barmer, so meinte Wally, als sie ihr Filine vorführten, ihr Barmer würde sich nie mit einem Hund abfinden.
Und der Kater hatte seine Rechte. Er gehörte schon lange zur Familie und war so alt wie Robert. Dieses komische Etwas da, das ein Hund sein sollte, würde ihr Barmer bald verjagt haben.
Ob Wally Recht behalten sollte?
Es musste wohl doch nur ein schöner Traum gewesen sein, denn am Ostermorgen, als die Kinder die kleine Fine suchten, war sie nicht da.
Aber dann hörten sie Gewinsel und jämmerliches Fiepen.
Was war geschehen?
Da im Schweinestall vor einigen Tagen niedliche Ferkel geboren worden waren, hatte Vater Klaus die kleine Fine in der leeren Nachbarbuchte einquartiert. Filine sollte gleich an den Hof und an ein hartes Leben gewöhnt werden.
Diesmal schloss sich auch Wally dem Protest der Familie an. Sie erklärte, die ganze Nacht hindurch kein Auge zugemacht zu haben, so hätte der Köter geheult. Der müsse verschwinden, sogar ihr Barmer hätte sich in der Nacht verkrochen.
Aber das Sagen im Haus hatte Vater Klaus. Und der sagte: „Filine bleibt.“
Nach drei Nächten erbarmte sich der Vater und holte die kleine Heulerin ins Haus. Er stellte eine Kiste abends neben sein Bett und tat das adlige, zweieinhalb Pfund schwere Teckelmädchen hinein.
Filine war es sehr zufrieden. Sie schlief selig und still.
Sie seufzte wohlig und reckte sich. Vielleicht hatte sie hier mehr Platz als bei ihren fünf Geschwistern, wo es immer eng war, wo gedrängelt wurde und sie immer die Kleinste war. Filine gab so merkwürdige Töne im Schlaf von sich, dass die Eltern lachen mussten, als sie sich schlafen legten.“
Erst vor wenigen Tagen stellte EDITION digital als Eigenproduktion unter dem Titel „Bazillus phantastikus“ utopische Erzählungen aus verschiedenen Anthologien von Günther Krupkat vor: Nicht, dass der Roboter nur Befehle ausführen und arbeiten könnte, wie sein Name eigentlich sagt, nein, es scheint, er kann auch denken – selbstständig und schöpferisch. Vielleicht sogar besser als der Mensch? Man ist geneigt, es anzunehmen, spricht man einem künstlichen Wesen auf Grund menschenähnlichen Verhaltens eigene Denkfähigkeit zu. Und wenn so ein höchst verdächtiges Geschöpf nun gar zerstörerische und gegen die menschliche Gesellschaft gerichtete Handlungen vollzieht, die nach „Aufruhr der Maschine“ aussehen, so möchte man fast meinen, die Sache mit dem Roboter sei doch wohl nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. In den vier utopischen Erzählungen geht es aber auch um Antimaterie und Außerirdische. Adams Angebetete erscheint ihm so traumhaft schön, dass sie unmöglich von dieser Welt sein kann. Deshalb ist er sehr erstaunt, dass ihre gemeinsamen Zwillinge sich überhaupt nicht von anderen Erdensöhnen unterscheiden. Hier ein Ausschnitt aus der titelgebenden Erzählung „Bazillus phantastikus“, der vielleicht am Anfang ein bisschen verwirrend klingt, bei dem aber schon bald klar wird, worum es geht:
„Natürlich war ich ganz Ohr. Er rückte näher und flüsterte: „Die Rakete wurde von einem Raumschiff der Bellatrixer gekapert. Sie hatten sich unserem Sonnensystem genähert. Rein zufällig, auf der Durchreise. Plötzlich orteten sie einen Flugkörper. Mit Recht misstrauisch – wer vermutet schon in dieser galaktischen Einöde noch einen bewohnten Planeten? beschlossen sie, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und da haben sie eben unsere Rakete erst mal …“ Seine Hand strich einnehmend über den Tisch, „Sie waren dann auf der Erde und haben sich das Treiben hier angesehen. Niemand hat es bemerkt, denn sie sind von Gestalt ganz menschenähnlich. Bald aber verließen sie den irdischen Raum. Manches wird ihnen bei uns nicht zugesagt haben, verglichen mit ihrer eigenen Welt.“
Er lehnte sich zurück und blickte mich abwartend an.
„Steht das etwa in den Berichten?“, fragte ich ungläubig.
„Nein“, antwortete er kurz.
Machte er sich mit der ernstesten Miene über mich lustig? Schon hatte ich eine Antwort bereit, die ihm zeigen würde, dass ich mich nicht hinters Licht führen lasse, als ich bedachte, was ich von ihm wollte, nämlich die bewussten Buchfilme.
„Ihre Fantasie ist bewundernswert“, sagte ich deshalb nur.
Dass ich dabei zweideutig lächelte, entging ihm nicht. Hektische Röte färbte sein hageres Gesicht. Er entgegnete scharf: „Die Fantasie ist das dritte Auge des Menschen, es reicht bis in fernste Fernen. Wer weiß das schon? Die meisten sind blind auf diesem Auge. Völlig blind!“
Er sprang auf und ging mit kurzem, frostigem Gruß.
Verdutzt und erschrocken über seine Heftigkeit, sah ich ihm nach. Von den Buchfilmen war nun nicht mehr die Rede gewesen.
Ein paar Tage später aber brachte er mir die Filme. Erfreut bedankte ich mich für diese Aufmerksamkeit. Wir kamen wieder ins Gespräch. Er schien einen guten Tag zu haben, ich erfuhr mehr von ihm.
Wie ich vermutet hatte, gab es niemand, zu dem er in näherer Beziehung stand. Ich fragte ihn, warum er sich nicht ein wenig unter den Töchtern des Wohnturms umsehe, das sei doch für einen recht ansehnlichen jungen Mann ganz natürlich.
Er winkte nur ab und als ich mir die Bemerkung nicht verkneifen konnte, ob er etwa auf eine Sternenjungfrau warte, traf mich ein unwilliger Blick.
Nach getaner Arbeit und nach dem Abendessen zog er sich meist in sein Kleinappartement zurück, saß bei schönem Wetter im Garten, bis der gestirnte Himmel über ihm stand.
Nächtelang las er. Geschichten von kosmischen Abenteuern. Mit glänzenden Augen erzählte er mir von den gedankenschnellen Raumflotten der „Guten Hirne“, vom Stern der ewigen Schönheit, von der Supersphäre der intelligenten Kristalle und von jenem Unglücklichen, der wegen nicht getilgter Schuld als Fliegender Holländer des Alls ruhelos durch die Unendlichkeit schifft.
Vielleicht hatte ich zu alldem kaum merklich den Kopf geschüttelt. Er verstummte plötzlich und ließ mich stehen. So geschah es noch öfter, wenn wir uns trafen. Er duldete nicht den geringsten Zweifel an seiner imaginären Welt, die für ihn Wirklichkeit war.
Lange Zeit sah ich ihn dann nicht. Ich glaubte schon, er habe eine andere Beschäftigung gefunden und den Wohnturm verlassen, als er mir zufällig wieder begegnete.
Fast hätte ich ihn nicht erkannt. Er schien gänzlich verändert. Hatte er sich früher nachlässig gekleidet, so verriet sein Anzug jetzt peinliche Sorgfalt. Er war auch voller geworden, auf dem Gesicht zeigte sich keine Spur mehr von träumerischer Versunkenheit.
„He, Adam!“, rief ich ihn an. „Ich sah Sie ja eine Ewigkeit nicht. Sind Sie fortgezogen, oder waren Sie verreist?“
Wir schüttelten uns die Hand. Wie kraftvoll er zupackte!
„Ich wohne jetzt im 305. Ring“, sagte er. „Mein Appartement war zu klein geworden. Und die Kinder brauchen nun auch Platz.“
„Kinder? Gratuliere, Adam! Wie ist denn das passiert?“
Er lachte. „Wie’s eben passiert.“
Ich fand aus dem Staunen nicht heraus. „Dazu gehört doch eine Frau. Etwa eine von den … Bellatrixern?“
„Beinahe“, verriet er mit pfiffigem Blinzeln.
„Adam, Sie wissen, ich bin sehr neugierig. Und in Ihrem Fall ganz besonders.“
Nach kurzem Überlegen zog er mich mit sich. „Sie haben doch Zeit? Ich muss nur noch das Fleisch dem Servo geben“ – er wies auf ein Paket, das er unter dem Arm trug –, „sonst wird der Bursche damit bis zum Abendessen wieder nicht fertig.“
„Sie und Fleisch? Ich denke, Sie sind Vegetarier.“
„Völlig umgekrempelt, wie? Na, Sie werden ja hören.“
Wir fuhren zum 305. Ring.“
Ebenfalls utopisch zu geht es in dem erstmals 1969 im Verlag Neues Leben Berlin und noch einmal Anfang des neuen Jahrhunderts im KRÖGER-Vertrieb Cottbus in einer überarbeiteten Fassung erschienenen SF-Roman „Sieben fielen vom Himmel“ von Alexander Kröger – der 1. Teil seiner Centauren-Trilogie. Es war Krögers Debüt-Roman. Dem E-Book liegt die nochmals überarbeitete Auflage zugrunde, die 2008 im Projekte-Verlag Cornelius Halle veröffentlicht wurde: Sieben Astronauten gelingt es nach der Havarie des Mutterschiffes, sich auf einen Planeten, den sie „Hoffnung“ nennen, zu retten. Doch dort müssen sie mitten im Dschungel überleben. Die technisch hochstehenden Bewohner der Welt, die ihnen vielleicht helfen könnten, sind zunächst nicht zu finden. Doch wer sind eigentlich diese Astronauten? Hier der Anfang des 1. Kapitels, das mit einer ungemütlichen Temperatur beginnt:
„Langsam kroch die Kälte in alle Räume. Zunächst war sie in den Arbeitsräumen spürbar, breitete sich aber rasch bis zur Mitte des Schiffes aus, bis sie schließlich alles Leben den eisigen Hauch eines ewigen Schattens ahnen ließ.
Min kauerte auf ihrer Liege. Sie fror. Sie fror schon seit Stunden, schon seit sie wieder in ihrer Kabine war und obgleich zu diesem Zeitpunkt das Thermometer noch die normale Bordtemperatur anzeigte. Sie lag bereits einige Zeit, als die Heizaggregate abgeschaltet wurden. Ausruhen sollte sie, sie und die anderen - bis auf den Wachhabenden. >Wenn ich einschlafen könnte! Schlaf täte wirklich gut<, überlegte Min. >Die letzten Tage boten wenig Gelegenheit dazu. Oder bewegen müsste ich mich.< Min gab den Gedanken sogleich wieder auf. Vielleicht ist ohnehin bald alles vorbei ...< Sie starrte an die gegenüberliegende Wand der Kabine und zuckte nur leicht zusammen, als das Hauptlicht erlosch. Im Schein der Notbeleuchtung wirkte die Zweckeinrichtung des Raumes kalt, gespenstisch. Min lächelte. >Es wird angenehmer sein<, dachte sie, >wenn es in den letzten Stunden nicht so hell ist.< Dann richtete sie sich mit einem Ruck auf. >Ist es überhaupt gerechtfertigt, dass ich resigniere? Ich lebe, und mit mir noch sechs. Der Kommandant und die Ingenieure sind zuversichtlich. Und gerade Chalo! Er hätte Grund, niedergeschlagen, ja sogar verzweifelt zu sein - aber er ist es, der uns aufmuntert, uns Hoffnung gibt. Schluss mit den Grübeleien!< Min stand auf. >Es sind noch Analysen zu machen. Chalo wird verstehen, dass ich nicht ruhe, nicht ruhen kann, dass ich auch nach dem Dienst noch arbeiten möchte. Aber - ob es wirklich noch einen Sinn hat? Sind tatsächlich die anderen so zuversichtlich, oder geben sie sich nur so? Habe nur ich diese unbestimmte Angst vor dem Kommenden? Unsinn! Eines Tages werden die Unsrigen unsere Spur finden. Und schon dafür lohnt es sich, alles zusammenzutragen, was nur möglich ist.<
Min betrat den Kommandoraum. Chalo blickte auf.
„Nanu, Min“, sagte er, „du müsstest doch schlafen.“
„Ja“, antwortete sie. „Bitte, Chalo, ich weiß, dass du auch nicht immer schläfst, wenn du frei hast. Und ich könnte noch einige Analysen machen. Die Stürme gestern gingen bis in die Hochatmosphäre. Vielleicht gelingt mir eine genauere Aussage über die Bodenbestandteile der Wüstengebiete.“
„Es ist doch zu kalt“, sagte Chalo.
„Es wird schon gehen“, antwortete sie. „In den Kabinen ist es auch ungemütlich - dazu das trübe Licht.“
„Ich denke, dass die Heizanlagen in einigen Stunden repariert sein werden“, sagte Chalo nach einem Blick auf den Zeitautomaten. Min trat an ein Bordfenster und sah hinaus. Schwarze Nacht. Wie weißglühende Funken gleißten die Sterne. >Ob einer unsere Sonne ist?< Sie blickte flüchtig zum Kursanzeiger, ging, ohne dessen Angabe zu erfassen, zum nächsten Fenster und legte den Kopf an die Scheibe. In ihren Augen erglomm ein rötlicher Schein. Min blinzelte. Nur langsam überwand sie die Blendung. Unverändert das Bild des Planeten: riesige Wüsten, langgestreckte Gebirgsgrate, aus der Entfernung wie mit dem Lineal gezogen, öde, einförmige blau-grün-graue Flächen. >Und du gabst uns Hoffnung, hast uns, nur weil du ein wenig Sauerstoff in deiner Atmosphäre hast, annehmbare Lebensbedingungen vorgegaukelt und empfängst uns mit Sandstürmen und Dürftigkeit. Nein, du bekommst uns nicht. Lieber bleiben wir hier im Schiff ...<
Chalo trat neben Min an das Fenster. „Traurig?“
„Nein“, antwortete sie. „Ich habe Angst, Chalo.“
Chalo schwieg. Er schaute mit hinüber zu der leuchtenden Scheibe. Dann sagte er leise: „Wenn wir dort gelandet wären, Min, wie wir ursprünglich wollten, dann müssten wir fürchten, dass weder wir uns selbst noch dass andere uns retten könnten. Aber jetzt - es ist alles vorbereitet. Wir haben die Chance zu leben. Der Dritte Planet, nicht der Vierte, bietet Leben. Du weißt das! Und sind wir nicht besser dran als unsere Gefährten von der GALAX zwei? Wir haben eine Hoffnung, aber sie?“ Chalo blickte starr aus dem Fenster. „Ob sie überhaupt leben?“, fügte er leise, wie zu sich selbst, hinzu.
Min schaute geradeaus. Sie wusste, dass sich der Mann neben ihr schon tausend Mal diese Frage gestellt hatte, dass er dabei an seine Gefährtin dachte, die mit 27 Kameraden und dem interstellaren Schiff, der stolzen GALAX 2, verschollen war. Und Min kam sich in diesem Augenblick mit ihrer Angst und ihren Zweifeln kleinmütig vor angesichts des stillen Schmerzes Chalos, der trotz persönlichen Leids anderen den Glauben an die Zukunft erhielt.
Chalo gab sich gleichsam einen Ruck, schaute Min an und sagte sachlich: „Ich habe übrigens erst vorhin mit Mangk noch einmal alles Für und Wider durchgesprochen. Wir wollen nun doch versuchen, eine Lastkabine mitzunehmen. Überleg dir schon, welche Dinge du mit hineingibst. Bedenke aber auch, dass bei dieser Kabine das Landerisiko größer ist als bei den Unsrigen.“
Min blickte auf. „Und du meinst, dass in den fast hundertvierzig ER, die wir zum Planeten Drei unterwegs sein werden, nichts in unseren Weg kommt? Eine einzige Kurskorrektur, ein Ausweichmanöver, und wir sind ein Satellit der hiesigen Sonne.“
„Nanu - hat die Jugend kein Vertrauen mehr?“ Chalo lächelte. „Die schlimmste Wegstrecke dürften wir hinter uns haben. Vom Fünften Planeten bis hierher haben wir zweiunddreißig Planetoiden geortet. Zwischen dem Planeten hier und dem Dritten, unserem Ziel, bisher keinen!“
„Weißt du, was ich denke? Ob nicht die GALAX zwei mit solch einem Brocken kollidierte? Sie befand sich zwar, von hier aus gesehen, jenseits des Fünften. Aber ganz frei war dort der Raum auch nicht. Vielleicht waren wir auf der Parkbahn zu sorglos geworden?“ Chalo schwieg. Er starrte auf die Planetenoberfläche, als suche er in den öden Gebirgen und Wüsten etwas Bestimmtes. „Warum, Min, haben wir dann nichts von ihnen gefunden? Gar nichts! Ich habe mir diese Frage oft gestellt. Es war unser größtes Schiff. Das kann nicht einfach verschwinden. Wir hätten wenigstens - Trümmer finden müssen.“
„Wir kamen zu spät.“
„Dennoch“, erwiderte Chalo, „so weit reicht unser Radar. Es sei denn“, Chalo zögerte, „die GALAX zwei hat mit der höchsten Stufe beschleunigt - aber warum sollte sie das? Und warum funkt sie nicht? - Aber lassen wir es, Min. Unsere Fragen kann zur Zeit niemand beantworten. Nimm dich bitte Surkis an. Sie scheint mir am niedergeschlagensten zu sein. Ich erinnere mich an meinen ersten Flug. Es war kein interstellarer, und doch begleitete mich ständig eine Art Angst, obwohl alles normal verlief. Surki, unsere jüngste, wird gleich auf eine wesentlich härtere Probe gestellt. Wir müssen ihr helfen!“ Wieder änderte Chalo den Tonfall. Beinahe dozierend sagte er: „Es besteht wirklich kein Grund zur Unruhe oder - Angst, Min. Wir haben Glück. Wir schneiden dem Dritten Planeten den Weg ab. Unsere Energie reicht daher bis in seine Nähe, jedenfalls bis in seinen Anziehungsbereich.“ „Ja, aber ...“ Min blickte wieder auf den Planeten. „Eine Landung ohne Bremsraketen hat noch niemand gewagt.“
„Dann sind wir eben die ersten“, sagte Chalo lächelnd.
In diesem Augenblick betrat Borl den Kommandoraum. „Na“, sagte er fröhlich, „habt ihr euch unser rotes Irrlicht wieder einmal betrachtet?“ Er trat an das Bordfenster. „Bald werdet ihr keine Gelegenheit mehr dazu haben. In vier ER des Vierten müssen wir starten, wenn wir den Dritten auf seiner Bahn treffen wollen, ohne ihm hinterher gucken zu müssen.“
„Du hast bis zur Ablösung noch etwas Zeit, Borl“, bemerkte Chalo. „Ja, ja“, sagte Borl zerstreut. „Ich komme nicht weiter. Die Funksignale sind so verworren, dass ich keines eliminieren kann. Hat Kark wieder etwas auffangen können?“
„Nein, in etwa drei Stunden haben wir die Position, in der wir die Zeichen empfingen. Ein Zweifel besteht nicht, Borl, dass sie vom Dritten Planeten kommen?“
„Nein“, sagte Borl. „Es ist das Einzige, was wir so ziemlich sicher wissen. Übrigens, Chalo, ich sprach vorhin Rilt. Sie hat Bedenken wegen der tiefen Temperaturen.“
„Sage ihr, dass alles programmgemäß verläuft“, entgegnete Chalo. „Sie braucht wegen der vorübergehenden Kühle für unsere Gesundheit nicht zu fürchten.“
Min ging ins Laboratorium. >Chalo hat nicht viel gesagt<, dachte sie. >Aber irgendwie versteht er es, seine Zuversicht anderen mitzuteilen.< Sie bereitete das Spektrometer vor, legte die Aestuogramme in die Halter, drehte die Okulare in den richtigen Abstand und begann mit der Auswertung. Sie sah in das helle Durchlicht der Verdampfungsbilder, schaltete die Dispersionssysteme zu und suchte nach charakteristischen Linien, den Magnetspeicher aufnahmebereit neben sich. Das Bild vor ihren Augen verblasste; ihre Gedanken glitten ab. Deutlich vermeinte sie das Gleißen der Außenhaut von GALAX 2 wieder zu sehen, wie damals, als ihr Landeschiff ablegte. Der Großraumer zog ruhig seine Parkbahn am äußersten Rand der Ökosphäre des Systems der gelben Sonne. Auch das Ziel ihres Landeschiffes, der Fünfte Planet, der Riese mit seinen 12 Monden, versprach wenig Aufregendes. Min erlebte noch einmal die Landung auf dem ihn am nächsten umkreisenden Mond. Die Arbeit! Bei dem Gedanken an die vielen Analysen damals erinnerte sich Min, dass sie eigentlich auch jetzt arbeiten wollte. Für einen Augenblick konzentrierte sie sich wieder auf das Bild im Spektrometer. Doch das Gespräch mit Chalo, das Erinnern an die jüngste Vergangenheit, die allein die Zukunft der sieben bestimmte, ließ die beschworenen Bilder und Eindrücke nicht verblassen. Min lehnte sich zurück. „Wieso?“, hatte damals Chalo unaufmerksam gefragt, als Kark meldete, dass nach Verlassen des Funkschattens hinter dem Riesenplaneten keine Verbindung mehr mit GALAX 2 bestünde. Auch nach Stunden, als feststand, dass sich das Mutterschiff nicht mehr auf der Parkbahn befand, konnten sie es nicht fassen. Min empfand wieder die unsinnige Hoffnung, die sie befiel, als sich das Landeschiff mit höchster Beschleunigung dem errechneten Standort von GALAX 2 näherte, eine Hoffnung, dass vielleicht durch ein nicht bekanntes technisches oder natürliches Phänomen lediglich der Kontakt abgerissen war und der Radarreflex jede Sekunde auf dem Schirm aufblitzen musste.“
Erstmals 1995 veröffentlichte Gisela Heller in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung Beuermann Berlin „Unterwegs mit Fontane von der Ostsee bis zur Donau“: 200 Jahre nach Fontanes Geburt in Neuruppin scheint es aktueller denn je, auf seinen Spuren „von der Ostsee bis zur Donau“ zu wandern, die von ihm beschriebenen Wege nachzuvollziehen. Die Autorin führt den Leser nach Swinemünde, Rügen, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Dänemark, Friedrichsruh, Hamburg, Niedersachsen, in die Altmark, nach Burg, in den Harz, nach Sachsen, Thüringen, Bayern, Wien, Böhmen, ins Riesengebirge, nach Küstrin, Sonnenburg und Tamsel. Zum besseren Verständnis zitieren wir hier das damalige …
„Vorwort
Wer den Namen Fontane hört, denkt zweifellos zuerst an Berlin und die Mark Brandenburg, denn in Neuruppin wurde er geboren, und in Berlin verbrachte er die längste Zeit seines Lebens; hier erlernte er den Beruf des Apothekers, stand 1848 hinter der Barrikade und erlebte hautnah – nicht nur im Widerschein der Lese-Cafés – wie Berlin „vernebelte“. Besonders nach den Londoner Presse-Jahren schätzte er Berlin als „ein Zentrum, wo entscheidende Dinge geschehn“, hier spürte er das Schwungrad der Geschichte rotieren und nahm in Kauf, dass es „gelegentlich zu dem bekannten Mühlrad“ wurde. Seismografisch genau erfühlte er die an Schwung- und Mühlrad gebundenen Menschenschicksale von feinsinnigen oder verknöcherten Adelsdamen, liebenswerten Nähmädchen, schwadronierenden Gardeoffizieren, Fabrikanten und Lebe-Baronen. So wie Balzac für Paris steht, Dickens für London, Dostojewski für Petersburg, so bewahrte Fontane in seinen Romanen das Berlin des 19. Jahrhunderts für alle Zeiten auf. Und die Mark Brandenburg trat erst durch ihn als literarische Landschaft ins Bewusstsein des deutschen Lesers. Darum nannten wir Band 1 „Unterwegs mit Fontane in Berlin und der Mark Brandenburg“.
Aber es darf nicht vergessen werden, dass Fontane, der sich – ungeachtet seiner hugenottischen Herkunft – selbst „ein in der Wolle gefärbter Preuße“ nannte, wie kaum ein anderer seiner schreibenden Zeitgenossen europäisch empfand, und dass es über Berlin-Brandenburg hinaus viele Orte und Landschaften gibt, die für ihn bedeutsam, ja prägend waren: Denn nicht im abgezirkelten Neuruppin entfalteten sich seine Kinderträume, sondern in Swinemünde, wo er vom siebten bis zwölften Lebensjahr „in freier Wildbahn“ aufwuchs mit Abenteuern und Spukgeschichten, die bis in die späten Romane hineinspielen. Erste Liebe in Heringsdorf, Apothekers-Jahre in Burg, Leipzig und Dresden, wo die studentische Bewegung des Vormärz hohe Wellen schlug; Lieblingsplätze seiner „Wanderungen“ jenseits der Oder, Küstrin, wo er genau ausmaß, aus welchem Fenster Kronprinz Fritz mit ansehen musste, wie sein Freund und Fluchthelfer Katte enthauptet wurde, damit, wie des Königs Befehl lautete, „das Recht nicht aus der Welt käme“.
Was ist Recht? Wann darf es sich über menschlichen Glücksanspruch hinwegsetzen? Diese Frage beschäftigte Fontane nicht nur in Küstrin, in Tamsel und auf den friderizianischen Schlachtfeldern zwischen Kunersdorf und Zorndorf; auch an der Gruft der Familie Katte im altmärkischen Wust, im benachbarten Schönhausen, dem Geburtsort Otto von Bismarcks, und im Quitzow-Winkel.
Was ist Recht und wann darf man es sich nehmen, auch auf Kosten anderer? So stellte sich die Frage auch für den Berichterstatter Fontane, der die Kriegsschauplätze von Schleswig-Holstein und Böhmen bereiste. Oeversee und Düppel ließen ihn begreifen, dass Krieg kein Balladenstoff war, sondern sterbensgrauer Alltag. Die Erlebnisse und Erkenntnisse von Düppel und Alsen flackerten noch Jahrzehnte später in „Quitt“, „Graf Petöfy“, „Stine“, „Effi Briest“ und im „Stechlin“ wieder auf.
Auch als Wanderer durch die Mark geriet er bei peniblen Recherchen weit über die Landesgrenzen hinaus: Um hinter das Geheimnis der schönen, unglücklichen Krauten-Tochter zu kommen, trieb es ihn bis Ostfriesland, wo er im Familienarchiv der Grafen Knyphausen endlich Aufklärung fand. Und eine Entdeckung zog die andere nach sich: So stieß er im nahen Marienhafe auf den wehrhaften Schlupfwinkel Störtebekers und seiner Vitalienbrüder, die ihn seit Kindertagen und bis ans Ende seines Lebens beschäftigten. Wichtig, ja unerlässlich waren für ihn auch die „Sommerfrischen“, in die er regelmäßig flüchtete, wenn die Berliner Luft sich unerträglich auf die empfindlichen Magennerven legte.
Ohne diese Sommerfrischen (in die man nicht selten mit Kochtopf und Federbetten reiste) gäbe es Fontanes Romanwerk nicht. Oft lieferten Landschaften und regionale Ereignisse wieder Stoff für neue Novellen und Romane; so fand er im Riesengebirge den Stoff zu „Quitt“, in Wernigerode und Ilsenburg den Stoff zu „Ellernclip“, in Tangermünde die Chronik über „Grete Minde“; Thale, Quedlinburg, Altenbrak und Bad Harzburg wurden zu Schauplätzen für „Cecile“. Manchmal genügte ein Aufenthalt von nur wenigen Tagen, um Jahrzehnte später dort seine Romanfiguren anzusiedeln, wie in Wien den Grafen Petöfy und in Schleswig-Holstein den Grafen Holk. Drei Tage in Kopenhagen, Roskilde und Frederiksborg gaben ihm Anregung für ein Dutzend Nordischer Balladen und den Hintergrund für „Unwiederbringlich“.
Manche Stadt suchte Fontane auf, weil er ihre heilkräftigen Quellen brauchte (Karlsbad und Kissingen), andere kamen ihm nahe, weil Freunde oder Bekannte dort wohnten (Rostock-Warnemünde, Kiel und Husum). All diese Orte – und viele andere – sind in den zweiten Band aufgenommen worden. Es wird geschildert, warum und aus welcher Lebenssituation heraus Fontane dorthin fuhr, was ihm dort passierte und wie er das Erlebte in seinem Werk verwendete. Manchen Ort besuchte er nur unter einem einzigen, besonderen Aspekt, zum Beispiel Bayreuth; hier wollte er sich endlich über sein zwiespältiges Verhältnis zu Richard Wagner Klarheit verschaffen — der Aufenthalt endete mit einem ironisch beschriebenen totalen Fiasko.
In Eger (Cheb) interessierte ihn die „von der Parteien Gunst und Hass“ verzerrte Gestalt Wallensteins, über dessen Ermordung er eine Ballade geschrieben hatte; Wallenstein erinnerte ihn in frappierendem Maße – an Bismarck. Brünn (Brno) und den berüchtigten Spielberg besuchte er nur, um in seine Abhandlung über den „Deutschen Krieg von 1866“ seine Ansichten über die verfehlte Wirkung von Staatsgefängnissen einzubringen. Das mecklenburgische Dobbertin geriet in seinen Gesichtskreis, als sich die mütterliche Freundin Mathilde von Rohr als Stiftsdame dorthin zurückzog. Hier fand er nicht nur den ungestörten Platz, um unter großem Zeitdruck „Aus den Tagen der Okkupation“ niederzuschreiben, hier konnte er auch „konserviertes Mittelalter“ studieren, wo mit Samthandschuhen lebenslängliche Fehden ausgetragen wurden. Die Atmosphäre von Kloster Wutz und die versteinerten Ansichten der Adelheid von Stechlin stammen aus Dobbertin.
Der besseren Übersicht wegen ist dieser Band in Landschaften gegliedert; wo es sich anbietet, wird essayartig Fontanes Verhältnis zu Land und Leuten dargelegt (so in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Alt- und Neumark); danach folgen die einzelnen Orte, wie sie Fontane sah und wie sie zum Teil heute noch vorzufinden sind. Dem Kenner und Liebhaber Fontanes wird es sicher ähnlich ergehen wie der Autorin, die an vielen Punkten, oft unerwartet, jenen beglückenden Wiedererkennungseffekt verspürte, sei es in der Salesianergasse in Wien, auf dem romantischen Friedhof von Ilsenburg oder bei Rinkenaes, von wo man in der Ferne die Steildüne von Holnis erblickt, auf der Fontane das Schloss des Grafen Holk erstehen ließ. Es hat hier nie ein Schloss gegeben, aber wir sehen es, denn wir wissen: „Die Dinge selbst sind nicht richtig, aber wir geben den Dingen den richtigen Platz“.
Möge sich nun der Leser auf das Zauberspiel der Fantasie einlassen und Fontane und seine Romangestalten dort aufspüren, wo er sie bisher vielleicht nicht vermutete.
Gisela Heller, Mai 1995“
Mit dieser freundlichen Einladung, sich auf das Fontanesche Zauberspiel der Fantasie einzulassen – besser kann man es wohl kaum formulieren –, sind wir auch am Ende des heutigen Newsletters der EDITION digital angelangt, der wie immer ein im besten Sinne des Wortes buntes Programm anzubieten hat – von nachdenklich bis vergnüglich und mancher Titel ist sogar beides zugleich – ein Angebot zum Nachdenken und zum Vergnügen in einem.
In diesem Sinne viel Spaß beim Lesen, weiter einen schönen Sommer und bis demnächst und hören Sie bitte nicht auf, nach der freundlichen Welt zu suchen. Und zwar niemals …