„Weiß man“, fragte ich, „woran sie im Institut arbeiten?“
„So recht weiß das keiner. Der Hausmeister vom Institut trinkt hier ab und zu ein Schnäpschen. Und gerne erzählen tut er auch. Wenn der was wüsste, wüssten wir‘s auch. Dabei behauptet er dauernd, dass er zum Schweigen verpflichtet ist.“
„Aber irgendwas ...“
„Irgendwas weiß jeder. Nachdem die Professoren durchs Dorf getorkelt waren, hatte ich ein gutes Geschäft. Die einen kamen, um was zu erfahren, die andern, weil sie was an den Mann bringen wollten. So viel verrückten Unsinn hab‘ ich mein Lebtag nicht gehört. Nur eines schien kein Unsinn zu sein, der Kopf, der kam immer wieder vor. Irgendwas machen die am Kopf, das hat auch der Hausmeister gesagt. Aber was, das weiß kein Mensch.“
Ich zahlte das Bier, ließ mir den Weg zu den Rotbuchen beschreiben und trat auf die Dorfstraße. Nach wenigen Metern bog ich in eine Seitengasse ab, die nach den letzten Häusern zu einem ziemlich staubigen Weg wurde und in die gleich hinter dem Dorf beginnende Einöde führte. In der Ferne war die Gruppe der Rotbuchen zu sehen, unmittelbar daneben erhob sich das Institutsgebäude.
Der Weg durch die Einöde zog sich in die Länge. Die Luft flimmerte in der Sommerhitze. Schweiß trat mir auf die Stirn. Eine schrecklich einsame, triste Gegend. Und eine ebenso triste Stille. Der Weg machte eine sanfte Kurve und zielte nun genau auf den Eingang des Instituts. Das Tor der Umzäunung war verschlossen. Ich drückte auf den Klingelknopf, im nächsten Augenblick wurde ein Fenster aufgerissen, und mein „alter Freund“ steckte seinen Kopf heraus.
„Da bist du ja wirklich!“, rief er und warf das Fenster zu.
Wie er, der eben noch aus dem Fenster geguckt hatte, jetzt schon aus der Tür springen konnte, ist ein Rätsel. Er kam hastig zum Tor gelaufen, schloss es auf und umarmte mich.
„Mein alter Freund, da bist du ja wirklich!“
„So alt sind wir ja nun noch nicht“, sagte ich leicht abwehrend.
„Aber nicht gesehen haben wir uns lange genug. Du wirst staunen, was inzwischen ...“ Er beherrschte sich. „Aber erst mal zu dir. Wie gehts? Ich meine gesundheitlich. Wie es dir beruflich geht, sehe ich ja an deinen Büchern, die werden immer heiterer.“ Er fasste mich am Arm und zog mich zum Haus. „Wir müssen uns beeilen. In zwanzig Minuten führe ich ein Experiment durch. Es kann für lange Zeit das letzte sein.“
„Ich denke, es kommen keine Leute mehr?“
„Manche lassen sich nicht abschrecken. Es sind zwei Memoirenverfasser, fast so was wie Kollegen von dir.“
Wir hatten das Haus betreten, und er stieg mir voran die Treppe zur ersten Etage hinauf. Er führte mich in einen ziemlich kleinen Raum, dessen eine Wand aus Glas bestand, durch das man in den angrenzenden, bedeutend größeren Raum sehen konnte. Dort war eine junge Frau, wie er mir erklärte, seine Assistentin, mit der Vorbereitung des Experiments beschäftigt. Ich nickte ihr grüßend zu, aber sie reagierte nicht darauf.
Er lachte albern. „Sie kann uns nicht sehen, die Wand ist nur von dieser Seite aus durchsichtig.“
Er stellte eine Filmkamera auf, wechselte einige Male die Linsen aus und richtete den Apparat schließlich auf die Glaswand. Dann brachte er eine Flasche und zwei Gläser und schenkte Kognak ein.
„Mach dir‘s bequem. Ich will dir einige Aufklärung geben, damit du das Experiment mit Sachkenntnis verfolgen kannst. Unser Institut ist auf Mnemotechnik spezialisiert. Wir arbeiten daran, das menschliche Gedächtnis zu verbessern. Zunächst waren wir darauf aus, Mittel zu finden, die das Lernen erleichtern, damit beispielsweise ein Schauspieler seinen Text schneller und sicherer intus hat. Wir mussten aber bald feststellen, dass wir da nicht weit kommen. Also haben wir es umgekehrt versucht. Statt das Aufnehmen künstlich zu erleichtern, wenden wir jetzt Mittel an, die das vom Gedächtnis auf natürliche Weise bereits Aufgenommene aus der Versenkung heben. Ist dir das populär genug?“
„Ich glaube schon.“ Ich steckte mir eine Zigarette an und rekelte mich im Sessel zurecht. „Und ich vermute, dass ihr auch auf diesem Wese nicht allzu weit gekommen seid.“
„Im Gegenteil, wir sind zu weit gekommen. Es hat eine Art Grenzüberschreitung stattgefunden.“
„Welche Grenze habt ihr überschritten?“
„Nicht wir. die Versuchspersonen überschreiten die Grenze.“
„Und was für eine Grenze ist das?“, fragte ich abermals.
„Wir haben keinen Begriff dafür.“ Er schenkte sich einen neuen Kognak ein. „Es ist eine Art von Identitätsverlust: die Versuchsperson überschreitet im Verlaufe des Experiments die Grenze vom Ich zum Anti-Ich.“
„Und wie sieht das Anti-Ich aus?“
„Das werden wir wohl nie erfahren. Die Testpersonen verweigern jede konkrete Aussage. Wir können es nur deduktiv definieren, indem wir vom Gesetz der Anpassung ausgehen. Jeder Mensch muss mit der Umwelt und mit sich selber zurechtkommen. Diesem Zwecke passt er sein Gedächtnis an: bestimmte Dinge merkt er sich, andere vergisst er.“
„Oder er verdrängt sie.“
Jedenfalls ist dieser Vorgang eine Naturnotwendigkeit, er macht den Menschen lebensfähig. Wenn wir alles in Erinnerung behalten würden, vor allem die mit peinlichen Erlebnissen verbundenen Gefühle, gingen wir unweigerlich zugrunde. Andrerseits speichern wir viele nützliche Informationen, können sie aber nicht ohne Weiteres abrufen. Diese Unvollkommenheit der Natur zu beheben ist das Ziel unserer Arbeit. Wir aktivieren bestimmte Hormone, wodurch die gedächtnisrelevanten Gehirnzellen erregt werden und ihre Inhalte zum Bewusstsein bringen. Jetzt brauchte ich einen zweiten Kognak, denn ich begann zu begreifen. „Auf diese Weise kommen auch die unerwünschten Gedächtnisinhalte zum Bewusstsein?“
„Das ist unser Problem“, gestand er. „Es ist uns noch nicht möglich, gezielt zu aktivieren. Wir können nicht einmal vor langer Zeit gespeicherte Erinnerungen von frisch gespeicherten trennen, und schon gar nicht unangenehme von angenehmen: alles kommt mit einem Mal hoch.“