Hier und da und so auch in einem kleinen Städtchen im Thüringischen gilt noch der schöne Brauch, sich abends vor das Haus zu setzen, um mit den Nachbarsleuten ein gemütliches Plauderstündchen zu halten. Gewöhnlich wurde eine schlichte Holzbank an die Hauswand gestellt, und wo diese nicht ausreichte, hockte man sich einfach auf die Stufen vor der Tür. Die Kinder durften an solchen Abenden länger als gewöhnlich aufbleiben, wenn sie sich still verhielten und die Erwachsenen nicht in ihren bedächtigen oder erregten Gesprächen störten. Über was wurde da aber auch nicht alles geredet und getuschelt. Da hieß es, dass die Jungsche, die bei Kinzings immer die Wäsche wasche, mit dem alten Kinzing was habe; oder aber, dass der Getreidehändler aus der Unterstraße krumme Geschäfte mache, obwohl er Sozialdemokrat sein wolle. Besonders dicht wurden die Köpfe zusammengesteckt und besonders leise wurde gesprochen, wenn die Rede auf den Ältesten von Hofstetts, den Karl, kam, denn Karl war ein Illegaler.
Was das war, ein Illegaler, wussten die Kinder nicht. Sie machten sich deshalb aber nicht weniger Gedanken darum, denn den Karl kannten sie alle. Wenn überhaupt einer von den Großen bei den Kindern gut angeschrieben war, dann war es Karl. Er hatte ihnen gezeigt, wie man Rohrpfeifen oder eine Armbrust macht. Und wenn einmal die Papierdrachen nicht steigen wollten, weil die Schnüre nicht im richtigen Winkel geknüpft waren, dann brauchten sie bloß zu Karl zu gehen. Sie hatten nicht danach gefragt, woher er immer die Zeit nahm, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie wussten, dass er arbeitslos war; aber das waren andere auch. Und nun hieß es, der Karl Hofstett sei über Nacht verschwunden, weil sie ihn sonst verhaftet hätten. Die Nazis waren hinter ihm her, seitdem sie an der Macht waren, weil er einmal in einer Schlägerei einem der Ihren eine handfeste Tracht Prügel verabreicht hatte. So hieß es wenigstens. Was wirklich dahinter steckte, wusste keiner.
Aber nicht die Gespräche über Karl oder über den Getreidehändler waren es, die die Kinder am meisten interessierten. Mehr als alles andere fesselten sie die Gespenstergeschichten, die gewöhnlich erzählt wurden, wenn die Dunkelheit schon hereinbrach und der leichte Wind die Geräusche der Nacht aufweckte. Die Kinder kauerten sich auf den schmalen Haussims, immer bedacht, keinen Laut von sich zu geben, damit die Großen nicht an sie erinnert würden, und lauschten mit offenem Munde. Manchmal mussten sie aber auch lachen, denn die Gespenstergeschichten, die der alte Hunold erzählte, waren oft so schnurrig, dass man sich zu gruseln vergaß. Dagegen waren die Geschichten der alten Lunatsch so unheimlich, dass es einem heiß und kalt den Rücken herunterlief.
Die Lunatsch war überhaupt ein eigenartiger Mensch. Niemand wusste so recht, wovon sie eigentlich lebte. Ihr Mann war ihr schon vor Jahren davongelaufen. Eine rechte Arbeit hatte sie nie gehabt. Ab und zu ging sie auf die Dörfer und machte Näharbeiten. Und warum man sie die alte Lunatsch nannte, war erst recht rätselhaft, denn so alt war sie noch gar nicht. Damals hatte sie sicher noch keine fünfzig Jahre auf dem Buckel. Aber von Geistern und Gespenstern wusste sie auf eine Art zu erzählen, dass man alles andere vergaß. Dabei saß sie merkwürdig steif da, die Arme unbeweglich auf die Knie gestützt; nur ihre Augen und ihr Mund bewegten sich. Wenn es dann schon schummrig war und die Linien verschwammen, konnte man glauben, sie selber sei die Hexe, von der sie erzählte, oder das alte, vom Teufel besessene Weib, das ihr angeblich nachts auf einem Feldweg begegnet sei. Ihr Gesicht wurde in der Dunkelheit so fratzenhaft, dass es mit den Vorstellungen verschmolz, die ihre Erzählungen hervorriefen. Und wenn sich ihre Zuhörer dessen bewusst wurden, schauten sie sich gegenseitig an und wurden verlegen. Einmal aber nahm die Sache einen anderen Verlauf.
Die alte Lunatsch hatte wieder eine oder zwei von ihren grusligen Geschichten erzählt, steif und unbeweglich wie immer, nur ihre Augen waren geschwind von einem zum anderen gehuscht. Dann war sie für einen Augenblick verstummt, um schließlich mit einer anderen Geschichte herauszurücken. Und alle spürten sofort, dass es mit dieser Geschichte eine besondere Bewandtnis haben musste. Die Zunge der Alten war nicht so wendig wie sonst. Sie suchte nach Worten und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. Erst kürzlich, so begann sie, sei ihr das passiert, was sie jetzt erzählen wolle. Sie wäre in Ammendorf gewesen, um bei der Witwe vom alten Bürgermeister zu nähen. Heimwärts hätte sie noch über Tannweiler gehen wollen, um schnell bei ihrer Schwägerin reinzugucken, weil die sich ein Bein gebrochen habe, beim Kirchgang komischerweise. Unterwegs sei sie von der Dunkelheit überrascht worden, und da wäre sie dann doch lieber gleich nach Hause gegangen. Sie hätte nun aber nicht mehr den üblichen Weg von Ammendorf genommen, denn da wäre sie schon drüberweggewesen, sondern sie sei den Feldweg, der am Grubenhölzchen vorbeiführt, entlanggegangen. Als sie nun den kleinen Abhang vor dem Grubenhölzchen hinabgegangen wäre, hätte sie plötzlich hinter sich Geräusche vernommen. Daraufhin sei sie schneller gegangen, denn seitdem die Kiesgrube, die sich mitten in dem kleinen Wäldchen befindet, nicht mehr genutzt werde, gehe es an dieser verlassenen Ecke nicht mit rechten Dingen zu, das wisse ja jedes Kind. Nun seien ihr gar Steine hinterhergeworfen worden. Im Weiterlaufen habe sie sich umgeguckt, es wäre aber niemand zu sehen gewesen. Und die Steine wären immer noch geflogen, obwohl sich auf dem kahlen Gelände doch niemand verbergen könne. Erst am Grubenhölzchen habe es aufgehört. Nach Hause gekommen, habe sie sich gleich hinlegen müssen, ihr sei ganz schlecht gewesen.
Statt des ansonsten wohligen Gruselns verbreitete sich eine spöttische Skepsis unter den Zuhörern. Dabei ahnten alle, dass die Erzählung der Lunatsch diesmal auf Wahrheit beruhte. Aber gerade darüber war man verstimmt. Es war eine Art von stiller Verabredung, dass die Lunatsch nur erfundene Geschichten erzählte. Und deshalb war auch nie einer auf den Gedanken gekommen, sie der Unwahrheit zu bezichtigen. Aber diesmal wollte man es wissen. Die alte Lunatsch hatte gegen die Verabredung verstoßen, und alle schienen es darauf anlegen zu wollen, sie der Schwindelei zu überführen. Ehe jedoch einer der Erwachsenen etwas sagen konnte, sprang der Jochen von Westermanns auf, ein sonst stiller Junge, der damals kaum zehn Jahre alt gewesen sein konnte. Mit funkelnden Augen rief er, dabei weniger gegen die alte Lunatsch als vielmehr gegen die Zuhörer gewandt, die ganze Geschichte sei erlogen, Geister und Gespenster gäbe es nicht, und das werde er beweisen.
Die Erwachsenen waren über diesen plötzlichen Ausbruch erschrocken. Sie erinnerten sich schnell, dass Kinder eigentlich gar nichts mehr hier zu suchen hatten, und jagten sie in die Betten. Damit schien die Sache ihr Ende gefunden zu haben, und am nächsten Morgen dachte schon keiner mehr daran. Auch nicht daran, dass Jochen etwas beweisen wollte.