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Die Zelle von Hasso Grabner
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
13.04.2021
ISBN:
978-3-96521-417-0 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 406 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Politik, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Thriller/Spannung, Belletristik/Thriller/Politik, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Familienleben
Politthriller/Justizthriller, Kriegsromane: Zweiter Weltkrieg, Familienleben, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
2. Weltkrieg, Faschismus, Nationalsozialismus, Sabotage, Russland, Nichtangriffspakt, Gestapo, Spitzel, Kommunisten, Sozialdemokraten, Widerstandsgruppe, Illegalität, Vertrauen, Freundschaft, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Solidarität
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Zu Feierabend ist Nettstädter wesentlich schneller fertig mit Waschen. Das fällt schon nicht mehr auf, obwohl Willy jeden Abend Lust verspürt, dem Strolch das Hemd vom Leib zu reißen. Es fällt aber auf, dass Nettstädter, der gute fünf Minuten vor Willy den Waschraum verlassen hat, auf dem Fabrikhof an seinem Schuhriemen nestelt und just in dem Augenblick fertig ist, als Willy an ihm vorbeigeht. Unter den vielen Männern, die dem Tor zustreben, erscheint es ganz normal, wenn Nettstädter direkt neben Willy läuft. Ganz unnormal aber ist es, dass der Mann ein Gespräch mit ihm anfängt. Gewiss, es wird Frühling, aber das wird es auch, ohne dass der Gestapoagent Nettstädter darauf aufmerksam macht. Bei Willy gehen alle Sinne auf Alarmstation. Halb mechanisch sagt er etwas von: Es wird auch Zeit, Frühling können wir gebrauchen, dann wird auch alles wieder besser. Das tut er wie einer, der sich bemüht, eine Funkverbindung nicht wieder abreißen zu lassen, von der viel für ihn abhängt. Nettstädter bereitet das sichtlich Vergnügen. Er wird beinahe lebhaft. Sie gehen zusammen durchs Tor. Auf dem Bürgersteig macht der Spitzel den entscheidenden Fehler: Er zieht seine Mütze mit Schwung vor Willy, nickt heftig und schwenkt dann nach rechts ab.

Ganze Mützenfabriken voll Mützen hat Willy in seinem Leben schon auf Arbeiterköpfen gesehen, dass aber ein Arbeiter beim Abschied seine Mütze zieht wie ein feiner Herr seinen Hut, ist ihm noch nie begegnet. Er weiß sofort: Der Lump hat mich soeben irgendeinem dritten signalisiert. Verfluchter Judas, murmelt er und denkt angespannt nach, wie dieses Gaunerspiel durchkreuzt werden kann.

Willy ist Nichtraucher, aber am Tabakladen bleibt er stehen und vertieft sich in die Auslagen. Das blank geputzte grüne Reklameschild „Eckstein dick und rund“ spiegelt die gegenüberliegende Straßenseite. Ein Mann im Lodenmantel mit einem kleinen Hütchen auf dem Kopf geht im Strom der Eilenden gemächlich dahin. Ein harmloser Spaziergänger in der rauchgeschwängerten Luft des großen Industrieviertels. Jetzt bleibt er sogar stehen, sucht umständlich in seinen Taschen, als befürchte er, etwas vergessen zu haben. Das ist ein Trick, der Willy gefällt. Er geht in den Laden, verlangt vier „Lloyd“, bemerkt erstaunt, seine Rauchwarenabschnitte nicht bei sich zu haben, verlässt den Laden wieder, sucht vor der Ladentür hastig seine Brieftasche durch, schüttelt den Kopf und geht in den Betrieb zurück. Der Pförtner lässt das alte Gefolgschaftsmitglied anstandslos passieren, Willy geht in die Garderobe und findet dort noch den letzten Mann, den alten Döring, vor. Es gibt keine Wahl. Er bittet den Kollegen, zu Karl Stenzel zu gehen und ihm zu sagen, er könne heute nicht zum Skaten kommen. Döring ist verwundert. Soweit er weiß, wohnt Schnabel in Stenzels Nähe, während seine Wohnung beinahe entgegengesetzt liegt. Aber gerade dieser Umstand sagt ihm, dass der Kollege Schnabel einen wichtigen Grund haben muss. Willy will noch etwas erklären, keine Zeit und so, aber Döring winkt ab. „Interessiert mich nicht, unter Kollegen kann man sich schon mal einen Gefallen tun.“ Willy ist dem alten, ewig parteilosen Arbeiter dankbar. Dann juckt ihn der Kobold. Er bittet Döring um einen Rauchwarenabschnitt für vier „Lloyd“. Jetzt kennt Dörings Erstaunen keine Grenzen. Schnabel ein Schnorrer? Aber Willy sagt: „Aus gutem Grund ist Juno rund.“ Na schön, denkt Döring, es wird schon etwas auf sich haben, gibt ihm das kostbare Papierschnitzelchen und will gehen. „Halt“, sagt Willy, „noch eine Bitte, warte hier fünf Minuten.“ Döring denkt, es muss wohl irgendetwas Tolles los sein, aber ich hänge nicht drin, und auf fünf Minuten kommt es nun auch nicht an. Vor dem Betrieb sieht Willy den Spaziergänger, er hat noch keine fünfzig Meter geschafft. Willy betritt den Zigarettenladen, kauft sich vier „Lloyd“, zündet sich gleich eine an und verlässt paffend das Geschäft. Jetzt ist er ein Spaziergänger. Er durchwandert Straße um Straße, dreht ein paar Runden im Volkspark und schleppt seinen Schatten bis zu seiner Wohnung mit. Wenn es nicht so böser Ernst wäre, könnte man an der Sache seinen Spaß haben, denkt er.

Else sagt: „Das ist wie in der Bibel, wo geschrieben steht: ‚Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist’s, den greift‘.“ Dann denken sie gemeinsam gründlich über den Fall nach. Warum hat Judas Nettstädter „ihnen ein Zeichen gegeben“? Warum ausgerechnet heute? Wenn mit Vorbedacht heute, woher weiß der Agent von der geplanten Sitzung? Ein Verräter ist ausgeschlossen, gäbe es einen solchen, wozu dann der Aufwand? Haben noch andere Genossen einen Schatten? Das ist unwahrscheinlich, Nettstädter konnte nur vor einem die Mütze ziehen. Soweit ist also klar: Irgendetwas hat den Verdacht des Spitzels erregt, dass Willy für heute Abend irgendeine Sache vorbereitet.

„Selma!“, sagt Willy. „Der Strolch beobachtet, mit wem ich spreche, und mit ihr musste ich ein paarmal darüber sprechen.“

Im gleichen Augenblick fällt ihm auch Kirsten ein. Mit dem Meister hat er in der letzten Zeit am meisten gesprochen. Der Einwand „dienstlich“ deckt das nicht ab; als Meister hat Kirsten mit dem Dreher Schnabel nicht mehr zu verhandeln als mit allen anderen Kollegen der Mechanischen. Also wird es aufgefallen sein, wie häufig sie miteinander gesprochen haben. Omas Funktion als Kurier der Zelle muss sofort aufgehoben werden, das geht auch. Aber was wird mit Kirsten? Kirsten muss auf der Stelle voll in die konspirative Arbeit einbezogen werden. Kirsten ein bewusster Illegaler? Das ist fast nicht denkbar.

„Ist er eine Schlüsselfigur oder nicht?“ Die Frage fällt Else schwer. Sie hätte lieber gesagt: Ich habe Angst, ganz große Angst. Das Ganze treibt unabwendbar der Katastrophe zu. Sie schluckt es hinunter. Wahrscheinlich sagte sie damit nichts Neues. Angst würde Willy nur unsicher machen, Beobachtungsgabe und Scharfsinn schmälern. Jetzt ist er ein Luchs. Zehn Nettstädters machen ihn nicht fertig, solange mit dem Verstand gefochten wird. Also muss sie ihm auch mit dem Verstand beistehen, die Angst ganz tief innen verbergen.

„Klar“, antwortet Willy, „Organisation ist immer eine mächtige Waffe gewesen. Die Arbeiterbewegung hat immer gewusst: Organisation ist der Transmissionsriemen von der revolutionären Absicht zur revolutionären Tat. Dabei haben die Orgleiter stets ein bisschen im Schatten gestanden. Pol., Agitprop, das waren ideologische, beinahe vornehme Funktionen. Kirsten ist unser Orgleiter, wenn er auch kaum etwas davon weiß, er organisiert die Sabotage, das heißt unsere Arbeit.“

„Also wird er es wissen müssen. Das Leben korrigiert eben manche Vorstellungen. Wir sprechen ja auch über Dinge, von denen ich gar nichts wissen dürfte.“

„Doch, du musst es wissen. Die Lage macht dich zu einem Mitglied der Zelle M & S. Die Genossin Else Schnabel muss heute einen Parteiauftrag übernehmen. Der Schatten steht bestimmt noch unten. Wir müssen ihm beweisen, dass die Nettstädterschen Informationen auf Hirngespinsten beruhen. Zugleich müssen wir aber auch wissen, dass wir es ihm bewiesen haben. Ich gehe ins Kino. Es ist zu dunkel, um genau zu erkennen, ob mir einer folgt. Aber einem dritten, der hinter uns beiden hersteigt, entgeht das nicht. Der Schatten sieht den dritten nicht, denn er muss seine Aufmerksamkeit nach vorn lenken. Den dritten musst du spielen. Und um die Sache ganz sicher zu machen, sollten meine Vermutungen stimmen, steht er noch da, wenn das Kino aus ist. Ich gehe nach Hause, er folgt mir und du uns. Wenn du sicher bist, dass er hinter mir her ist, fährst du ein Stück mit der Straßenbahn und bist schon hier, wenn ich komme. Der böse Schnabel hat seine Ehehälfte nicht mit ins Kino genommen. Punkt!“

„Ein bisschen frische Luft tut mir ganz gut“, antwortet Else.

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