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Vertraute Fremde. Essays, Porträts, Betrachtungen von Sigrid Grabner
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Preis E-Book:
6.99 €
Veröffentl.:
06.05.2022
ISBN:
978-3-96521-667-9 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 168 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Geschichte, Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik, Belletristik/Biografisch, Belletristik/Moderne Frauen
Biografischer Roman, Historischer Roman, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories
Indien, Großbritannien, Südafrika, Gewaltlos, Mahatma Gandhi, Hindu, Moslem, Maria Theresia, Österreich, Friedrich II., Preußen, Schlesische Kriege, Schweden, Papst, Rom, Christina von Schweden, Potsdam, Henning von Tresckow, 2. Weltkrieg, Hitler, Attentat, Emmi Bonhoeffer, Andrzej Szczypiorski, Polen, Theresienstadt, Jude, Selbstmord, Raymundus Bruns, Achim von Arnim, Jochen Klepper
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In einer erregten Auseinandersetzung mit Feldmarschall Bock Ende 1941 sagte er: „Es gibt keine andere Lösung: Wir müssen Hitler beseitigen.”

Auf die Befürchtung seines Adjutanten Schlabrendorff, ob er nicht zu weit gegangen sei, antwortete Tresckow bitter: „Bock hat vor allem Angst. Er hat sogar Angst, uns zu verpfeifen. Diese Angst ist zuverlässig.“

Er war ein guter Psychologe. Was für Bock zutraf, galt, mit wenigen Ausnahmen, für die gesamte Generalität. Man verachtete Hitler, und man fürchtete ihn; um nicht handeln zu müssen, berief man sich auf Eid und Tradition.

Im Dezember 1941 meinte Tresckow zu einem seiner Offiziere: „Ich wünschte, ich könnte dem deutschen Volk einen Film vorführen: Deutschland bei Kriegsende. Dann würde vielleicht das Volk voller Schrecken erkennen, auf was wir lossteuern. Dann würde das Volk ganz sicher meiner Ansicht sein, dass der Oberste Kriegsherr eher heute als morgen abgelöst werden und verschwinden müsste. Da wir aber diesen Film nicht vorführen können, wird das deutsche Volk, wann immer wir Hitler beseitigen, todsicher eine Dolchstoßlegende erschaffen.“

Und mit schneidender Klarheit zu einem anderen: „Wir sind subalterne Erfüllungsgehilfen, und zwar im Dienst eines Kapitalverbrechers (…) Nach zuverlässigen Informationen betreiben SS-Spezialkommandos Ausrottungen, die jede Fantasie übersteigen. Der Krieg mündet, früher oder später, mit Sicherheit in eine Katastrophe …“

„Solange ich la der Heeresgruppe Mitte bin“, erklärte er, „wird kein Kommissar erschossen. Ein Russe, der sich ergibt, gibt sich gefangen, damit er sein Leben behält. Das weiß jeder Soldat.“

Welchen Mut er und seine Kameraden aufbrachten, kann heute kaum noch jemand ermessen. Diese in der Mehrzahl jungen Männer waren zu Offenheit, Loyalität und Ritterlichkeit erzogen. Die Verantwortung, die sie, im Gegensatz zu den Nazis, für Deutschland empfanden, engte ihren Handlungsspielraum ein und drängte sie gleichzeitig zum Äußersten. Oft zitierte Tresckow das Bibelwort von den Schafen unter den Wölfen. Aber er, dessen Wirkung auf andere seiner unglaublichen Präsenz und Lebendigkeit entsprang, litt unter der Maske der Selbstverleugnung; ihn belasteten die sinnlosen Opfer des Krieges auf allen Seiten, der Terror gegen die Russen, die Feigheit der unpolitischen Generäle. Er war kein Vabanque-Spieler, seiner auf Ausgleich bedachten Natur lag jeglicher Extremismus fern, und doch musste er, der Stimme seines Gewissens folgend, Familie, Freunde, das eigene Leben riskieren.

Im April 1943, gezeichnet von der nervlichen Anspannung und zwei fehlgeschlagenen Attentaten im März, offenbarte er sich während eines Urlaubs seiner Frau. Immer hatte er Dienstliches und Privates streng getrennt, jetzt ertrug er nicht länger die Einsamkeit seines Auftrags. Ihm war klar, was er seiner Frau zumutete. Bei einem langen Spaziergang durch den Park Sanssouci warb er um ihr Verständnis: „Ein wirklich überzeugter Christ kann doch nur ein überzeugter Gegner sein.“ Als wenige Tage später seine Söhne Mark und Rüdiger in der Garnisonkirche konfirmiert wurden, sprach er in einer Tischrede von der „Verpflichtung zur Wahrheit, zur inneren und äußeren Disziplin, zur Pflichterfüllung bis zum Letzten“, denn vom wahren Preußentum sei der Begriff der Freiheit niemals zu trennen. Erika von Tresckow hörte die Not hinter seinen Worten. Aber würden Kinder und Kindeskinder einmal verstehen, dass er sein Joch auch um ihretwillen auf sich genommen hatte? Wie sollten sie nachvollziehen können, durch welche Hölle er ging, wenn er an ihr mögliches Schicksal dachte! Sein knappes Wort an anderer Stelle „Wo das Müssen anfängt, hat das Fürchten aufzuhören“ ließ erahnen, wie es in ihm aussah.

Mit dem Verweis auf seine angeschlagene Gesundheit erwirkte Tresckow im Herbst 1943 einen mehrwöchigen Fronturlaub und arbeitete von Babelsberg aus, unterstützt von seiner Frau und deren Freundin Margarethe von Oven, fieberhaft an der Koordinierung aller Widerstandsgruppen. Zusammen mit Stauffenberg bereitete er die „Operation Walküre“ vor. Das bedeutete ständige Gefahr, verhaftet zu werden, schlaflose Nächte … Ein Foto zeigt ihn mit seiner Frau im Babelsberger Park, schmal, ernst, müde, angespannt, nur bei Erika von Tresckow die Andeutung eines Lächelns. Auf dem Weg zurück zur Front schrieb er ihr: „(…) es ist und bleibt alles sonnenklar, und wir müssen hindurch – so oder so.“

Drei weitere Attentatsversuche im November 1943, im Februar und März 1944 schlugen fehl, ebenso die Bemühungen, in Moskau, London und Washington Unterstützung für einen Staatsstreich zu finden. Der Krieg näherte sich den deutschen Grenzen, die Zeit lief den Verschworenen davon. Ein verhängnisvolles Geschick machte seit 1938 alle Versuche zunichte, Hitler und seine Paladine auszuschalten.

Längst war Tresckow dem Schafott näher als dem Posten eines Chefs des Generalstabes. Als er am 1. Juni 1944, sieben Wochen vor seinem Tod, zum General ernannt wurde, berührte ihn das kaum. Nur noch Frieden wollte er und die Beseitigung Hitlers, denn ohne Freiheit war für ihn keine menschliche Würde und kein Fortschritt denkbar. Dafür ermutigte er sich und die anderen. „Es wird lange dauern, bis das zersetzende Gift dieser Zeit ausgemerzt ist“, prophezeite er.

Schon immer natürlich im Umgang, war er in den letzten Jahren noch wesenhafter geworden. „Das Herz sieht weiter als das Auge“, schrieb er am 31. März 1944 an seine Frau. In den vielen Briefen an Frau und Kinder nahm er intensiv Anteil an ihrem Leben. Er las oft in der Bibel, lernte Gedichte wie das Abendlied von Matthias Claudius auswendig, erbat sich von zu Hause den Hamlet im englischen Original. Wenn irgend möglich, entzog er sich dem ihm seit jeher verhassten Kasinogeschwätz. Er konnte gut mit sich allein sein. Sein inneres Kind, wie wir heute sagen würden, war sein nächster Freund: ein kleiner Junge, der mit nackten Füßen in die Welt hinaus wandert – ein Bild, das auch auf seinem Schreibtisch stand.

In einer feindlichen Umgebung schützte er sich durch Ironie und Reserviertheit. Das nährt bei vielen, die nur die Fotos von Henning von Tresckow in Uniform kennen und sonst kaum etwas über ihn wissen, das Vorurteil, er sei kühl und arrogant gewesen. Das Leben hatte ihm um des Lebens willen eine Maske aufgezwungen, doch wem er sich öffnete, fühlte sich beschenkt durch seinen Charme, das Aufblitzen seines Humors und die Achtsamkeit seines Herzens. Nie vergaß er das „bitte“ vor einem Befehl, auch in der brisantesten Situation blieb er beherrscht und höflich. Noch Jahrzehnte nach seinem Tod erinnerten sich einfache Soldaten dankbar an ihn.

Am Tage, da er General wurde, landeten die Alliierten in Frankreich. Keine Hoffnung mehr auf Verhandlungen nach dem Tod Hitlers, der Krieg würde bis zum bittersten Ende dauern. Als Stauffenberg anfragen ließ, ob man das Attentat dennoch durchführen solle, antwortete Tresckow: „Das Attentat muss erfolgen, coute que coute. (…) Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. (…)“ Nach zwei vergeblichen Anläufen zündete die Bombe am 20. Juli 1944, Hitler überlebte das Attentat.

Tresckow wusste, was ihm bevorstand: Folterungen, Demütigungen. Er wollte seine Familie und seine Freunde schützen. Der überzeugte Christ Henning von Tresckow entschied sich für die Selbsttötung. In der Nacht vom 20. zum 21. Juli versuchte er telefonisch seine Frau zu erreichen, aber die Leitungen waren blockiert. So schrieb er ihr am Morgen des 21. Juli noch einen letzten Brief, in dem er, um sie nicht zu gefährden, nur andeuten durfte, was er dachte und fühlte. Er unterschrieb mit „Dein uralter Henning“.

 

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