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Mit Glück ins Leben. Schlesische Kindheit, sächsische Jugend von Gisela Heller
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
24.09.2020
ISBN:
978-3-96521-029-5 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 474 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Biografisch, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Literarisch, Belletristik/Liebesroman/Aktuelle Zeitgeschichte, Belletristik/Liebesroman/Geschichte/20. Jahrhundert, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik, Belletristik/Moderne Frauen, Belletristik/Familienleben
Biografischer Roman, Familienleben, Generationenromane, Familiensagas, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Liebe und Beziehungen, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Soziales, Leipzig, Erste Hälfte 20. Jahrhundert (1900 bis 1950 n. Chr.)
Literatur, Biografie, Rundfunk, Autobiografie, Leipzig, Familie, Liebe, Weimar, Breslau, Flucht, Neuanfang, Kindheit, Jugend, Haft, Spionage
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Geliebte Hutzel-Oma

Lichtblick in dieser Einöde war für mich die Hutzeloma; flink wie eine Zieselmaus, immer mausgrau gekleidet und immer beschäftigt. Das spärliche, in der Mitte gescheitelte Haar als Mäuseschwänzchen geflochten und zum Kicks aufgesteckt. Demut und Bedürfnislosigkeit in Person. Wenn sie auf etwas stolz war, dann auf ihren unansehnlichen Ehering mit der Inschrift; „Gold gab ich für Eisen“. In der Tat hatte sie 1917 ihren einzig wertvollen Besitz, den goldenen Trauring gegen dieses eiserne Monstrum eingetauscht. – Ach, Oma … „Ich hab’s für Traugott getan“, verklärte sie ihre Opfertat. Aber es hatte ihren Bruder nicht gerettet.

Bei all ihrer Unscheinbarkeit spürte ich jedoch schon als Kind, dass meine Vater-Mutter etwas Besonderes war. Ihre Familie stammte aus dem Glatzer Bergland und dem Eulengebirge, wo die Sandsteinfelsen sonderbare Gestalten hatten, die zu Sagen und Märchen Anlass gaben. Die schlesischen Weber waren hier zu Hause, denen Gerhart Hauptmann mit seinem Drama ein literarisches Denkmal gesetzt hatte. Oma kannte alle Theaterstücke Hautmanns. „Vor Sonnenaufgang“ hielt sie „für allzuwahr und deshalb deprimierend“, über den „Biberpelz“ amüsierte sie sich immer wieder köstlich, obwohl sie die Winkelzüge der Mutter Wolffen nicht gutheißen konnte. Omas Überzeugung nach musste man offen und ehrlich durchs Leben gehen, auch wenn man es damit nicht allzu weit brachte. Wann sie sich nur all die Sprüche und Geschichten angelesen hatte?

Sie war die Älteste von sechs Geschwistern, und die Stiefmutter achtete darauf, dass sie „etwas Nützliches“ tat, anstatt mit Lesen Zeit zu vertrödeln. Von ihrem Vater sprach sie nur in schwärmerischen Tönen. Er hatte es zu einem kleinen Haus gebracht mit etwas Land, Hühnern, Gänsen, Ziegen und einem Pferdewagen; mit dem kutschierte er über Land, nahm Bestellungen für Tuche auf, kaufte beim Grossisten in Glatz ein und lieferte einmal im Monat das Bestellte aus. Dieser kleine Tauschhandel hätte vielleicht ausgereicht, um die vielköpfige Familie zu ernähren, aber seine Kunden, meist popelige Ladenbesitzer oder Schneider, zahlten höchst unregelmäßig, erst wenn die Stoffe verkauft oder die genähten Röcke bezahlt worden waren.

Festtage waren es für Luise, wenn sie den Vater auf seinen Fahrten durchs Gebirge begleiten durfte. Dann saß sie neben ihm auf dem Bock, kutschierte sogar selbst, wenn es nicht gerade steil bergauf oder bergab ging und genoss die Nähe des Vaters. Manchmal sangen sie auch aus voller Kehle: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben …" oder: „Wer recht in Freuden wandern will, der geh der Sonn entgegen …" Sie dankten dem Herrgott aus ehrlichem Herzen für alles Gute, das er ihnen gegeben hatte: gesunde Glieder und gesunden Menschenverstand, Haus und Garten und einen dicken Schafspelz, der sie bei klirrendem Frost schützte, und für die Tatsache, dass sie immer satt zu essen hatten und dass von den sechs Kindern, die Frau Christiane ihm geboren hatte, nur eins gestorben war … – „Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew'ger Bund zu flechten / und das Unglück schreitet schnell“ … Bei der Geburt des siebenten Kindes starb Frau Christiane und die damals noch nicht einmal zehn Jahre alte Luise musste den Haushalt aufrecht erhalten und ihre Geschwister versorgen: die achtjährige Martha, den fünfjährigen Paul, die dreijährige Amalie (die spätere Diakonisse), die zweijährige Emma und das Neugeborene, das nach der toten Mutter Christiane genannt worden war. Den Säugling durchzubringen war das Schwerste. Oma Luise hielt dies für ihre größte Lebensleistung und erzählte oft davon. Ich hörte immer wieder staunend und bewundernd zu, doch eigentlich konnte ich mir nicht recht vorstellen, was sie im Einzelnen geleistet hatte.

Der Not gehorchend hatte der Vater ein halbes Jahr später wieder geheiratet. Da war er achtunddreißig, seine neue Frau Ernestine achtundzwanzig. Sie vergrößerte die Kinderschar des Handelsmannes in den folgenden fünf Jahren um vier Söhne: Wilhelm Sigismund, Fritz, Traugott und Konrad. Letzteren sollten wir viel später kennenlernen und näher, als uns lieb war.

Wenn Oma Luise zurückdachte, sah sie sich immer mit einem Kinde auf dem Arm und einem am Rockzipfel. Wann hatte sie Zeit gefunden, die Schule zu beenden, Bücher zu lesen. Holteis Gedichte, Schillers Balladen und Johann Peter Hebels „Schatzkästlein“ auswendig zu lernen? Besonders liebte sie das lange Gedicht „Vom Bäumlein, das andre Blätter hat gewollt“. Es handelte von einem kleinen Tannenbaum draußen im Wald, der, unzufrieden mit seinem Los, sich goldene beziehungsweise silberne Blätter wünscht. Er bekommt sie auch, aber sie werden ihm bald darauf gestohlen. Nun wünscht er sich gläserne Blätter, doch die zersplittern im Sturm. Zuletzt möchte er frische, grüne Blätter, die werden von Ziegen gefressen. Da steht er nun, kahl und beschämt, und seufzt: „Hätt‘ ich nur meine Nadeln, / Ich wollte sie nicht adeln …“

Oma Luise war zeit ihres Lebens mit dem ihr zugedachten Nadelkleid zufrieden. Wenn sie sich etwas wünschte, dann für andere. Solange sie denken konnte, war sie für andere da: zuerst für ihre neun Geschwister, und als diese für sich selber sorgen konnten, war sie nahe dreißig. Anstatt nun endlich an sich selbst zu denken, huckte sie sich einen armen Schneidergesellen auf, kränklich und schwächlich und ohne rechten Mumm, von keinem geliebt und von allen nur geduldet. Sie heiratete den vier Jahre Jüngeren, weil er ihr leid tat, und ernährte ihn, indem sie sich im Hotel als Küchenhilfe verdingte. Das ging solange gut, bis das erste Kind geboren wurde. Sie nannte es nach dem Vater Hermann Georg, und weil er am 13. November, dem Martinstag, gekommen war, auch noch Martin. Es sollte so gütig und hilfsbereit werden wie der Ritter Martin, der seinen letzten Mantel mit einem Bettler teilte und – wenn auch erst nach einigen hundert Jahren – heiliggesprochen worden war. Gütig und hilfsbereit wurde Martin Hermann Georg, heilig nicht.

Bald nach seinem Erdenantritt wurde Schmalhans Küchenmeister im Hause Hielscher. ,Ja, wenn wir in der Stadt wohnten, da könnte ich mich selbstständig machen!“, sagte der Mann. Er sprach immer im Konjunktiv: wenn das und das wäre, dann könnte ich; aber er tat es selten. Luise arrangierte den Umzug nach Breslau, und dort ging es tatsächlich leidlich aufwärts, so dass sie sich die gutbürgerliche Wohnung in der Lehmgrubenstraße leisten und zwei Gesellen anstellen konnten. Bald vergrößerte sich die Familie. Hermann war gerade zwei Jahre alt, da kam Malchen und wieder zwei Jahre später Lydia, die sehr viel Sorgen bereitete, weil sie ständig krank war und die Arztkosten das mühsam ausgeklügelte Haushaltsbudget ins Trudeln brachten.

Dann brach der Erste Weltkrieg aus. Der Deutsche Kaiser brauchte jede Menge Helden, und wer kein Held war, sondern nur ein schwächlicher Schneider, der musste – oder soll man besser sagen: der durfte? – für drei arbeiten. Ohne Gesellen; die marschierten nach Frankreich, von wo sie mit zerschossenen Gliedern heimkamen. Anfangs waren sie noch mit den Vielen siegestrunken in den Krieg gezogen. Jeder Schuss ein Russ!“, hatten sie mit Kreide an die Wände des Eisenbahnwaggons gekritzelt, und „Jeder Stoß ein Franzos!“. Oma hatte diese Euphorie nie geteilt, sondern Gott gedankt, dass ihr Hermann noch zu klein war fürs kaiserliche Kanonenfutter. Und jeden Abend hatte sie gebetet, dass Traugott heil aus Flandern heimkehren möge. Doch statt seiner kam 1916, als Dank des Vaterlands, ein billiger Öldruck, darauf ein Engel, der mit großer Geste einen Palmzweig über einem toten Soldaten ausbreitet … Das war alles, was Luise von ihrem „kleinen Bruder“ blieb, den sie wie eine Mutter großgezogen hatte. Das Bild hing, goldgerahmt, in der guten Stube, jedes Mal, wenn sich die Familie festlich versammelte, war Traugott anwesend. Ich habe das Bild stets mit ehrfurchtsvoller Scheu betrachtet.

Der Krieg ging, wie man weiß, verloren. Die Zeiten änderten sich radikal, und Luises Mann, mein Großvater, der anfangs noch begeistert Siegesmärsche auf dem Schneidertisch getrommelt hatte, fand sich unter den neuen Bedingungen nicht zurecht. Er arbeitete nur noch gelegentlich, und Luise musste den Haushalt aufrecht halten. In den Hungerjahren hatte Hermann beim Onkel in Hessen Gärtner gelernt. Blumen und Gemüse. Er wusste, dass er nicht dabei bleiben würde, er wollte mehr, Gärten und Parks anlegen, Landschaft gestalten. Dazu musste er auf eine Fachschule. Wieder in Breslau, bereitete er sich systematisch darauf vor, besuchte Kurse, nahm jede Arbeit an, legte jeden Groschen auf die hohe Kante und lächelte zufrieden, als nach einem Jahr das dicke Sparschwein nicht mehr hell scheppernd, sondern dumpf rasselnd klang. Endlich kam der große Tag, an dem er es schlachtete – aber er fand nichts anderes als Hosenknöpfe. Der Vater hatte den Notgroschen des Sohnes versoffen. Hermann verließ die elterliche Wohnung auf Jahre hinaus. Er hat es dem Vater nie verziehen.

Mit Glück ins Leben. Schlesische Kindheit, sächsische Jugend von Gisela Heller: TextAuszug