Der Zweck Ihres Besuches?, hatte der Einwanderungsbeamte bei seiner Ankunft in New York gefragt.
Ein kurzer Aufenthalt in den Staaten, hatte er geantwortet.
Aber am Abend des letzten Tages, auf der Fahrt zum John-F.-Kennedy-Flugplatz, kommt ihm der Aufenthalt gar nicht so kurz vor, gemessen an den Erlebnissen, die er hier gehabt hat.
Östlich des Hudson, als sie die Queensboro-Brücke überquert hatten, bat er den Taxifahrer, einen Augenblick zu halten, damit er ein letztes Mal zurückblicken könne. Schon durchschnitten die Scheinwerferstrahlen der Autos die Straßenschluchten von Manhattan, hoch oben in den Wolkenkratzern leuchteten Millionen Fenster wie Sterne am dunklen Himmel, und der farbige Glanz der flackernden Neonreklamen spiegelte sich im Fluss wider. Wie er dastand und das Bild in sich aufnahm, begriff er, dass er gerade erst begonnen hatte, die Stadt zu erforschen und doch spürte er, dass die Kürze seines Aufenthalts die Eindrücke verstärkt hatte und dass alles, was er hier erlebt, gesehen und gehört hatte, in sein Gedächtnis eingeätzt bleiben würde.
Ich muss mir noch ein paar Dollars ergattern, drängte der Fahrer schließlich, wir sollten lieber weiterfahren, wenn Sie das Flugzeug noch erreichen wollen, Mister!
Sie hätten sich nicht zu beeilen brauchen bei seiner Ankunft auf dem Flugplatz erfuhr er, dass der Start der planmäßigen Maschine nach London sich verzögerte, und als sein Gepäck gewogen und die letzten Formalitäten erledigt waren, hatte er noch reichlich Zeit.
Rastlos wandert er durch ein Labyrinth von Gängen, vorbei an Geschäften mit verlockenden Warenauslagen, bis er sich schließlich in der Empfangshalle bei den anderen wartenden Reisenden einen Platz sucht. An der Tür unterhalten sich ein paar Gepäckträger lebhaft über den in einer Stunde beginnenden Titelkampf im Schwergewicht zwischen Liston und Clay. Ein unbehagliches Schweigen setzt ringsum ein, als jemand den Flugzeugabsturz in der Nähe von New Orleans erwähnt. Wie immer vor einem Flug, schließt er für sich selbst die Möglichkeit eines Unglücks aus und beschäftigt sich damit, die Aufzeichnungen, die er in den ersten Tagen seines Aufenthalts gemacht hatte, mit den späteren zu vergleichen. Reine Beschreibung wechselt mit seitenlangen Dialogen ab. Zwischen Gesprächsfetzen, die er in U-Bahn-Zügen, an Straßenecken, an Bartheken, auf den Zuschauerrängen des Stadions mitgehört hatte, findet er die detaillierte Schilderung einer Szene ein alter Mann kaufte in einem Café in der Nähe des Madison Square Garden Gehacktes für seinen Hund; ohne selbst etwas zu essen, schaute er geduldig zu, wie der Hund das Fleisch verschlang. Er kann den Mann wieder vor sich sehen, wie er, nachdem er mit seinem letzten Geld bezahlt hatte, mit seinem Hund auf die von Menschen wimmelnde Straße hinaustritt, einen Augenblick lang auf dem Bürgersteig zögernd stehenbleibt und sich dann im Verkehr verliert Weiterblätternd, stößt er auf einen rauen, aber herzlichen Wortwechsel zwischen einem kräftigen Schwarzen und einem hageren weißen Verkäufer an einem Würstchenstand unter einer großen Brücke am Harlem River. Wie hast du das bloß geschafft, in die Großstadt zu kommen?, fragt der Verkäufer. Ich wette, du bist noch nie in einem Zug gefahren, hast dir einfach dein Bündel gegriffen und bist barfuß losmarschiert den ganzen langen Weg von Georgia bis Harlem! Da hast du verdammt recht, erwidert der andere, das hat mich ja auch so abgehärtet!
Ein kleiner Zeitungsausschnitt mit einem Bericht über den Mord an einem Afroamerikaner, den man in Jackson, Mississippi, durch den Kopf geschossen und blutend unter einem Lastwagen hatte liegenlassen, ist unten auf dieser Seite aufgeklebt Gegensätze: Mord in Missisippi gutmütige Hänselei zwischen schwarzen und weißen Proletariern in Harlem!
In diesem Zusammenhang muss er an den heutigen Nachmittag denken, als er zum letzten Mal nach Harlem gegangen war, um sich von X. zu verabschieden. Da er ihn zu Hause nicht angetroffen hatte, war er sehr bald wieder mit dem Bus umgekehrt, als einziger Weißer zwischen farbigen Frauen, die in die Stadt fuhren als einziger? Nein, der Fahrer war natürlich ein Weißer, und außerdem war da noch ein magerer kleiner Junge mit blasser, durchsichtiger Haut; die Augen waren hinter den starken Gläsern einer billigen Nickelbrille kaum zu sehen. Der Junge blickte verwirrt um sich, bevor er schüchtern nach der 42. Straße fragte. He, du hast noch nicht bezahlt!, rief ihm der Fahrer zu. Nachdem er ergebnislos in den Taschen seines abgenutzten Mantels gewühlt hatte, stolperte der Junge zur Tür. Doch bevor er aussteigen konnte, hatte ihm eine Frau einen Vierteldollar in die Hand gedrückt, eine andere zehn Cents, eine dritte hatte den Fahrpreis für ihn bezahlt. Danke schön, flüsterte der Junge und setzte sich wieder hin Als er später mit der U-Bahn zur Battery gefahren war, erinnert er sich, hatte außer einem Schwarzen niemand der weißhaarigen Bettlerin etwas gegeben, die zu ihrem Akkordeon mit schwacher Stimme sang, während sie langsam durch den Wagen ging
Ein Lautsprecher unterbricht ihn in seinen Gedanken. Als er erfährt, dass er immer noch eine halbe Stunde Zeit hat, bevor das Flugzeug startet, packt er die Notizen weg und betritt eine Telefonzelle. Vielleicht, sagt er sich, kann er noch ein paar von seinen Freunden sprechen, die er tagsüber nicht erreicht hatte ein letztes Lebewohl den Amerikanern sagen, die die Schriftstellerin Margaret Halsey die bejahenden Menschen nennen würde, Menschen, die die Praktiken und das Verhalten der sie umgebenden Gesellschaft ablehnen und die, wie Carl Marzani in Manhattan und Carl Braden in Louisville, nicht nur hartnäckig darauf bestehen, dass eine Änderung der Verhältnisse notwendig ist, sondern auch, dass sie möglich ist.
Er wirft das Geld ein und wählt eine Nummer, und gleich darauf wünscht ihm die vertraute Stimme von Carl Braden eine gute Reise.