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Schade, dass du Jude bist. Kaleidoskop eines Lebens von Walter Kaufmann
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Preis E-Book:
9.99 €
Veröffentl.:
21.10.2020
ISBN:
978-3-96521-268-8 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 519 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Politik, Belletristik/Geschichte, Belletristik/Biografisch, Belletristik/Familienleben, Belletristik/Jüdisch, Belletristik/Verbrechen
Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Historischer Roman, Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust, Biografischer Roman, Vereinigtes Königreich, Großbritannien, Deutschland, Australien, Erste Hälfte 20. Jahrhundert (1900 bis 1950 n. Chr.)
2. Weltkrieg, Abenteuer, Auschwitz, Australien, Brasilien, DDR, Deportation, Duisburg, Emigration, Erwachsenwerden, Familie, Faschismus, Adoption, Flucht, Freundschaft, Gewerkschaft, Gräuel, Grausamkeit, Großbritannien, Hass, Holocaust, Internierungslager, Jude, Judenverfolgung, Kindheit, Kuba, Liebe, Menschlichkeit, Nationalsozialismus, Niederlande, Seefahrt, Solidarität, SS, Zusammenhalt
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Frl. Minuth

Weil ich noch die einstige Sekretärin meines Vaters hatte aufsuchen wollen, war ich einen Tag länger in Duisburg geblieben. Wie mir mitgeteilt wurde, wohnte sie noch in dem Mietshaus von damals. Mir schien sie sehr gealtert und weit hagerer, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie war unverheiratet und darum Frl. Minuth geblieben, und so misstrauisch wie sie mich nach meinem Läuten aus einem der oberen Fenster des Hauses gemustert hatte, musterte sie mich auch auf dem Treppenabsatz. Wohl nur aus Gewissensgründen ließ sie mich in die Wohnung und ich blieb kaum länger, als sie brauchte, um mir auszuhändigen, was mein Vater ihr vor der Verschleppung zur Aufbewahrung hinterlassen hatte – eine Reiseschreibmaschine, Manschettenknöpfe, eine Krawattennadel. „Strikt ungesetzlich war das, so was zu behalten damals“, sagte sie, „gefährlich auch für unsereins, allein die Mappe hier hätte mich verraten können.“ Wie ich überlebt und wohin es mich verschlagen hatte, fragte sie nicht und ich schwieg dazu, dankte ihr und – ging. Es traf mich tief, als ich, zurückgekehrt in die Pension am Bahnhof, eine Adoptionsurkunde in der Mappe fand. Schlagartig war gewiss, was ich als Elfjähriger geahnt hatte, als mich Käte, unsere Hausgehilfin, im Ärger Adoptivkind nannte, ein mir unheimliches Wort damals, das mir die Mutter nicht hatte erklären wollen – „später, wenn du größer bist“. Also war ich tatsächlich nicht der leibliche Sohn meiner Eltern, hieß Salomon und eine ledige Verkäuferin mit Namen Rachela Schmeidler, die in der Berliner Mulackstraße gemeldet gewesen war, hatte mich mit siebzehn Jahren zur Welt gebracht.

Dem würde ich nachgehen müssen, dem zu allererst …

Suche nach der Herkunft

„Ein Junge mit Namen Salomon hier in der Mulackstraße? Nicht dass ich wüsste!“ Der kleine Mann in Schiebermütze und Lederjacke, der sich als Alfons Hinze vorgestellt hatte, Angestellter einer Zoohandlung beim Alexanderplatz, beäugte mich misstrauisch. „Dabei hab ich mein Leben lang hier gewohnt.“

Nicht lang genug, sagte ich mir, führte ihn aber doch zu dem Haus, das in der Adoptionsurkunde vermerkt war, eine, wie sich herausstellte, jener zahllosen Berliner Kriegsruinen, an die ich mich seit meiner Rückkehr hatte gewöhnen müssen. Nur der Keller des Mietshauses schien noch bewohnt – durch den Vorhang des Fensters dicht überm Bürgersteig schimmerte rötliches Licht.

„Muss vor meiner Zeit gewesen sein“, sagte Hinze. „Die da wohnt, wohnt da schon ewig – und kennt auch jeden. Fragen wir sie doch einfach.“ Schon wollte er an die Scheibe klopfen, da besann er sich. „Ist zwar nicht mehr die Jüngste, schafft aber noch immer an. Besser, wir warten.“

Nieselregen fiel. Ich fröstelte in der kalten Novembernacht und dem viel zu leichten australischen Mantel. Ich zog die Schultern ein, schlug den Kragen hoch, schob die Hände in die Taschen.

„Hocken wir uns eine Weile in die Mulackritze“, schlug Hinze vor. „Dort kommt sie immer mal hin – vielleicht auch heute.“

Wir waren erst beim zweiten Bier, als eine vollbusige Frau, die trotz schlohweißen Haars kaum älter als fünfzig wirkte, die Kneipe betrat und an einem Ecktisch Platz nahm, an dem schon ein Mann saß, den sie zu kennen schien. Schminke gab ihrem Gesicht eine unnatürliche Röte. Ringe glitzerten an den Fingern beider Hände, und als sie ihren Mantel hinter sich auf der Stuhllehne ablegte, offenbarte ihre durchsichtige Bluse füllige Arme und einen üppigen Busen.

„Wäre richtig nett, wenn Sie mal herkämen“, bat Hinze sie und wandte sich dann an den Wirt: „Eine Lage für drei!“

Die Frau beschwichtigte den Mann an ihrem Tisch und folgte Hinze. Sie musterte mich.

„Auf Ihr Wohl!“, sagte Hinze, und dann leise zu mir: „Das ist sie – der Rest liegt bei Ihnen.“

Ich stellte mich vor, was der Frau nichts sagte, als ich aber einen Jungen namens Salomon erwähnte, der vor dreißig Jahren in ihrem Haus gelebt haben musste, horchte sie auf. „Wie wollen Sie das wissen und von wem?“

Ich holte die Adoptionsurkunde aus der Tasche und zeigte sie ihr. Sie überflog den Inhalt und setzte sich, als könnte sie stehend nicht ertragen, was sie da las. „Sind das etwa Sie?“ Ich nickte. Da breitete sie die Arme aus und drückte mich an sich: „Mein Solly!“

Schade, dass du Jude bist. Kaleidoskop eines Lebens von Walter Kaufmann: TextAuszug