Mitsu wirkte dieser allgemeinen Missstimmung, so gut sie konnte, entgegen. Ausguck gab Auftrieb, weil verbunden mit Zuversicht, und so ließ sie beim geringsten landschaftlichen Anlass halten. Natürlich war dies nicht reine Beschäftigungstherapie. Immerhin näherten wir uns dem berechneten Punkt, der Absturzstelle. Ja — ich dachte jetzt auch >Absturzstelle< und >zerschelltes Schiff<. Wie sollte ein Flugkörper auf diesem Teil der Venusoberfläche landen, selbst wenn er noch zu einem Landeanflug fähig gewesen wäre ... Auch die Hoffnung, vielleicht doch noch einen der Besatzung lebend zu treffen, begrub sich in mir mehr und mehr. Ein Mensch, hier wochenlang mutterseelenallein, müsste wahnsinnig werden, glaubte ich.
Am sechsten Tag gerieten wir in eine Landschaft, die mit unserem Modell nicht im geringsten übereinstimmte. Eine Art flachen Kraters tat sich vor uns auf, umschlossen von abgeböschten Felswänden. Die Kegelfläche, die auf einen See zulief, lag geröllig und übersichtlich vor uns.
Wir kamen aus einer Klamm unvermittelt in diese Region, hielten überrascht, kletterten in die Anzüge und aus dem Fahrzeug, sahen, staunten.
Dann drehte sich der Kugelkopf Mitsus auf mich. >Wie alt sind die Karten, aus denen wir das Modell gemacht haben<, fragte sie nicht ohne Schärfe.
>Fünfzig, die ältesten.<
>Was fünfzig !<
>Jahre ...<
Mitsu winkte mit der Hand ab, was so viel wie >drum< heißen mochte oder auch >lasst euch einpacken<.
Mir ging das in diesem Augenblick nicht nahe. Linker Hand, aus dem überdunsteten See, zog sich eine blaugrüne Zunge ein Viertel des flachen Hanges empor. Das verwunderte mich. Wie wohl das den Augen tat, die seit Tagen roten Fels, roten Fels, hie und da eine Quarz- oder Metallader, und wieder roten Fels aufnahmen.
Nun war uns natürlich bekannt, in den gemäßigten Zonen, im geologisch ruhigen Hochland und an anderen geschützten Stellen der Venus kamen durchaus niedrige Flora und sogar Fauna vor. Du weißt, Mark, es war eine Sensation, als ein Landeapparat in einer solchen Zone bei sechzig Grad Außentemperatur das Foto einer Art Urlibelle sendete. Aber selbst in den Niederungen, wo die Temperaturen sehr viel höher sind, gedeiht pflanzliches Leben. Daran hätte nach den Ergebnissen der ersten Sonden, die man zur Venus gesandt hatte, niemand geglaubt.
Ohne einen Befehl, ohne ein Wort, Mitsu voran, gingen wir auf das Grün zu.
Es war weiter entfernt, als wir dachten, und höher, als wir vermutet hatten.
Im Grunde zarte gefiederte Gewächse, wie Spargel oder Schachtelhalme vielleicht, standen zu einem undurchdringlichen Dickicht, hüft- bis brusthoch. Und bevor wir es erreichten, übertrampelten wir zahllose fingerdicke Keime und Sprosse, also wucherte der Busch noch aus. Immerhin, die Außenthermometer zeigten siebenundfünfzig Grad Celsius.
Wir gingen am Rande der Buschzone entlang zum See. Wie eine Glocke stand Dunst über der Flüssigkeit, die wir für Wasser hielten, wölbte sich in vier bis fünf Meter Höhe. Darunterhin konnte man wie in einer Höhle bis zum zwei, drei Kilometer entfernten anderen Ufer blicken und — bis auf den grünwallenden Grund. Man hatte unbedingt den Eindruck, als wären die Gewächse draußen auf dem Hang diesem Grund entstiegen, denn das Dickicht setzte sich ununterbrochen vom Land bis auf den Boden des Sees fort.
Wie es dann geschah, kann ich nur vermuten. Es ging so rasch und alles beinahe gleichzeitig.
Ich weiß noch, dass sich Luise am Rand des Sees im Winkel zwischen dem steinigen Uferstreifen und der grünen Hecke auf Knien niederließ, eine Hand eintauchte und rief: >Ich ebne diesen verdammten Berg ein, wenn das kein Wasser ...< Es folgte ein gellender, lang gezogener Schrei.
Nur aus dem Augenwinkel heraus hatte ich den dunklen Körper huschen sehen, der aus Richtung See, das Gebüsch teilend, blitzschnell hervorschoss, sich auf Luise warf, sie offenbar packte und mit ihr in das Wasser tauchte wie ein Geschoss, ohne viel Geräusch und Wallung.
Dann schrie Mitsu: >Nein, Jonny!<
Es planschte laut, Wellen leckten an unseren Füßen. Jonny tauchte mit kräftigen Schwimmstößen gegen das Luftpolster des Anzugs Luise hinterher.
Von diesem Moment an waren wir zu viert und blieben es.
Wir standen und starrten gelähmt in die Tiefe.
Die Wellen verzerrten das Bild, später quollen rote Wolken auf, die Sicht nehmend. Das Blut der Gefährten.
Aber bevor das eintrat, sahen wir entsetzt, ohnmächtig, nicht fähig, ein Glied zu rühren, wie dunkle, ovale Körper, ein halbes Dutzend vielleicht, mit paarigen Ruderfüßen pfeilschnell aus dem Unterwasserdickicht drangen und die Körper der Gefährten zerstückelnd in den wallenden Dschungel zerrten — räuberische, übermetergroße Wasserkäfer.
Wir standen noch, als das Wasser vor unseren Füßen rot war, standen, bis wir wie aus einem Mund entsetzt aufschrien. Ein schwarzes Etwas tauchte unmittelbar vor uns auf, schnellte mit einer offenen sägezahnigen Zange auf uns zu. Wir rannten um unser Leben, strauchelten, stürzten.
Neben mir lief Josef, hinter mir keuchend Sam, zwei, drei Meter vor uns Mitsu.
Plötzlich wurde sie langsamer, riss an ihrem Gürtel, dann warf sie sich herum, stürzte lang hin, drehte sich im Fallen auf den Rücken, hielt krampfhaft den Gesteinsstrahler umklammert und schoss in Dauerfeuer den Hang hinab. Wir überliefen sie, versuchten dann, es ihr gleich zu tun. Josef war der nächste, dann ich, dann Sam. Wir schossen blindwütig, bar jeden Gedankens, schossen in einen Brodem hinein, eine Wolke aus Feuer, Rauch und Dampf, schossen, bis die Strahlen sichtbar und dünn wurden, die Akkumulatoren keine Kraft mehr gaben.
Unten erstarb das Zischen, hob sich die Wolke vom Boden, gab den Blick frei auf schwarze Schneisen im Grün, auf wirre Haufen des zarten Gewächses, auf weiter nichts ...
Wir saßen und starrten, die erloschenen Strahler gesenkt, umkrampft.
Dann erhob sich Mitsu, sah durch mich hindurch und ging steif den Hang hinauf. Wir folgten, schritten, stolperten mit gesenkten Köpfen.
Wir schleusten uns ein. Mitsu klappte den Helm nach hinten, warf sich in einen Sessel, Sam lehnte sich an die Dusche, ich rutschte mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Josef stand wie ein Stock mitten im Raum.
Dann, nach einer langen Zeit, sagte Mitsu tonlos, ohne jemanden anzuschauen: >Wir kehren um ...< Es klang nicht wie ein Befehl, noch nicht einmal wie eine Entscheidung. Sie sagte es unsäglich müde ...
Niemand antwortete.
In mein Bewusstsein drang der Satz langsam. Wir kehren um. Wir kehren um? Nein, wir kehren nicht um! In mir bäumte es sich. Wir kehren doch nicht um! >Nein!< rief ich und stemmte mich rücklings die Wand hoch. >Jetzt erst recht nicht!< Und dann überfiel mich Verzweiflung. Ich legte die Hände vor das Gesicht, begann zu schluchzen und rief dazwischen stoßweise: >Soll denn alles umsonst gewesen sein?<
Sie redeten behutsam, tröstend auf mich ein, aber es wurde deutlich, der Drang nach vorn war endgültig gebrochen. Sam ließ durchblicken, der Tod der beiden Gefährten wäre für einen Haufen Schrott doch wohl teuer genug. Und Josef meinte, er könne nicht mehr lange den nervlichen Verfall aller Beteiligten verantworten. Mitsu hörte sich das alles an, hielt sich jedoch zurück.
Trotz meiner Niedergeschlagenheit vernahm ich aus ihren Argumenten, sie glaubten nicht an einen Erfolg unseres Unternehmens, wahrscheinlich hatten sie nie daran geglaubt. Ich fand es unfair, vor allem den beiden Verunglückten gegenüber. Da hätte man die Aktion schon früher abbrechen können, müssen, und diese Opfer vermeiden.
In mir regte sich Trotz, ein wahnwitziger, selbstzerstörerischer Trotz. >Wenn ihr umkehren wollt — bitte. Dann gehe ich allein.<
Von diesem Zeitpunkt an schwiegen die beiden Männer. Sie warteten wie ich, dass Mitsu entschied. Sie tat in dieser Situation das einzig Richtige. >Wir bleiben hier, machen ihnen ein Grab ... Morgen werden wir weitersehen.< Und sie klappte den Helm über den Kopf, ging in Richtung Schleuse. Ich war Mitsu in diesem Augenblick unendlich dankbar und folgte ihr sofort, während Sam und Josef zögerten, sich dann jedoch anschlossen.