Ein Zentrum besonders kultivierter empfindsamer Lebenshaltung war der Hof der Landgräfin Henriette Christiane Karoline von Hessen-Darmstadt (1721-1774). Diese Landgräfin bewies eine außergewöhnliche geistige Energie und Regsamkeit. Obwohl ganz im französischen Geist erzogen, interessierte sie sich lebhaft für die zeitgenössische deutsche Literatur der verschiedensten Stilrichtungen. Wieland, Gleim, Sophie von Laroche und Klopstock erfreuten sich in gleicher Weise der Gunst der Landgräfin. Sie war die erste, die eine Sammlung der Oden Klopstocks veranlasste, ohne dass der Dichter etwas davon wusste.
Karoline versammelte um sich einen Kreis künstlerisch und literarisch Interessierter, in dessen Mittelpunkt der Darmstädter Kriegszahlmeister Johann Heinrich Merck stand. Merck, ein Freund Goethes, war nicht im engeren Sinne empfindsam, sondern außerordentlich kritisch und zu ständigem Widerspruch aufgelegt. Er gilt als das Vorbild zu Goethes Mephisto. Der Empfindsamkeit wurde vor allem durch die weiblichen Mitglieder dieses Kreises gehuldigt. An erster Stelle ist Karoline Flachsland, die Braut Johann Gottfried Herders, zu nennen, die im Hause ihres Musik liebenden Schwagers, des Geheimrats von Hesse, lebte. Innerhalb des Kreises der Darmstädter Empfindsamen trug sie den Beinamen Psyche; ihre Gesinnungsfreundin Henriette von Roussillon, eine Hofdame der Herzogin von Pfalz-Zweibrücken, nannte sich Urania; Luise von Ziegler, eine Hofdame der Landgräfin, wurde unter dem Namen Lila bekannt. Zu dieser von Goethe so genannten »Gemeinschaft der Heiligen« zählten ferner Johann Ludwig Leuchsenring, der Hofarzt der Landgräfin, und dessen Bruder, der Prinzenerzieher Franz Michael Leuchsenring.
Eine gewisse literarhistorische Bedeutung erhielten die Darmstädter Empfindsamen durch ihre Beziehungen zu Herder, der den Beinamen »Dechant« trug, und Goethe, der sich um 1772 als »Wanderer« häufig in Homburg und Darmstadt aufhielt, aus seinen Werken vortrug, sich anregen und aufmuntern ließ. Wie in keinem anderen zeitgenössischen Freundeskreis war bei den Darmstädter Empfindsamen die Natuschwärmerei eng mit einem heute nahezu unverständlichen Freundschaftskultus verbunden.
Das Phänomen der Darmstädter Empfindsamen zeigt einerseits den Prozess der Verbürgerlichung höfischer Kreise als eine Folge des Wandels der sozialökonomischen Struktur, andererseits aber auch gleichzeitig die bewusste Abgrenzung von der bürgerlichen Klasse durch den Empfindsamkeitskult der Eingeweihten, der in Einzelzügen der Freimaurerei verwandt war.