Schliemann hatte das Esszimmer für die Vernehmungen ausgewählt. Es lag dem Warteraum genau gegenüber und war durch eine Schiebetür mit dem Tatortzimmer verbunden. „Alles klar?“, erkundigte sich Fichtner beim Eintreten.
„Ja, wir können anfangen“, antwortete der Kriminalsekretär. „Wer gehört noch zu den ständigen Bewohnern des Hauses?“, fragte der Kommissar*
”Die Tochter, Fräulein Susanne Denzinger, und Frau Nanni Schnitthuber, eine alte Haushälterin“, gab Schliemann Auskunft. „Wie die Schwester sagte, ist Fräulein Denzinger abends weggegangen, wohin, das weiß sie nicht. Die Haushälterin soll im Kino sein.
Fichtner setzte sich an den Tisch. Auf seinen Wunsch wurde zuerst Siebeneder hereingeleitet.
Er nahm dem Kriminalkommissar gegenüber Platz. „Wie steht’s, Fichtner? Haben Sie schon Anhaltspunkte?’“
Der Kommissar lächelte. „Wir sprechen hier nicht als Kollegen.“
Siebeneder fuhr sich über den Mund. „Natürlich! Ich bitte um Verzeihung.“
„Sie haben vorhin diesen Herrn Trattenburg verdächtigt und wollten wichtige Aussagen machen. Bitte!“
In kurzen Worten erzählte Siebeneder die Geschichte von dem Gesicht und berichtete über die Erpresserbriefe. „Denzinger nahm mir das Ehrenwort ab, zu jedermann über diese Geschichte zu schweigen. Trotzdem hatte ich ihm wiederholt geraten, die Kriminalpolizei zu verständigen. Davon wollte er nichts wissen, zunächst wenigstens. Er fühlte sich bedroht. Gewiss, aber nicht durch die Briefe, und er war durchaus bereit, das Geld zu opfern. Es sollte eine Art Wiedergutmachung sein. Mir ist nicht sehr wohl dabei gewesen, das dürfen Sie mir glauben, Kommissar. Oft genug habe ich die Stunde verwünscht, in der Denzinger mir sein Geheimnis anvertraute und meine Hilfe erbat. Allerdings habe ich niemals geglaubt, dass Gefahr für Leib und Leben meines Klienten bestände. Erst seine Absicht, diesen Menschen zu empfangen, rief Bedenken in mir wach. Es konnte ja zu einer ernsten Auseinandersetzung kommen. Dennoch ließ er von seinem Plan nicht ab, und ich verschwieg ihm meine Besorgnis, um ihn nicht noch mehr zu beunruhigen. Zum Glück nahm er meinen Vorschlag an, dass ich während der Aussprache im Hause sein werde. Aber ich kam zu spät!“ Siebeneder lehnte sich zurück und trocknete die Stirn mit dem Taschentuch.
Nach kurzem Überlegen fragte Kommissar Fichtner: „Sagten Sie nicht, Professor Denzinger habe den vom Erpresser geforderten zweiten Geldbetrag bereitgehalten, um ihn gegebenenfalls dem Manne auszuhändigen?“
„Vor meinen Augen hat er heute Nachmittag fünfzehntausend Mark in seinem Schreibtisch verwahrt.“
Fichtner gab Schliemann einen Wink. Der Sekretär ging zum Mordzimmer hinüber.
„Und Sie sind überzeugt, dass der Schreiber der Briefe, also das sogenannte Gesicht, mit Trattenburg identisch ist?“, fuhr der Kommissar fort.
„Vollkommen! Bedenken Sie: Die Aufforderung zu diesem Besuch heute Nacht war an die Deckadresse des Erpressers gerichtet. Und wer erschien zur festgesetzten Stunde? Trattenburg! Er hat mir sogar offen erklärt, dass er mit dem Professor verabredet sei.“
„Gut, Siebeneder. Das spricht gegen Trattenburg, Nehmen wir jetzt einmal an, er und der Erpresser seien ein und dieselbe Person, ja? Trattenburg kommt also zur vereinbarten Aussprache, er hat sich sogar telefonisch angekündigt. Er wartet jedoch nicht erst, bis der Professor ihn empfängt, sondern geht in dessen Zimmer, knallt ihn nieder, lässt die Waffe fallen und begibt sich dann wieder seelenruhig in den Warteraum. So müsste es doch gewesen sein. Finden Sie das glaubwürdig? Aber schließlich sind Sie ein erfahrenerer Kriminalist als ich. Vielleicht können Sie mich eines Besseren belehren.“
Siebeneder gefiel diese Bemerkung nicht. Sie klang nach Ironie und er sah den Kommissar unfreundlich an. „Seelenruhig war Trattenburg durchaus nicht, als ich im Wartezimmer mit ihm sprach. Es war ihm auch offensichtlich nicht recht, dass ich ihn erkannte.“
„Sie erkannten ihn? Wieso? Hatten Sie ihn früher schon gesehen?“
„Ja, im Mai traf ich einmal Fräulein Denzinger mit ihm. Da lernte ich ihn kennen.“
„Fräulein Denzinger ist mit ihm bekannt?“ Fichtner zog die Augenbrauen hoch.
„Ja.“
„Kennen die beiden sich näher?“
„Darüber befragen Sie am besten Fräulein Denzinger selber“, sagte Siebeneder achselzuckend, ’
Fichtner machte Notizen. „Na, schön! Also, zurück zu Trattenburg und Ihrem Verdacht gegen ihn.“
Siebeneder nagte an der Lippe. „Ich kenne zwar das Ergebnis der Tatortbesichtigung nicht, könnte mir jedoch denken, dass es trotzdem so war, wie Sie sagten. Trattenburg handelte sicher nicht vorsätzlich. Es ergab sich alles aus der Situation heraus. Ungeduldig und erregt drang er bei dem Professor ein. Es kam zu einer Auseinandersetzung, wobei er Denzinger niederschoss.“
„Und die Mordwaffe sozusagen als Visitenkarte hinterließ“, ergänzte Fichtner spöttisch.
Siebeneder parierte den Seitenhieb, indem er zurechtweisend sagte: „Der Täter wird die Waffe nicht eigens für Sie hingelegt haben. Entweder ist sie gestohlen, dann nützt sie Ihnen wahrscheinlich nur etwas, wenn Fingerabdrücke auf eine bestimmte Spur führen, Oder der Täter war von Sinnen und hat sie wirklich fallen lassen. Diese Version möchte ich für Trattenburg nicht annehmen. Er hätte die Pistole immer noch beseitigen können, wenn sie ihm tatsächlich nach der Tat aus der Hand geglitten wäre. Meine Meinung: Der Täter sah in der Waffe kein Beweismittel gegen sich.“
„Kann sein. Was geschah dann nach Ihrer Ansicht?“
„Darauf versuchte Trattenburg zu fliehen.“