Nun klingelte des Telefon.
Es war zehn Uhr, das konnte nur Conny sein. Der Freundin musste geholfen werden, und Katharina freute sich, für Conny eine Lösung des Problems finden zu können. Sollte sie von dem Kerl lassen? Sollte sie der Freundin zur Abtreibung raten? Hätte es einen Sinn, mit Connys Freund zu sprechen?
Wenigstens das Telefon unterbrach den stillen, langweiligen Fluss des Tages und die sich wiederholenden Fragen.
Aber in diesem Moment kam ihr auch ein anderer Gedanke in den Sinn: ihr fiel die Weisung der Zentrale ein, im Stellwerk keine privaten Anrufe entgegenzunehmen und auch selber nicht zu telefonieren, es handele sich immerhin um ein Diensttelefon. Katharina hob den Hörer nicht ab, obwohl sie die Stunden in dem Raum bis eben noch so trist gefunden hatte. Conny könne auch warten, bis sie Feierabend hätte, sie könnte sie nach der Schicht treffen. Wer Katharina kannte, mochte sich über ihren Entschluss, den Hörer nicht abzunehmen, sehr wundern. Obgleich als Beste und als Jüngste in diesem Stellwerk an der großen Eisenbahnlinie eingesetzt, war sie eigentlich nicht das Mädchen, das jede Weisung befolgte, jedenfalls keine solche, die sie für sinnlos und überflüssig hielt. Mal einen Anruf zu bekommen, was war schon dabei. Mal einem Menschen zu helfen, der in Not war, das war keine Mühe, das war Menschenpflicht. Und es schmeichelte ihr natürlich auch, wenn es gelang. Und sie war auch ein Mädchen, das mit anderen Menschen zusammen sein musste, sie brauchte die Gespräche, den Scherz und auch das eigene Lachen.
Das Telefon klingelte und klingelte. Typisch Conny. Die war hartnäckig und wusste, wie man wen zur Weißglut treiben konnte, nur nicht lockerlassen. Diesmal nicht, dachte Katharina, heute geht es nach meinem Willen, liebe Conny, und vielleicht willst du mir auch nur mitteilen, dass er sich über das Kind freut und es zwischen euch wieder stimmt.
Es bimmelte ununterbrochen, immer lauter, frecher und fordernder.
Es klingelte auch dann noch, als es zu beben begann. Sie zuckte so zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Ihr Kopf schlug auf die Tischplatte. Manches nahm sie nicht wahr: wie die Bedienungshebel zitierten, wie die Drahtzüge, die nach draußen führten, so laut und schrill sangen, dass sie das Läuten des Telefons übertönten. Einige Knebel sprangen sirrend auseinander. Und dann zerfiel das große Streckenfenster.
Katharina nahm den Hörer ab.
Instinktiv ahnte sie schon, dass sich nicht Conny melden würde. Eine traurige Männerstimme sagte langsam: Zu spät, Nina, wir sehen auf unserem Gleisbild, dass sie schon zusammengestoßen sind, der EC war voll besetzt, du solltest den Pendlerzug zurückhalten, warum hast du dich nicht gemeldet?
Das war Stansky, sie erkannte seine zitternde Stimme und sah ihn vor sich mit den großen Tränensäcken unter den hellen Augen und der bräunlichen Haut. Dennoch sagte sie: Das ist nicht wahr. Sag bitte, dass es nicht wahr ist, Stansky ..."