Erfahren und kundig hatten sie alles getan, was man einem ausgekühlten Menschen tun konnte. Ein Arzt kam gleich, Decken, eine Arznei, ein Getränk, behutsame Fragen. Ein stationärer Aufenthalt sei nicht nötig.
»Sie hören doch«, sagte Korsar zu Sonja, »dem Arzt wollen wir vertrauen.«
Ute war am Rande der Bergstraße von dem Streifenwagen gefunden worden, apathisch, unterkühlt, im Schock.
Die Polizisten berichteten, dass sie das Mädchen genau so, wie es dagesessen habe, in das Auto getragen hätten.
Erst im Auto, nachdem Holzmann die Funkverbindung aufgenommen hatte, wäre sie zusammengezuckt, denn Korsars Stimme wäre zu hören gewesen.
»Schon gut«, sagte Franz zu dem eifrigen Polizisten, der natürlich stolz war und gelobt werden wollte, »hat sie dann etwas gesagt?«
»Nein.«
Ute sprach auch jetzt nicht. Sie war innerlich noch steif, nach außen war da kein Schütteln, Zittern oder Zähneklappern mehr zu bemerken.
Spielt sie uns was vor, dachte Korsar, aber warum nur? Warum läuft sie weg? Warum läuft sie ins Gebirge? Hoffentlich taut sie uns bald wieder ins Leben zurück.
Ute schwieg also, sie wollte sich selber ausschalten.
Sonja Peters redete auf sie ein. Gerald saß mit stillem Gesicht dabei.
Ute trank Tee und wärmte sich. Ihre Blicke blieben abwesend: Lasst mich gefälligst bei mir, ich will nicht zu euch, ich will bei mir bleiben.
»Du kommst mit nach Hause«, sagte Sonja Peters sanft, »das war alles zuviel in den letzten Tagen. Du wirst sehen, zu Hause wirst du bald wieder gesund, und die Kleinen warten schon und werden nicht schlafen, weil sie sich sehnen ...«
Tauchten da in Ute Erinnerungen auf?
Drangen Gedanken wieder durch Schichten, mit denen sie das Denken zugeschüttet hatte?
Sie blickte die Leute an, die da standen oder saßen, die schwiegen und sie betrachteten, die telefonierten oder sich leise unterhielten.
Durch die Halle spazierte eine kleine Katze und schnurrte dann am Hosenbein Korsars, der sie eine Weile kraulte. Für ihn war klar, dass auch das längste Schweigen einmal gebrochen wird. Dieses Mädchen glaubte, sich mit Härte gepanzert zu haben. In dem Alter hält man das noch nicht lange durch.
Paul Holzmann hätte sich längst einen Ruck gegeben und behutsam gefragt, aber da der Chef und Franz zusahen und zuhörten, verkniff er sich jede Bemerkung. Er hätte auch der Mutter diese quälenden Bemerkungen untersagt. Das Mädchen war fertig, das sah man doch.
Er dachte: Die Mutter kann ich zwar verstehen, aber sie hilft ihrer Tochter besser, wenn sie sie nur in ihre Arme nimmt. Er hatte Mitleid mit Ute. Das Mädchen hatte schwarze Ringe unter den Augen.
Ute lehnte sich zurück. Ihr Gesicht bekam Farbe.
Sonja strich ihr über das Haar. Ute machte eine unwillige Bewegung.
»Können Sie uns nach Hause fahren lassen, Herr Korsar?«, fragte Sonja Peters.
»Von zu Hause ist sie weggelaufen«, sagte er.
»Eine Laune«, sagte Sonja Peters, »ein Kurzschluss, unverständlich, wir werden uns aussprechen, das war alles zuviel für sie, nicht wahr, Ute?«
Ute richtete sich auf, dann sank sie wieder zurück und schloss die Augen. Leise Musik dudelte an der Rezeption.
Franz sah Korsar an, der schüttelte langsam den Kopf. Natürlich lassen wir Ute nicht weg, bevor wir mit ihr gesprochen haben, heute kommen wir weiter.