Eine halbe Million Gefangene sollten die Deutschen in jener Schlacht am Dnjepr gemacht haben. Sie würden wenigstens leben, so dachte Hans, ohne zu ahnen, wie falsch er dachte. Nein, er konnte nicht im Geringsten ahnen, welcher grauenvolle Weg diesen armen Teufeln noch zugedacht war, wie sie elend zu Tode kommen sollten als Zwangsarbeiter in den Mühlen der Rüstungsindustrie Deutschlands, unter Tage in den Stollen, als Häftlinge in Konzentrationslagern. Nichts wusste Hans von alledem. Die Russen würden leben. Vielleicht würde der Krieg auch bald zu Ende sein. Er könnte wieder bei Elchen sein, sie in die Arme schließen, sie küssen …
Das Leben in der Truppe war schwer für Hans, über die Lasten des Kriegsalltages hinaus. Denn er fand nicht den rechten Anschluss an die Kameraden, viele waren ihm zu stumpfsinnig, waren schon glücklich, wenn sie nur mit einem Schnaps, auf einem Strohsack hockend, Karten oder Würfeln spielen konnten. Andere, Streber und Nazis, Fanatiker durch und durch, waren erst recht keine Gesprächspartner für ihn.
Der Lehrer aus Berlin war tot, und viele seines Schlages gab es nicht, mit denen er über Zusammenhänge und Hintergründe, wie er sie vermutete, hätte sprechen können. Was blieb, war, dass die persönlichen Probleme, von denen Elchen schrieb, und seine Sorgen und Ahnungen hier an der Front sich in seiner Brust wie zu einem großen Stein verdichteten. Ihm fiel das Atmen schwer, besonders, wenn sie in irgendeinem Stall, in einem muffigen, rauchgeschwängerten Bauernkaten zusammengepfercht saßen, auf die nächsten Befehle, den nächsten strapaziösen und partisanengefährdeten Marsch warteten.
Und Angst war immer dabei. Ihm sollte keiner sagen, er hätte keine Angst. Der Gedanke, eine Kugel in den Kopf, von einem Granatsplitter den Kiefer weggerissen zu bekommen, wie es gestern erst einem Kameraden ergangen war, die Möglichkeit, durch eine Mine ein Bein, einen Arm zu verlieren – wenn es glimpflich ausging! – dies alles sollte nicht Angst machen? Das konnte ihm niemand erzählen.
Und leider, leider, so sehr er sich bemühte, es gelang ihm wohl auch nicht, seine Stimmungen so ganz vor Elchen zu verbergen. Sie waren beide zu gefühlvoll, und aus ihrem letzten Brief hatte er entnommen, dass sie ihn wohl verstand. Gewiss, sie beschwor ihn, vorsichtig zu sein, suchte ihn zu trösten, so wie er versuchte, ihr gegenüber alles zu vereinfachen, herunterspielen, allein – in ihrem Innersten fühlten sie doch genau, in welchen grauenvollen Gefahren sie beide schwebten. Er sah fallende und zerfetzte Kameraden, sie sah die Traueranzeigen und die schwarzgekleideten Frauen inmitten der Weltstadt Berlin …
Mitte September erhielten die Stäbe der Ostfront Befehle des Führers. Sie beinhalteten die Aufgabe, in kürzester Zeit Moskau, die Hauptstadt des Weltkommunismus zu erobern. Hitler hatte das gleiche Ziel, die gleiche Vorsehung wie damals Napoleon: mit gewaltiger Übermacht das russische Zentrum anzugreifen, jeden Widerstand zu brechen, mit Moskau das ganze Land zu beherrschen.
Es hatte deutsche Militärs gegeben, die vor dem russischen Feldzug warnten.
Jetzt aber waren alle Truppen in Bewegung. Der Ring um Moskau zog sich enger, einigen Einheiten gelang es sogar, in Vororte einzudringen. Die, wie der Führer sagte, größte Offensive der Geschichte sollte beginnen.
In Moskau wurden Ämter und Behörden, Fabriken, Museen ausgelagert. Gewaltige Transporte gingen in Richtung Osten, zum Ural. In der Bevölkerung breitete sich Unruhe aus. Banden und Plünderer traten auf den Plan, Panik drohte zu entstehen. Doch die Staatsmacht bekam die Lage in den Griff. Und Stalin blieb in Moskau. Der Kreml wurde nun das russische „Führerhauptquartier“.
Stalin leitete von hier aus jede Operation persönlich, kümmerte sich um alles, selbst um Kleinigkeiten, arbeitete wie ein Tier, schlief drei bis vier Stunden täglich, verhandelte mit dem Ausland, mit Engländern und Amerikanern …
Denn es stand das Land auf dem Spiel. Und mit dem Land seine Position als der große, weise Führer, als Garant der Revolution, als Diktator praktisch …
Die Truppe von Hans kam nun in richtige Gefechte, denn der Widerstand der sowjetischen Truppen war unerwartet stark, sie hatten sich wohl formiert, Kräfte gesammelt, den ersten Schock überwunden. Da war für sie an Schreiben nicht mehr zu denken, kaum dass sie zu einer Mahlzeit kamen. Von Kartenspielen konnte keine Rede mehr sein. Sie stießen mit Panzer- und Artillerieunterstützung vor, setzten sich fest, wurden schließlich wieder vertrieben. Erneute Vorstöße, sie gerieten in immer heftigere Feuerattacken der Russen, trafen auf erbitterten Widerstand, wie sie ihn bislang noch niemals erlebt hatten. Kameraden vor und neben ihm fielen, wurden durch MG-Salven zerfetzt, kilometerlang wurden sie erneut zurückgeworfen.
Und dann setzte Regen ein. Es goss unaufhörlich und in wahren Strömen. Wasser lief in die Stiefel hinein, kein Faserchen der Uniform blieb trocken, sie verkrochen sich unter Büschen, in das Gebälk verfallener Hütten und Scheunen, um in ihrem feuchten Zeug eine Stunde zu schlafen. Tagelang stürzte Wasser vom Himmel, es war ein solcher Regen, wie Hans ihn wohl noch niemals erlebt hatte in seinem Leben. Russischer Regen.
Feuchtigkeit kroch überall hin, drang in Kisten mit Proviant, in die Waffen, durch die Scheiben der Fahrzeuge, die überdies auch bald in gewaltigen Schlammmassen steckenblieben. Da war kein Vorwärtskommen mehr und auch kein Zurück. Die Soldaten wateten im Schlamm, lagen im Schlamm, wälzten sich im Schlamm. Es war nicht möglich, einen Brief zu schreiben, kaum, die zu lesen, die man bei sich trug. Mit der Verpflegung wurde es problematisch, der Regen löschte sogar die Feuer in den Feldküchen, wenn man Pech hatte. Und es wurde kalt. Blaugefroren und durchnässt hockten sie auf den Ladeflächen der Laster, in kleinen Zelten, in Waldstücken, bis der Befehl zum erneuten Angriff kam.
Hans wurde durch einen Streifschuss an der Schulter verletzt. Völlig harmlos, es blutete kaum, ein leichter Verband, die Sache war in Ordnung.
Es war mehr die moralische Wirkung, verletzt worden zu sein, die ihn in einen schockähnlichen Zustand versetzte, ihn beim nächsten Angriff veranlasste, wie wild auf den Feind zu schießen, mit unglaublicher Verbissenheit, dabei heiser und wütend die Worte „Verfluchte Russen! Scheiß Iwans!“ herauszubrüllen. Später, wieder vom Feind zurückgeworfen, wieder im Schlammloch kampierend, da schämte er sich vor sich selbst: hatte dieser Krieg ihn schon zum mordenden Tier gemacht? War es das, was der Führer, was Volk und Vaterland brauchten, von ihm erwarteten?
Es regnete, es bestand nicht die geringste Aussicht, dass der Regen aufhören würde. Sie lebten und kämpften im Schlamm. Sie wuschen sich mit Schlamm, schliefen im Morast. Fahrzeuge und Geschütze blieben endgültig stecken. Der nächste Angriff blieb stecken, versoff im Schlamm. An Post war nicht zu denken. Keine Päckchen, keine Kekse. Ehemals hartes, jetzt vom Schlamm aufgeweichtes Kommissbrot. Wenn sie Glück hatten, etwas Tee. Schnaps wurde ausgegeben. Und Schlamm, Streifschuss, Kälte, Trostlosigkeit und Schnaps betäubten Hans schließlich, ließen ihn dann und wann träumen von Elchen, der gemütlichen Wohnung am Pariser Platz, von ihrem zierlichen Körper mit den kleinen, festen Brüsten, von einem Schoppen Mosel …
Warum?
Konnte er nicht aufhören, sich das zu fragen? Hätte der Splitter, der Streifschuss nicht eine ordentliche Kugel sein können, die glatt durch den Oberarm ging? Ein Glücksschuss? Ein Heimatschuss?
Doch davon träumten mittlerweile schon sehr viele.
Hans spürte die kalte Feuchtigkeit, die immer mehr durch Zeltbahn und Stiefel kroch. Er nahm noch einen kräftigen Zug von dem Hochprozentigen in der Feldflasche und versank schließlich in einen kurzen, todesähnlichen Schlaf.