Der Kanon des Neuen Testaments enthält außer den Paulusbriefen noch sieben andere Apostelbriefe, von denen einer Jakobus zugeschrieben wird, zwei Petrus, drei Johannes und einer Judas. Im Unterschied zu den meisten Paulusbriefen sind diese nicht sehr lang. Alle zusammen haben sie einen geringeren Umfang als beispielsweise die beiden Paulusbriefe an die Korinther. Der Inhalt der sieben Briefe ist ziemlich einheitlich. Verfasst von einer Gruppe Gleichgesinnter, enthalten sie nicht solche überraschenden Widersprüche, wie wir sie in der ersten Gruppe der Briefe festgestellt haben. Im Ganzen vertreten sie eine bestimmte Tendenz, die sich von jener der Paulusbriefe unterscheidet.
Das erkannten sogar ihre Autoren, wie der im Neuen Testament einmalige Fall offener Verurteilung anderer neutestamentarischer Briefe zeigt. Im zweiten Petrusbrief (3,16) wird gesagt, in „allen“ Paulusbriefen „sind etliche Dinge schwer zu verstehen, welche die Ungelehrigen und Ungefestigten verdrehen, wie sie es auch bei den anderen Schriften tun, zu ihrer eigenen Verdammnis“. Der Autor des Briefs ermahnt die Zuhörer, sich nicht durch „den Irrtum der ruchlosen Leute“ verführen zu lassen, und ruft sie auf, ihrer Überzeugung treu zu bleiben. Der scharfe Ton in der Polemik gegen eine große Gruppe neutestamentarischer Schriften beweist überzeugend, dass sich bereits zu dieser Zeit die Widersprüche innerhalb des Christentums nicht mehr verbergen ließen.
Ein ebenso treffendes Beispiel für den Konflikt zwischen diesen zwei Richtungen liefert der Streit um die Bedeutung des Glaubens für die „Erlösung“. In dem Brief an die Galater heißt es, wie wir bereits wissen, „dass der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Christus Jesus, ... denn durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht“ (2,16). Im Jakobusbrief ist über die Hälfte des zweiten Kapitels der Argumentation einer diametral entgegengesetzten Auffassung gewidmet: „... der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist (er) tot in sich selber“ (2,17, vgl. auch 26). Das Wesen der Polemik besteht natürlich nicht in der abstrakten Gegenüberstellung von Glauben und Werken, sondern darin, dass unter „Werken“ die Erfüllung der Forderungen des jüdischen Rituals zu verstehen war, der Beschneidung, der Einhaltung des Sabbats und anderer Vorschriften, worüber in dem Appell an die Galater offen gesprochen, im Jakobusbrief jedoch geschwiegen wurde.
Wir müssen hinzufügen, dass der Brief an die Galater eine klare Abgrenzung zwischen Paulus, dem „anvertraut war das Evangelium an die Heiden“ (2,7), und Petrus mit seiner entsprechenden Mission unter den Juden vornimmt, wobei der letzte offen getadelt wird, weil er sich vor den orthodoxen Juden fürchtet (ebenda, 12 u. 14). In allen synoptischen Evangelien wird ausführlich von der dreimaligen Verleugnung Jesu durch Petrus erzählt. Doch gleichzeitig heißt es im Evangelium nach Matthäus, dass Petrus ein Fels sei, auf dem die Kirche errichtet wurde, und dass ausgerechnet er den Schlüssel des Himmelreichs verwahre (Matthäus 16,18 ff.).
All diese Tatsachen beweisen, dass es in den Schriften des Neuen Testaments mindestens zwei sich krass voneinander unterscheidende Richtungen gibt.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass der Hauptgegenstand der Streitigkeiten zwischen den Christen das Verhältnis zum Judentum und zu den Juden war. Die projüdische, genauer judenchristliche Linie der Nicht-Paulusbriefe zeigt sich auch in einigen anderen Momenten. So wendet sich der Autor des Jakobusbriefs nur an die „zwölf Stämme in der Zerstreuung“ (1,1), folglich nur an die Juden außerhalb Palästinas, und nicht an alle Christen. Ähnlich gilt auch der Appell im ersten Petrusbrief allein „den Fremdlingen in der Zerstreuung in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Landschaft Asien und Bithynien“ (1,1). Hier werden wiederum nur die Juden Kleinasiens angesprochen. In dieser Briefgruppe finden sich keine Aufrufe an Christen, die von den Heiden kamen. Offensichtlich sahen ihre Verfasser, so wie auch der Autor der Offenbarung des Johannes, im Christentum nur eine Abart des Judentums. Im Unterschied zu den Autoren der Paulusbriefe lassen sie nicht einen direkten oder indirekten Ausfall gegen die Juden oder das Judentum zu.
Ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten in den neutestamentarischen Briefen über das Verhältnis zum Judentum gibt es in allen anderen Punkten der christlichen Glaubenslehre zwischen ihnen sehr viel Gemeinsames. Die Autoren der Nicht-Paulusbriefe halten Jesus für den Messias - Christus (1. Johannes 2,1 u. 22). Sie erklären sogar, dass Menschen, die es ablehnen, in ihm Gottes Sohn zu sehen, damit auch Gottvater ablehnen und folglich zu Gottlosen werden (ebenda). Nach diesen Briefen erschien Jesus in Jerusalem, starb und erstand von den Toten auf (1. Petrus 1,21). Er ist das Lamm, das „zuvor ersehen, ehe der Welt Grund gelegt ward, aber offenbart zu den letzten Zeiten“ (ebenda, 20).
In diesen Briefen können wir ebenfalls die Herausbildung der christlichen Dogmatik und des Zeremoniells verfolgen. Im ersten Brief des Johannes (5,7) treffen wir bereits, wenn auch noch nicht in orthodoxer Formulierung, das Dogma von der Dreifaltigkeit („der Geist, und das Wasser und das Blut; und die drei stimmen überein“). Das ist schon bei Weitem keine jüdische Formulierung mehr. In dieser Briefgruppe wird auch die Taufe erwähnt (1. Petrus, 3,21).
Stärker als aus den Briefen, die Paulus zugeschrieben werden, und fast genauso klar wie aus der Offenbarung spricht hier das ungeduldige Warten auf die baldige Ankunft. „... der Herr kommt bald ... der Richter ist vor der Tür“ (Jakobus 5,8 u. 9), „es ist die letzte Stunde“ (1. Johannes 2,18 f.; Judas 1,18) - das ist das Motiv, zu dem die Autoren dieser Briefe immer wieder zurückkehren. Wie schon in den Paulusbriefen wird hier die Frage gestellt, warum sich diese zweite Ankunft verzögert, welche die Starken im Glauben für all ihre Leiden auf dieser Erde belohnen soll: „Wo bleibt die Verheißung seines Kommens? denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Schöpfung gewesen ist.“ (2. Petrus, 3,4) Der Autor ist gezwungen, mit der wenig tröstlichen Erläuterung zu antworten, dass für den Herrn tausend Jahre wie ein Tag sind und dass die Verzögerung der zweiten Ankunft nur als ein Zeichen der göttlichen Geduld zu werten ist, damit alle Menschen genügend Zeit zur Buße haben.
So wird die Erfüllung der eschatologischen Erwartungen, die sich bei den Massen der Christen, den armen, werktätigen Menschen, mit der Hoffnung auf einen Ausweg aus den Nöten und auf Rache an den Unterdrückern verbanden, auf eine unbestimmte Zukunft verschoben.
Im Unterschied zur Offenbarung und in voller Übereinstimmung mit den Tendenzen in den Paulusbriefen wird hier völlige Unterordnung unter die Obrigkeit gepredigt. Im zweiten Petrusbrief (2,10) werden besonders jene scharf verurteilt, „welche wandeln nach dem Fleisch in der unreinen Lust und die Herrschaft verachten. Frech und eigensinnig, zittern sie nicht davor, die Majestäten zu lästern“. In einem anderen Brief (Judas 1,8) werden Menschen, welche „die Herrschaft verachten und die Majestäten lästern“, mit den Sündern in Sodom und Gomorra verglichen. So wird anstelle des Hasses auf Rom und die Unterdrücker die Unterwerfung unter die Obrigkeit gepredigt, der Verzicht auf Kampf und die illusorische Hoffnung auf eine zweite Ankunft in unbestimmter Zukunft. Die ständigen Aufrufe zur Demut vor der Obrigkeit in beiden Gruppen der neutestamentarischen Briefe beweisen nicht nur die Tendenz zur Versöhnung mit der Kaisermacht, sondern zeigen auch, dass unter den Christen noch die antirömischen Traditionen der Offenbarung lebendig waren.