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Kuckucksrufe und Ohrfeigen. Erzählungen von Waldtraut Lewin
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Preis E-Book:
8.99 €
Veröffentl.:
20.05.2017
ISBN:
978-3-95655-801-6 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 242 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Kurzgeschichten, Belletristik/Fantasy/Allgemein, Belletristik/Märchen, Volkserzählungen, Legenden und Mythologie, Belletristik/Liebesroman/Allgemein, Belletristik/Politik, Belletristik/Familienleben
Belletristik: Erzählungen, Kurzgeschichten, Short Stories, Moderne und zeitgenössische Belletristik, Mythen und Legenden (fiktional), Urban Fantasy, Liebesromane, Familienleben, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Politik
Olga Benario, Fantasie, Romance, Sänger, Chile, Brasilien, Lyriker, Kinderheim, DDR, Familienleben
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Am Abend aß Gilberta nichts anderes als Honigbrot, sodass Sonja drohte, den Honigtopf wegzuschließen.

Ein Brief von Anna lag auf dem Küchenspind, das Mädchen sah es an der Schrift, aber sie fragte nicht, und Sonja sagte nichts.

Beim Abwasch erkundigte sie sich bei der Tante nach dem seltsamen Menschen, der auf der Insel herumstrich.

„Ach der“, erwiderte Sonja beiläufig. „Das ist Simon. Seit zwei Jahren geht er hier spazieren. Ich dulde ihn, weil er mir manchmal hilft, Kräuter zu sammeln oder die Nester der Vögel zu finden. Er stört nicht, und dass er so laut singt, daran haben sich die Tiere gewöhnt. Ist es ihm gelungen, dich zu erschrecken? Das tut er gern.“

„Er hat mich nicht erschreckt“, sagte Gilberta hoffärtig und stellte, das Geschirr in den Spind. „Ich dachte, er ist vielleicht nicht richtig im Kopf.“

„Das meinen seine Angehörigen auch. Aber er ist sehr anstellig. Hat er sich auch dir gegenüber Wandersmann genannt oder Spielgefährte oder Ofensänger?“

Gilberta antwortet nicht. Ihre Augen hafteten auf dem Brief, der Schrift der Mutter. Er lag offen auf dem Küchenspind.

„Was offen liegt, ist zum Lesen freigegeben“, bemerkte Sonja kurz. „Lies nur. Es ist vielleicht wichtig.“

„Glaube ich nicht“, sagte die Nichte und ließ einen Teller fallen, der klirrend auf dem gemaserten Estrich zersprang.

„Ich finde es kindisch, den Brief nicht zu lesen.“ Die Tante fegte die Scherben auf.

„Ich bin ja auch ein Kind“, entgegnete Gilberta laut und freundlich.

Sie fand das Buch sofort, es lag vorn im Regal, wie bereitgelegt. Was offen liegt, ist zum Lesen freigegeben. Sie hatte gedacht, das alles sei damals nur ein Traum gewesen, nun schlug sich die Seite gleich von selbst auf. Sonja lag und schlief, ihr Atem ging tief und regelmäßig. Gilberta entzündete die Kerze und riss sich ein Haar an der Schläfe aus. Es traf alles ein. Es war Neumond. Inbrünstig, flüsternd, zitternd, verbrannte sie das Haar an der Kerze, sprach den Spruch aus dem Buch: „So wie ich brenne, brenne du auch. / Kehre mir wieder, mir wieder. / Wolke gib Regen, Kerze gib Rauch. / Kehre mir wieder, mir wieder. /Komm über Berg, über Tal, über Steg. / Komme auf gradem und ungradem Weg. / Komme, sonst blase ich so wie ins Licht / dir ins Gesicht.“

Fast ohnmächtig, löschte sie die Kerze. Es war völlig dunkel. Dann vernahm man die Stimmen von draußen, Gelächter, sehr fern, ein altes Lied, Nachtigallen waren aufgewacht, und dieses „Komm du, komm du“.

Als Sonja sie ansprach, schrie sie auf.

Sonja sagte aber: „Du darfst dich nicht wundern, dass manchmal jemand aufwacht, wenn du dich auf so etwas einlässt.“

„Du hättest das Buch wegschließen können.“

„Dann hätte ich nie erfahren, ob du es wagst“, antwortete Sonja im Dunkeln mit leisem Lachen.

„Ich bin müde“, murmelte Gilberta und ging in die Kammer.

 

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