Sie hocken zu dritt in der Gaststube der Baruther Grenzschenke, die der Volksmund vor Jahr und Tag in »Schenke zum fröhlichen Ehstand« umgetauft hat, weil die frisch Getrauten an diesem Ort der Freude das festliche Ereignis bei Schmaus und Tanz zu begehen pflegen. Doch die heutigen Gäste - Mutter Kathrin, Gottfried und Marianne - sind gar nicht froh und gleichen eher verregneten Hühnern. Die heimliche Trauung ist nämlich ins Wasser gefallen. Obwohl die Papiere in Ordnung waren und ein reichliches Armengeld bereitlag, musste der weißhaarige Pastor den drei Fremden aus Berlin ihren Herzenswunsch versagen, weil er kürzlich einem Schwindlerpaar aufgesessen war und daher Schwierigkeiten mit seiner vorgesetzten Behörde hatte. Eine arge Enttäuschung für die drei! Die Braut scheint seltsamerweise noch am wenigsten betroffen, sie träumt wohl schon von einem strahlenden Hochzeitsfest in Wien bei den Eltern.
Ein wenig nachdenklich bemerkt sie: »Man sagt wohl: »Der Mensch denkt, Gott lenkt.« Aber in diesem Fall hat das Herrgöttle gar net gut gdenkt, und mir müssen jetzt selber schaun, wie alles in die Reih kommt.«
Mutter Kathrin ist am meisten bedrückt, sie versucht standhaft zu bleiben, doch die Tränen kullern auf ihr Reinseidenes. Gottfried muss die tief betrübte beim Arm nehmen, als sie schweren Schrittes zu dem Bauernwägelchen des Bruders geht, um heimzukehren. Eine letzte Umarmung. »Ich schreib dir auch gleich!« Ein Tücherschwenken, dann sind die beiden jungen Leute allein.
Gottfried ist noch verstimmt, als sie schon im Fond der Extrapost nach Dresden sitzen. Marianne versucht ihren Liebsten aufzumuntern: »Was ist schon groß passiert, Schatzl? Spiel’n wir halt unterwegs bis Wien a bißl Komedi akkurat wie frisch Vermählte auf der Hochzeitsreise.« Sie schmiegt sich zärtlich an ihn. »Is doch net gar so schwer, oder?«
Da muss der nicht legalisierte Ehemann über seine Eva lächeln und legt den Arm um ihre Schultern. Mit stiller Freude denkt er an das, was vor ihnen liegt. Er wird seine Mattel besitzen, ob sie nun im Kirchenbuch eingetragen sind oder nicht. Und dann die Reise nach Dresden! Da ist vor allem der Besuch bei Anton Graff, dem bedeutenden Porträtmaler, der ihn bei seinem Berliner Aufenthalt als einen hervorragenden Radierer bezeichnet und herzlich in sein Haus eingeladen hatte. Von dem berühmten Maler erhofft er sich wertvolle Anregungen für seine eigene Studienreise nach Rom.
Marianne aber sieht dem Besuch bei Graff mit einigem Bangen entgegen, wie sie ihrem Bräutigam gesteht, denn nun muss wirklich Komödie gespielt werden. Gottfried beruhigt sie, es wird schon alles gut gehen. Ganz wohl ist auch ihm nicht zumute, doch dann verläuft alles besser, als beide es erwarten konnten. Der weit über Deutschland hinaus bekannte Professor der Bildnismalerei, der fast alle berühmten zeitgenössischen Persönlichkeiten - unter ihnen Moses Mendelssohn, Gellert, den jungen Schiller - porträtiert hat, verrät keine Spur von Neugierde, wie es zu dem plötzlichen Ausscheiden seines jungen Kollegen aus Tassaerts Atelier und zu dem rasch gefassten Plan einer Romreise gekommen ist, sondern gewährt dem jungen Paar eine weltmännisch-großzügige Gastfreundschaft. Dass die beiden sich, wenn auch mit einiger Verlegenheit, als Verheiratete präsentieren, nimmt er ebenso wie seine Frau zur Kenntnis, als verstünde es sich von selbst. Er interessiert sich mehr für Schadows »Cahier«, seine Mappe mit den neuesten Porträtzeichnungen. So ziehen sich die Herren bald zu einem Gespräch bei Wein und Tabak in das Atelier des Hausherrn zurück, das einen weiten Blick auf den Schlosspark von Pillnitz freigibt, während die Frauen im Boudoir der Professorengattin bei Kaffee und Kuchen die jüngsten gesellschaftlichen Ereignisse in der sächsischen und in der preußischen Hauptstadt erörtern.
Mit wachsendem Interesse betrachtet Graff die Grafiken Schadows, Blatt um Blatt. Er nickt. »Das gilt«, sagt er anerkennend, »das nenne ich endgültig formuliert, schwarz auf weiß!« Er lächelt auf eine gewinnende Art. »Von Albrecht Dürer wird berichtet, dass er seinen Kunstgenossen beim Feierabendschoppen gern sein neuestes Opus vorwies, wenn es ihm besonders gut geraten schien. Dann nickten sie in der Runde und sagten: »Brav gemacht!« Dieses schlichte Wort war für ihn der schönste Lohn. Das war in der Meisterzeit der deutschen Städtekultur, als Redlichkeit als die höchste Bürgertugend galt und das Wort noch seinen vollen, gewichtigen Klang hatte.« Er reicht Gottfried das Cahier zurück. »So sage auch ich, brav gemacht!«
Dann winkt er den Gast in einen Erker des Ateliers an die Staffelei und entfernt das seidene Tuch, das seine letzte Schöpfung, ein Bildnis Lessings, verhüllt. Gottfried steht lange davor, gefesselt von der Lebenswahrheit des Porträts, bei dem es Graff offensichtlich um das Erfassen der wesentlichen und charakteristischen Züge gegangen ist.
Über die Erfahrungen und Beobachtungen während seines Studienaufenthaltes in Rom äußert sich der kritische, zu leiser Ironie neigende Maler zurückhaltend. »Sie müssen ihre eigenen Erfahrungen machen, junger Freund«, meint er. »Nur einiges will ich vorwegnehmen, damit Sie wenigstens eine allgemeine Orientierung haben in dieser schwierigen künstlerischen Landschaft. In Rom, der Schatzkammer antiker Kunstwerke, dominieren die Franzosen. Die von der Akademie in Paris mit dem äußerst begehrten »Prix de Rome« ausgezeichneten Skulpturstudenten ziehen als französische Staatspensionäre in Rom ein und werden dort von einem Direktor in einer Art Akademie betreut. Die jungen Herren wohnen in dem prächtigen Palazzo Mancini am Korso, wo ihnen weiträumige Hallen mit wertvollen antiken Modellen zur Verfügung stehen. Und dafür, dass das französische Prestige im Kunstbetrieb der Ewigen Stadt gewahrt bleibt, sorgt schon der französische Botschafter, der fuchsschlaue Kardinal de Bernis, der berüchtigte Schützling der Pompadour. Eine ganz schöne Cliquenwirtschaft mit politischen Akzenten!«
Schadow will wissen, ob denn auf diese Weise ein erfolgreiches Studium des antiken Schönheitsideals erreicht wird.
Graff lächelt maliziös. »Viele sind berufen und wenige sind auserwählt«, spottet er. »Natürlich gibt es tüchtige, ernsthafte und strebsame Burschen unter den französischen Hospitanten, die, vom hellenistischen Geist erfüllt, mit neuem schöpferischem Schwung nach Jahr und Tag wieder in ihre Bildhauerwerkstätten am Montmartre zurückkehren. Doch sind sie, so glaube ich, an den Fingern einer Hand abzuzählen. Die meisten verfallen in eine hoffnungslose Kopisterei, unter Preisgabe ihrer eigenen individuellen Anlagen. Ihr Losungswort ist das »per far il grandes«, das Große zu machen. Es bleibt aber meist beim Nachmachen, bei der bloßen Nachahmung. Mit dem wahren Geist der antiken Kunst hat das nichts zu tun!«
Er blickt sinnend in sein Glas mit funkelndem Burgunder. »Niemand hat diesen Geist so klar erkannt wie Ihr Landsmann Johann Joachim Winckelmann, der berühmte Gelehrte und Kunstforscher aus Stendal, der sich vom Schusterssohn durch die Kraft seiner Begeisterung und durch unentwegtes Selbststudium zum Begründer der wissenschaftlichen Archäologie entwickelt hat. Sie wissen, dass er lange in Rom wirkte und an den Ausgrabungen in Herculanum und Pompeji beteiligt war.«