Was habe ich nur getan, Mathieu, dass das Schicksal mich derart hart rannimmt?
Du bist wieder in Frankreich, Alfred!
Es geht jetzt ans Erzählen und ein stark gealterter und müde wirkender Alfred Dreyfus beginnt, seinem Bruder Rede und Antwort zu stehen.
Auf der Teufelsinsel in einer vergitterten Kammer. Auf der SFAX ebenso. Auf dem Kreuzer während der Überfahrt - morgens und abends eine Stunde zum Luftschnappen! Und jetzt im Militärgefängnis Rennes. Alfred Dreyfus lächelt bitter.
Rede dir nur alles von der Seele, Alfred.
Wir sehen, dass es den ausgemergelten Häftling plötzlich schüttelt. Offensichtlich friert er. Mathieu bleibt dieser Umstand nicht verborgen. Voller Sorge schaut er den um zwei Jahre jüngeren Bruder an.
Obwohl draußen in der Bretagne Sommer ist, sagt Alfred, mein Körper kann sich nur schwer umgewöhnen. Fünf Jahre auf dieser Insel - acht Monate im Jahr ist dort Regenzeit!
Du wirst nicht lange hier in Rennes bleiben, Alfred. Das verspreche ich dir. Wir werden schon bald in die Schweiz fahren. Du wirst dich dort in einem Sanatorium schnell wieder erholen.
Alfred Dreyfus winkt beschwichtigend ab: Diese Zelle kommt mir ja geradezu schon wie ein Luxus vor, Mathieu. Gegen das, was vorher war. Ich stand Tag und Nacht unter Beobachtung. Fünf Aufseher! Und eines Tages - sie haben die Hütte mit einer Palisade umgeben. Die ist so hoch, dass ich fortan nicht einmal das Meer sehen kann. Die Wärter haben etwas von einer Flucht geredet und mich wochenlang nachts sogar mit einem Doppeleisen ans Bett gefesselt!
Wir sehen Mathieu wie das leibhaftige schlechte Gewissen neben seinem Bruder stehen. Wie hatte er gefeixt, als damals seine Finte über eine Flucht Alfreds gierig von den Zeitungsfritzen aufgegriffen wurde. Und das nicht nur in Frankreich.
Wenn da nicht der Gedanke an Lucie und an die Kinder gewesen wäre - Mathieu, ich wäre wahnsinnig geworden. Wieder und wieder habe ich meine Unschuld beteuert ... Die Stimme versagt Dreyfus, der trotz seiner vierzig Jahre auf uns wie ein Greis wirkt.
Alfred - das Gerücht. von deiner Flucht, es stammte von mir. Ich wollte doch nur nicht, dass du in Vergessenheit gerätst!
Alfred schüttelt den Kopf über soviel Unverstand oder Nichtwissen. Flucht? Von der Teufelsinsel kommt einer nur mit den Beinen voraus. Mich bewegt etwas ganz anderes, Mathieu: Da kehre ich nach fünf Jahren der Marter zurück, in Hoffnung auf Gerechtigkeit. Denke mir, mein entsetzlicher Traum hat ein Ende. Glaubte, mit offenen Armen empfangen zu werden. Dass die Menschen ihren Irrtum erkannt hätten. Aber was ist: Überall ängstliche Gesichter. Kleinliche Verhaltensmaßregeln. Wieder Gefängnis. Und wieder vereinigen sich in mir die körperlichen Schmerzen mit den seelischen Schmerzen.
Wenn es dich tröstet: Die dir das angetan haben, Alfred, sind jetzt selbst zu Angeklagten geworden.
Von wem sprichst du?
Mathieu richtet sich zu voller Größe auf, als klage er wie ein Rachegott folgende Männer an: Die Generäle Mercier, de Boisdeffre und Gonse zum Beispiel. Solche Leute sind an deinem Unglück schuld, Alfred! Sie haben gelogen, Beweise gefälscht, unsere Freunde verfolgen lassen.
Mathieu!, entfährt es Alfred Dreyfus warnend. Vergiss nicht, dass du von Offizieren der Französischen Armee sprichst!
Mathieu läuft vor Zorn im Gesicht rot an: In meinen Augen sind das Verbrecher! Sie haben von Anfang an gewusst, dass du unschuldig bist. Einen Sündenbock brauchten die - da kam ihnen der Jude Dreyfus gerade zupass!
Ich mag solche despektierlichen Reden nicht hören, Mathieu!", ruft der Jüngere. Schließlich bist du kein Offizier.