MÖRDERMORD ist trotz der erfundenen Rahmenhandlung eine authentische Story, sie bedient sich eines über jeden Zweifel erhabenen Materials. Die Rede ist von einem stenografierten Schwurgerichtsprozess in Berlin des Jahres 1921. Angeklagt war ein armenischer Student, den ehemaligen Türkischen Innenminister Talaat Pascha auf offener Straße um die Mittagszeit erschossen zu haben. Das Gericht gab sich große Mühe, die Motive des jungen Mannes zu erfahren. Es stellte sich heraus, dass der einundzwanzigjährige Solomon Teilirian unter einem Trauma litt, entstanden durch die von Türken unter Talaats Ägide gegen die armenische Minderheit ausgeübten Gräueltaten, wie er sie in seiner Kindheit erlebt hatte. Bis zum heutigen Tage leugnet der türkische Staat jenen Genozid. Zur Ehre des Gerichts sei aber erwähnt, dass mehrere Zeugen aus eigenem Augenschein jene unfassbaren Massaker schildern durften. Dennoch kann in der Türkei jedermann gerichtlich belangt werden, der diesen Völkermord öffentlich benennt. Es ist der Fall einer Lehrerin bekannt, die auf eine Frage ihrer Schüler die Schuld der Türkei bejahte anderntags wurde sie von der Geheimpolizei zum Verhör abgeholt. Unbelehrbar demonstrieren türkische Landsleute jedes Jahr gegen "diese armenische Lüge vom Genozid", wenn am 24. April während einer diesbezüglichen Veranstaltung in Berlin der Gemeuchelten aus dem Jahre 1915 gedacht wird. Und der Staat Türkei tut noch ein Übriges: Länder, die offiziell den Genozid an den Armeniern als Faktum des Völkermords anerkennen, werden Sanktionen angedroht. Frankreich büßte beispielsweise das Geschäft mit den an den NATO-Staat Türkei zu liefernden Düsenjäger Mirage ein; der USA wird die Kündigung der Lande- bzw. Überflugrechte angedroht. Hat dieses rigide Verhalten gegen NATO-Mitglieder Auswirkungen auf den von der Türkei gewünschten Beitritt in die EU?
Wider Erwarten sprach das Schwurgericht den überführten und geständigen Attentäter frei. Aufgrund der Weltempörung, die die Aussagen des armenischen Schützen zur Folge hatte, flüchteten die Richter respektive die Geschworenen sich in die Anwendung des Paragraphen 51, also im Sinne des Gesetzes nicht schuldfähig. Solomon Teilirian verließ Deutschland als freier Mann, ging zuerst in die USA, heiratete in Europa, wurde zweimal Vater und als er in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts starb, legte die armenische Gemeinde in San Franzisco auf den Sarg ein Fernglas, mit dem der Mörder Talaats tagelang sein Opfer observiert hatte. In diesem Zusammenhang erwähnt Dr. Stephan Heymann in seinem Nachwort, durch seine Studien in Armenien ein Kenner des Sachverhaltes, die Terroranschläge der ASALA (Geheimarmee zur Befreiung Armeniens) 1975-1985 auf türkische Diplomaten und Einrichtungen, die eine Wiederbeschäftigung mit dem vergessenen Völkermord in internationalen Gremien bewirkten. Es scheint mittlerweile unbestritten, dass der Berliner Attentäter im Auftrag einer Feme-Organisation den Schreibtischmörder Talaat Pascha, er lebte inkognito als Ali Bey in Berlin, eliminierte. Auch bleibt die Frage offen, wer seinerzeit die besten Anwälte Deutschlands bezahlte, die einen Freispruch für den Salomon Teilirian bewirkten
Dass die Autoren von Mördermord sprechen, fand das Missfallen der Armenischen Kolonie zu Berlin. Es gibt auch eine Art Rivalität zwischen Juden und Armeniern. Letztere fühlen sich zurückgesetzt, weil in der Weltöffentlichkeit stets der Holocaust gewürdigt wird, nicht aber im gleichen Maße das Leid der armenischen Minderheit in der Türkei Anfang des 20. Jahrhunderte. In einem Telegramm zur Deportation der Armenier wies der Innenminister Talaat Pascha zynisch an: der Ort der Verbannung ist das Nichts. Der Leichnam Talaats ist übrigens in einem Staatsbegräbnis beigesetzt worden; sein Todestag wurde zugleich Staatsfeiertag in der Türkei
Höchst bedenklich ist Folgendes, was eine junge armenische Berliner Ärztin nach einer Lesung berichte: Danach hatte sie im Laden eines türkischen Händlers Kleingeld eingewechselt. Der junge Mann folgte ihr auf die Straße und fragte, ob sie Armenierin sei? Als die Ärztin bejahte, spuckte der Türke aus und rief, ihre Anwesenheit sei ein Beweis, dass seine Vorfahren 1915 leider einige Armenier hatten entwischen lassen. Ein nachgeborener Türke also kommt uns Deutschen diese öffentliche Schmähung nicht bekannt vor?
Ein ergreifendes und sehr brisantes E-Book, auf alle Fälle lesenswert.