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Federschnee von Siegfried Maaß
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Preis E-Book:
7.99 €
Veröffentl.:
16.08.2016
ISBN:
978-3-95655-626-5 (E-Book)
Sprache:
deutsch
Umfang:
ca. 160 Seiten
Kategorien:
Belletristik/Familienleben, Belletristik/Krieg & Militär, Belletristik/Liebesroman/Erwachsenwerden
Familienleben, Zeitgenössische Liebesromane, Belletristik: Themen, Stoffe, Motive: Tod, Trauer, Verlust
Freundschaft, Liebe, Eltern-Kind-Konflikt, Zwillinge, Kinderheim, DDR, Spatensoldat, NVA, Tod, Eifersucht, Selbstfindung
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Mit Sebastian hatte ich mich einige Wochen vor beider Hochzeit noch einmal zu Mutters Geburtstag getroffen. Unsere Mutter hatte sich ebenso erstaunt gezeigt wie ich, weil Leonie lediglich eine Glückwunschkarte geschickt hatte, während sie sonst Reise und Kosten auf sich nahm, um mit uns an der Geburtstagstafel sitzen zu können. Von ihr selbst wusste ich, wie sehr ihr daran gelegen war, denn mit ihrer Mutter hatte sie nichts gemeinsam zu feiern und außerdem würde ihre Mutter sie nicht mehr erkennen. Das hatte sie vor einiger Zeit erlebt, nachdem sie zu ihr gefahren war.

Aber bald musste ich begreifen, dass für ihr Fernbleiben ein Grund vorlag, der mir niemals eingefallen wäre: Sebastian hatte mich allein treffen wollen, weil er mir etwas mitzuteilen hatte, aus dem er Leonie heraushalten wollte.

Zwischen Kaffeetrinken und Abendessen lotste er mich aus dem Haus. Angeblich gefiel es ihm plötzlich, mit mir noch einmal die Orte unserer Kindheit aufzusuchen: Den Sperlingsberg und den Teich und vor allem den alten Steinbruch, unseren Canyon.

Geschickt richtete er es ein, an unsere abenteuerlichen Unternehmungen zu erinnern und an die Zeit, in der Leonie bereits bei ihrer Großmutter in unserer Siedlung wohnte.

Mein Bruder hatte sich inzwischen einen Bart wachsen lassen, der sein Gesicht rahmte und nur unter den Augen etwas Haut erkennen ließ. Das Barthaar war dunkler als jenes auf seinem etwas kantigen Schädel, der auswechselbar mit meinem gewesen wäre. Denn außer einer Narbe, die ich nach einer OP als Säugling auf der Brust zurückbehalten hatte, unterschied uns nichts. Nun war sein Bart ein sichtbares Unterscheidungsmerkmal, das vorteilhaft für ihn ausfiel, denn es betonte seine Männlichkeit. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, wie lange er sich nicht rasiert hatte, um diese Haarwulst entstehen zu lassen.

Mein Bartwuchs war spärlich, sodass ich gut einen Tag ohne Rasur ausgekommen wäre. Aber unrasiert wollte ich nicht vor der Klasse erscheinen. Ich wäre das Gefühl nicht losgeworden, von den Mädchen bewispert zu werden, die dazu immer einen Anlass fanden.

Sebastian ließ sich am Seeufer ins Gras fallen, fingerte eine Zigarette hervor, sodass mir damit sogleich eine weitere Abweichung von unserer Zwillingsgleichheit auffiel. Ich hatte nicht gewusst, dass er sich das Rauchen angewöhnt hatte.

»Ich soll dich von Leonie grüßen«, sagte er und stieß Rauch als Nebelschwade von sich. »Ihr geht es gut!«

»Warum auch nicht«, sagte ich und befragte mich im Stillen, weshalb er es derartig hervorhob. »Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?«

Er überging meine Frage und antwortete stattdessen: »Nicht allen Frauen geht es immer gut in dem Zustand.« Sein Lächeln misslang ihm, sodass sich der Bart nahe an seine Augen heranschob.

Ich sah ihn an und sträubte mich, hinter seinen Worten die Wahrheit zu finden, die sich dort zu verbergen schien.

»Du vermutest richtig!« Sebastian erhob sich, trat den Zigarettenrest aus und blickte mich an. »Sie ist im dritten Monat.«

Ich wusste, dass sie sich oft trafen, denn ihre Wohn- bzw. Arbeitsorte waren nicht weit voneinander entfernt. Aber den Gedanken, dass sie dann miteinander schlafen würden, hatte ich immer ausgeblendet. Als glaubte ich, sie würden nur freundlich miteinander reden und sich lediglich an den Händen halten. Wie Freunde, die sie waren und nun auch geblieben sind.

Glaubte ich.

Wie konnte ich so naiv sein? Oder hatte ich die Wahrheit einfach nicht wissen wollen?

»So ist das also!« Ich wusste in diesem Augenblick nichts anderes zu antworten.

»Wir werden heiraten. Sie möchte es so.«

»Und du?«

Er hob die Schultern und starrte auf den See.

»Also lieber nicht?«

»Ich bin nicht so altmodisch, weißt du ...« Nochmals hob er die Schultern. »Ich soll dir schon mal ausrichten, dass wir Dich dann als unseren Gast erwarten. Das sind ihre Worte. Aber es wird nur ‘ne ganz bescheidene Hochzeit, nicht mit vielen Leuten. Das geht sonst zu sehr ins Geld.«

Obwohl ich mir bereits in diesem Augenblick sicher war, dass diese Hochzeitfeier ohne mich stattfinden würde, schwieg ich, wandte mich um und ließ Sebastian stehen. Er bemühte sich auch nicht, mich zurückzuhalten, folgte mir auch nicht, sodass ich schon abgefahren war, bevor er in die Siedlung zurückgekehrte. Offenbar hatte er es so eingerichtet, um mich nicht noch einmal zu treffen.

Meiner Mutter hatte ich erklärt, dass ich zu Hause noch Klassenarbeiten zu korrigieren hätte, weil ich bald Zeugnisse schreiben müsste. Ob sie mir glaubte, weiß ich nicht.

Ich bin meinem Vorsatz treu gebheben. Ich glaubte, es nicht ertragen zu können, sie in ihrer ungetrübten Zweisamkeit zu erleben. Ebenso wie in unseren Kindertagen, wenn ich zornig oder traurig als Verlierer oder Schwacher mir meine Unterlegenheit eingestehen musste, hatte sich mein Bruder auch dieses Mal als Sieger erwiesen und Leonies Zuneigung gewonnen und mich damit als Nebenbuhler ausgeschaltet. In brüderlicher Liebe, sozusagen ...

Ich hatte mich nicht einmal dazu überwinden können, ihnen zu gratulieren. Die Postkarte,die ich gekauft hatte, versenkte ich in irgendeinem Fach, wo sie blieb, bis ich sie zufällig wiederfand und zerriss.

Zur Hochzeit konnte Leonie ihre Schwangerschaft noch geschickt verbergen, was ich nur weiß, weil es mir nachträglich berichtet wurde. Von dem Zahnarztsohn, der inzwischen selbst studierte und die Praxis seines Vaters übernehmen will. Er war Sebastians Trauzeuge und dafür extra aus Westdeutschland gekommen, wo er inzwischen lebte. Leonie konnte dafür eine Kollegin gewinnen, die der künftige Zahnarzt als »sehr proletenhaft« bezeichnete, wobei seine Handbewegung entsprechend wegwerfend ausfiel.

Federschnee von Siegfried Maaß: TextAuszug