Als ich meinen ersten Auftrag bekam, die Übertragung einer kleinen, einfachen, aber lustig-phantastischen Erzählung, war ich Mitte Zwanzig. Nichts ließ bis dahin vermuten, dass ich einmal als literarische Übersetzerin arbeiten würde. Ich hatte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena Slawistik und Romanistik studiert, schrieb meine Abschlussarbeit (einen Hang zur russischen Literatur hatte ich, wies scheint, schon damals) über den bekannten russischen Autor Anton Tschechow , war nach dem Staatsexamen 1963 Lehrerin geworden und dann auf Wunsch meines Professors an die Universität zurückgekehrt. Eine wissenschaftliche Laufbahn schien sich abzuzeichnen.
Hilfreich bei meinen Übertragungen waren ererbte und anerzogene Eigenschaften, die man für gewöhnlich unter dem Begriff Talent zusammenfasst. Daneben aber auch die Besonderheiten eines Lebens, das ganz und gar nicht problemlos verlief. So wuchs ich, 1941 als Emigrantenkind in Moskau geboren, während eines grausamen Krieges zunächst zweisprachig auf. Mit den Kindern auf der Straße sprach ich Russisch, was meinen Eltern Vater stammte aus Hildesheim, Mutter aus Hannover nur recht war, denn in einem System, das oft harsch mit uns verfuhr, wollte man nicht noch durch die deutsche Sprache auffallen. Jedenfalls wurde ich, als die Familie 1947 nach Berlin zurückkehren durfte, von den Russischlehrern für meine akzentfreie Aussprache gelobt, von den deutschen Kindern jedoch als Russki, Russki verhöhnt. Das wurmte mich sehr, und so gewöhnte ich mir recht schnell das Berlinern an.
Russisch sprechen konnte ich also schon als Kind, Russisch lesen und schreiben hingegen lernte ich kurioserweise erst in Deutschland. Weil meine deutschen Sprachkenntnisse für den Besuch einer deutschen Schule nach unserer Rückkehr 1947 nicht ausreichten, kam ich zunächst in die Russische, danach in die Deutsch-Russische Schule in Berlin-Pankow. Nach der dritten Klasse stand dann der Wechsel in eine deutsche Schule an: Allerdings schickte man mich aus Altersgründen ich war nicht, wie in Deutschland üblich, mit sechs, sondern erst mit sieben Jahren eingeschult worden gleich in die fünfte Klasse, die vierte musste ich überspringen. Das bedeutete eine gewaltige Umstellung für mich, wurden doch jetzt alle Fächer, auch die naturwissenschaftlichen, ausschließlich in Deutsch unterrichtet!
In Erinnerung ist mir mein erstes Deutsch-Diktat , Thema: Muttertag. Wie im Russischen üblich, schrieb ich sämtliche Substantive klein, was mir der Lehrer jedesmal als Fehler mit einem dicken Rot anstrich. Am Ende gab es mehr Rot als Blau in meiner Arbeit, dennoch prangte als Zensur unten eine Fünf! Ich wunderte mich kurz und wollte mich schon freuen, begriff dann aber: Das war keineswegs die Bestnote, wie ich sie aus meinen bisherigen Schulen kannte!
Die Lektion mit den Substantiven hat sich mir fest eingeprägt, und überhaupt bemühte ich mich fortan, im Deutschen sattelfest zu werden. In diesem Zusammenhang gewöhnte ich mir das Berlinern wieder ab, und auch der noch immer leicht vorhandene russische Akzent mit dem rollenden Rrr verschwand nach und nach.
Doch nun zurück zu meinen Eltern. Mein Vater war Musikprofessor, er übersetzte und schrieb darüberhinaus Gedichte. Meine Mutter, eine Musikstudentin, war Anfang Zwanzig gewesen, als sie mit meinem Vater Deutschland verließ. Gertrud musste früh erwachsen werden, brachte unter schwierigen Bedingungen vier Kinder zur Welt, von denen eins, ein Mädchen, kurz nach der Geburt starb. Bei all dieser physischen und psychischen Belastung trug sie mit ihren Strickarbeiten und deren Verkauf auf dem Markt wesentlich dazu bei, die Familie während der harten Exiljahre finanziell über Wasser zu halten; das karge Gehalt meines Vaters für seine zeitweilige Lehrtätigkeit reichte kaum für das Nötigste. Endlich wieder in der Heimat, arbeitete Mama, die offenbar sehr gut Russisch sprach, als Dolmetscherin, bis sie uns im Frühjahr 1948 für immer verließ. Ich war gerade mal sieben, als ich sie eines Morgens vor dem Gasherd in der Küche fand. Ich erinnere mich an den ungeheuren Schreck, der mich das Haus zusammenschreien ließ, und an die Ascheflöckchen in ihrem schwarzen Haar weiße, ganz und gar nicht leuchtende Sterne.
Gas Recha, meine Großmutter väterlicherseits, die ich nie kennenlernen konnte, wurde um das Jahr 1942 als Jüdin ins Konzentrationslager Sobibor nahe Lublin deportiert, wo sie in der Gaskammer ums Leben kam. Mein Vater sprach mit uns Kindern nie über seine Familie, auch nicht über die Nazizeit oder die Probleme und Repressalien, denen er im dreizehn Jahre währenden Exil unter Stalin ausgesetzt war Letzteres durfte er wohl nicht. Selbst die Verbannung nach Sibirien, wo in Tomsk bei minus vierzig Grad im Winter 1938 mein Bruder Wolfgang zur Welt kam, war kein Thema.