Doch ist der Prior froh, dass er der einzige Zeuge dieses Bekenntnisses ist. >Es muss verhindert werden<, überlegt er das Praktische, >dass Meinardus diese Geschichte verbreitet. Das wäre das Wichtigste. Denn über eines muss man sich klar sein: wenn die Geschichte bekannt wird, ist es vorbei mit der Ruhe unseres Klosters, mit dem Frieden der Gelehrsamkeit! Dann wird das Volk, das aus tausend Wunden blutet und nach Wundern giert, danach greifen und die Hände nach dem wundertätigen Bild ausstrecken. Das Kloster wird sich nicht retten können vor Kranken, Krüppeln und Bettlern. Es wird stinken nach Eiterbeulen und Bettelsuppen, und der Anblick des Elends wird uns bis in die Träume nicht loslassen!<
»Meinardus«, beginnt der Prior behutsam, »es war gut, dass du dich ausgesprochen hast, mein Sohn. Ich werde dein Geheimnis wohl verwahren.«
»Geheimnis? Verwahren?« Meinardus glaubt sich verhört zu haben. »Habt Ihr denn nicht begriffen: Ich hatte eine Vision! Das sollte doch alle Welt und vor allem der Papst wissen!«
»Ach, Meinardus«, die wegwerfende Handbewegung und ein tiefer Seufzer unterstreichen die Ablehnung, »wie viel Menschen berichten heutzutage von Visionen und Wundern!«
»Aber«, der Kranke setzt zur Verteidigung an, »es ist doch wichtig, das mitzuteilen. Es ist ein Beweis ...«
»Wofür?«, unterbricht der Prior kalt. »Ein Beweis wofür?«
«... dass Meister Eckart und Seuse recht hatten mit der Lehre, dass die höchste Belohnung aller Leiden das völlige Einssein mit Gott ist. Ich bin Zeuge. Denn mir ist ein Vorgeschmack künftiger Seligkeit zuteilgeworden!«
Der Prior vergisst die Schmerzen in den Eingeweiden und setzt sich kerzengerade. Sein Zorn lässt die Schläfenadern hervortreten. Welch eine Frechheit! Auch noch die Mystiker zu zitieren, die den Menschen den bösen Floh ins Ohr gesetzt haben, sie könnten ohne priesterliche Vermittlung Zugang zu Gott finden! Die Namen gellen dem Prior feindlich im Ohr. Aufrührer sind es, Ketzer. Die Auswirkungen ihrer Lehre sind unabsehbar. Denn eines Tages wird gefragt werden: Wozu brauchen wir eine Kirche? Wozu einen Papst? Wozu Priester und Mönche? Nicht einmal die Heiligen werden mehr gebraucht werden, und ihre Bilder wird man zerschlagen! >Welch ein Narr ist doch dieser Meinardus! Ich, der Prior von Sankt Johannis zu Hamburg, werde solchen Umtrieben keinen Vorschub leisten. Gedanken, die an den Grundfesten unserer Ordnung rütteln, müssen im Keim erstickt werden!< Der Prior steht auf.
Gepresst sagt er: »Meinardus, werde erst gesund! Dann überdenke noch einmal alles in der Einsamkeit deiner Seele und sprich nicht darüber! Übe dich in der Kunst des Schweigens wie jener Vater, von dem Agathon berichtet, er habe drei Jahre einen Stein im Munde getragen! ... Später werden wir weiter sehen.«