An jenem Augusttag 1961, als Mutter mir zum ersten Mal von Viktor erzählte, hat es in dieser Gegend auch einen Wolf gegeben. Der war von Polen gekommen, über die Neiße war er geschwommen. Er hat nicht lange gelebt. Wurde abgeschossen. In dieser Zeit, auch später noch, geschah das mehrmals. Es war „legal“. Da wurde auch nicht viel drüber geredet. Dass Berlin nun „dicht“ sei, darüber wurde geredet. Den meisten war das ein Ärgernis. Andere sahen es als Chance. Es werde uns nun bald besser gehen, vermuteten sie, weniger Abwanderung, also mehr Arbeitskräfte, also weniger Verluste; vor allem könne man jetzt, wenn die Grenzen dicht seien, im Land etwas verändern. Ich war gerade vierzehn geworden, ich hielt mich an Mutters Ansichten, denn es leuchtete mir ein, was sie sagte: Wir könnten jetzt Alternativen aufzeigen zum „goldenen Westen“, andere Energiequellen erschließen, beispielsweise Wind, Wasser, Erdwärme, statt die Lausitzer Dörfer abzubaggern.
Vielleicht war aber auch schon alles zu spät? Festgefahren. Und wir wollten es nicht wahrhaben. Wir Traumwandler. Während unserer Heidewanderung haben wir, soweit ich mich erinnere, von diesen Dingen nicht gesprochen. Wo ist mein Vater geblieben? Das war alles, was mich interessierte. Und diese Frage konnte oder wollte Mutter mir damals nicht beantworten. Victor war verschwunden, von einem Tag auf den anderen, sagte sie. Und setzte ihren Bericht sehr zögernd fort, ich hatte das Gefühl, dass sie mir keineswegs alles sagen wollte.
Frühmorgens bin ich zu Jelena Andrejewna gegangen, erzählte sie weiter. Die hatte rot geweinte Augen. Geh weg und komm’ nie mehr wieder, rief sie. Viktor sei abgeholt worden, bald nachdem er ihr und seinem Schwager gebeichtet hatte. Sein Schwager, Jelenas Mann also, habe es pflichtgemäß noch spät abends weitergemeldet, dann sei alles ganz schnell gegangen. Das war’s, was ich erfahren konnte. Auch am Nachmittag, als ich zum Verhör auf die Kommandantur geholt wurde, erfuhr ich nichts Genaues. Ob ich es freiwillig getan oder ob er mich gezwungen habe, wollten sie wissen. Ich erzählte ihnen von unserer großen, unendlichen, ewigen Liebe, von gemeinsamem Leben, gemeinsamen Kindern, sie schüttelten ernsthaft und schweigend ihre Köpfe, einer von ihnen sagte schließlich hart: Njet. Und versteckte dabei ein Lächeln.
Dabei blieb es. Ich wurde noch mehrmals vorgeladen. Ich kam dahinter, dass es der Geheimdienst war, der sich für mich interessierte, und langsam begriff ich auch, worum es ihnen ging. Ich sollte für sie arbeiten. Es werde mein Schaden nicht sein. Aber wenn ich es nicht täte, würden sie das Kind beanspruchen, es müsse als Sowjetbürger in der Sowjetunion aufwachsen, es dürfe nicht das Enkelkind eines deutschen Faschisten sein. Natürlich protestierte ich heftig, mein Vater sei niemals ein Faschist gewesen, entnazifiziert sei er auch. Da lächelten sie. Sie waren fast immer sehr freundlich zu mir. Aber gerade das, Katja, das hat mir Angst gemacht, verstehst du? Und ich traute mich nicht, mit den Eltern darüber zu sprechen, man hatte es mir streng verboten, ich hatte deswegen sogar ein Papier unterschreiben müssen. Aber im Herbst, als du dann auf der Welt warst, da redete ich mit den Eltern. Denn da wusste ich, was ich tun musste. Genau das, was sie wollten, musste ich tun — um dich zu behalten. Weil ich aber in den folgenden Jahren durchaus sehr viel weniger tat, als sie von mir erwarteten, im Grunde so gut wie nichts, im Grunde führte ich sie ständig an der Nase herum, hatte ich — hatten wir — ständig Angst, dass dich der KGB, wie sich der russische Geheimdienst seit 1954 nannte, doch noch abholen könnte. Oder heimlich mitnehmen. Vielleicht war das unnötige Angst. Es ist niemals etwas geschehen, was man in diese Richtung hätte deuten können. Aber ich habe diese Angst bis heute. Und darum sage ich auch heute noch, was ich dir ständig gepredigt habe: Sei auf der Hut. Jetzt weißt du endlich, warum. Es wurde wirklich Zeit dafür.
So ungefähr hat sie geredet, und mir war klar, dass sie vieles ausgespart hatte. Ob sie denn auch heute noch mit dem KGB zu tun habe, hatte ich gefragt.
Nein, sagte sie, schon seit 1950 sei der deutsche Geheimdienst für sie zuständig gewesen.
Die Staatssicherheit also? Und mit der habe sie heute noch zu tun?, wollte ich wissen. Da schwieg sie lange. Das hätte sich wahrscheinlich in meiner Position sowieso nicht vermeiden lassen, sagte sie endlich.
Welche Position? Schuldirektorin?
Ja, natürlich. Jeder in solcher Stellung wird regelmäßig abgefragt. Aber was er sagt und was er für sich behält, ist doch seine Sache, oder? Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Und ich bin doch trotz allem für diesen Staat, verstehst du? Es gibt keine Alternative. Und also muss ich auch dafür sein, dass er beschützt wird, muss ich für seine Sicherheit sein. Logisch?
Logisch, hab ich gesagt, etwas zögerlich zwar, denn ich ahnte, dass ein Haken versteckt war in dieser Logik, aber ich sah ihn nicht, damals noch nicht.
Und dein Bruder, der Dietmar, wollte ich wissen, hat der mich darum so gehasst, weil ich ein Russenkind war? Ist er darum nach drüben abgehauen?
Was hätte das miteinander zu tun, sagte Mutter. Mein kleiner Bruder, den alle dann für deinen großen Bruder hielten, hat seine Kindheitsideale niemals aufgegeben. Niemals, verstehst du? Immer hat er solche Sachen gesammelt, die mit dem „Großdeutschen Reich“ zusammenhingen: Bilder, Abzeichen, Zeitungsartikel. Er ist dann zum Studium nach Halle gegangen, Lehrerstudium, und dort hat er Gleichgesinnte getroffen. Das erfuhren wir erst viel später. Auch von den Problemen, die er damals in Halle hatte, wussten wir nichts. Er war nämlich exmatrikuliert worden, weil er nicht an der Maidemonstration teilgenommen hatte. Und diese Idioten dort gaben ihm das auch noch schriftlich, sodass er drüben ganz schnell, anerkannt als „politischer Flüchtling“, aus dem Aufnahmelager heraus und in ein Studium hineinkommen konnte. Und wir hatten den Ärger. Deine Sänger-Großeltern, insbesondere der Opa, der damals gerade Dozent in der Lehrerbildung geworden war, wurden mehrmals befragt: Hatten sie von Dietmars Absicht gewusst, hatten sie ihn unterstützt, ermutigt? Sie hatten nicht, aber es dauerte, bis man ihnen glaubte.
Herbert und ich waren in Potsdam, wir bereiteten uns auf das Staatsexamen vor; eines Tages wurde ich zu dem Mann bestellt, den alle „Holzauge“ nannten, wenn sie über ihn tuschelten, und der fragte und fragte und schimpfte mit mir rum, zuerst war ich verwirrt und erstaunt, dann wurde mir klar, dass er natürlich bestens informiert war über meine Vergangenheit, also über Viktor und über dich. Und ich war schon dabei, das alles zu vergessen! Denn die ganze Zeit über hatten diese Leute mich in Ruhe gelassen. Schließlich mussten sie mir glauben — weder ich noch meine Eltern hatten von Dietmars Plänen und Absichten gewusst. Manchmal kommt ja eine Postkarte an unsere Eltern. In diesem Frühjahr hat er sein Studium abgeschlossen. Ist nun Lehrer in einer Kleinstadt, nahe bei Frankfurt.
Ja, das wusste ich schon. Hatte sie mir nun alles erzählt, meine geheimnisvolle Mutter? Bestimmt nicht. Irgendwann würde noch irgendetwas nachgereicht werden. So ist sie nun mal, die Koschlick Anna.