Darüber war der Mittag vergangen, und die spätherbstliche Sonne balgte sich kraftlos mit Schatten, als David Rübsamen sich entschloß, sein Geschäft nicht länger offen zu halten. Noch nie war ihm, solange er lebte und handelte, ein ähnlicher Gedanke gekommen, auch nicht in den Tagen zuvor, als er vergebens auf Kundschaft gewartet hatte. Im Gegenteil. Nicht selten hatte er sogar die Holzrollos vor dem Eingang wieder hochgeschoben, wenn er auf den Steinstufen nur ein paar Schritte zu hören geglaubt hatte. Doch nichts dergleichen war noch geschehen, und die Hoffnung verließ ihn.
Er ging an die Tür, um sie wie allabendlich zu verriegeln. Da aber gewahrte er, daß vor dem Fenster ein Mann stand. Offensichtlich war es ein Mann, denn deutlich waren Schaftstiefel und Breeches zu sehen. Von der Brust an aufwärts allerdings blieb der Körper verdeckt, da das Fenster, schon unterhalb des Trottoirs beginnend, nicht höher hinausgebaut war.
David Rübsamen spürte sein Herz trommeln. Freude befiel ihn, ließ seine Glieder beben und hatte doch nichts mehr und nichts weniger zum Anlaß als nur ein Paar bestiefelter Beine.
Der Mann vor dem Fenster bewegte sich. David Rübsamen eilte hinter den Verkaufstisch und stützte die Hände flach auf die Platte, wie er stets seine Kunden empfangen hatte. Aber wußte er denn, ob der Mann auch käme? Hatten denn nicht in den letzten Tagen auch andere Passanten in sein Fenster geblickt und waren dann trotzdem achtlos weitergegangen?
Absätze hackten auf den Steintritt. Ein Schatten fiel gegen die Scheiben der Tür, die Klinke wurde niedergedrückt, und das Glockenspiel begann melodisch zu klingen.
Der Mann trat ein. Er trug eine Brille und eine Schirmmütze. »Heil Hitler«, sagte er, wie fast nebenbei.
»Heil Hitler«, entgegnete David Rübsamen. Der Fremde kam ihm so fremd nicht vor, und er verbeugte sich. »Womit darf ich dienen, mein Herr?« Unzählige Male hatte er diesen Satz gesprochen. Wohl überlegt hatte er für sein Geschäft diese Frage gewählt. Für alle Eintretenden sollte sie unverbindlich klingen, ihnen nicht sofort die Absicht zu kaufen unterstellen und sie trotzdem in das Verhältnis versetzen, das jeder Kunde liebte: sich umworben zu fühlen.
Der Mann schaute sich um. David Rübsamen wurde erst jetzt bewußt, daß er in einer Uniform steckte.
»Ich möchte gern ein paar Reißzwecken.«
»Aber bitte. Oh bitte sehr.« David Rübsamen zog dienstbeflissen ein Schubfach auf und breitete die Ware aus. »Die besten und die billigsten Sorten, mein Herr...«
»Ich suche recht starke Reißzwecken. Solche, die sich nicht gleich verbiegen.« Der Fremde musterte die Auslage.
David Rübsamen trippelte wiederum zum Schrank, öffnete eine andere Lade und bot deren Inhalt an.
»Ich rate Ihnen, nehmen Sie Reißnägel. Die dringen in jedes Holz ein und sind klopffest.«
Der Mann betastete sie mit den Fingern. »Was kostet das Stück?«
»Zwanzig Reichspfennig das Schock.« David Rübsamen legte wieder die Handflächen auf die Tischplatte.
»Nein, kein Schock. Ein halbes Dutzend genügt.«
»Bitte sehr, mein Herr.« David Rübsamen wickelte die Reißnägel sorgfältig in Seidenpapier, bevor er sie in eine Tüte tat, und überreichte sie dann seinem Kunden. »Zwei Reichspfennig macht es dann, Herr.«
Der Mann nahm das Päckchen, legte, als zähle er sie vor, zwei einzelne Pfennigmünzen auf den Glasteller mit Pelikan-Reklame, dankte und ging.
David Rübsamen kam zu spät, um ihm vor dem Hinaustreten noch die Tür zu öffnen. Er verstaute die Schubkästen wieder an Ort und Stelle. Als er jedoch zufällig davon aufsah, bemerkte er, wie sich der Mann, dessen Gesicht ihm nicht unbekannt gewesen war, draußen an der Tür zu schaffen machte. Kaum aber entdeckt, entfernte sich der Fremde.
David Rübsamen lief verwundert zur Tür, um nachzuschauen.
Die Glöckchen bimmelten wieder melodisch.
Am Holz des Rahmens hing von außen ein Pappschild.
Mit sechs blinkenden Reißnägeln war es akkurat an der Tür befestigt.
Auf dem Schild stand in fetten schwarzen Lettern: JUDE.