Inzwischen jedoch hatten sich beide bei uns zu Hause einquartiert und warteten ungeduldig auf meine Antwort. Jedesmal sprach ich mit ihnen über ein Telefon außerhalb des Zimmers, weil ich mir unsicher war; ob Ulrike womöglich nicht doch, trotz ihres Zustands, einen Fetzen von unserer heimlichen Verabredung hätte mithören können.
Dann aber war es endlich soweit. Sie nickte schwach, als ich ihr nun schon zum wiederholten Male den Wunsch unserer Töchter übermittelte, hauchte ein leises Ja.
Sie kamen sofort. Schon meine Zusage am Telefon, die ja nichts anderes war als nur die Wiedergabe ihrer Zustimmung, mußte für sie die Befreiung aus einer bis dahin irrationalen Angst sein. Sie wollten sofort mit dem Auto losfahren, und so würde es höchstens zwanzig Minuten dauern, bis sie einträfen. Ich empfing sie auf dem Korridor, bat sie noch, beim Anblick ihrer Mutter nicht zu erschrecken, und täten sie es doch, sich nichts anmerken zu lassen, und blieb zurück, damit sie mit ihr allein im Zimmer sein konnten.
Nicht einmal eine Viertelstunde mochte vergangen sein, da öffneten sie wieder die Tür und traten heraus. Ich sah ihnen an, sie waren zutiefst erschüttert. Offenbar hatten sie schon am Krankenbett ihre Tränen nicht unterdrückt, denn ihre Augen waren gerötet und verweint, sie schluchzten noch immer. Minutenlang standen wir im Schweigen. Sie sei zwar ansprechbar gewesen, sagten sie nach einer Pause, aber bei jedem Wort habe sie sich gequält. Schließlich sei sie in Apathie versunken, nachdem sie ihrem Geflüster nur noch hätten entnehmen können, daß sie sehr müde sei.
Wir verabschiedeten uns, stumm, jeder wohl allein mit sich in Gedanken an das Furchtbare. Ich schaute ihnen nach, bis sie schleppenden Schrittes, wie mir schien, hinter einer Krümmung des Korridors zum Treppenhaus meinen Blicken entschwanden. Ich ging zurück ins Zimmer. Sie schlief.
Obwohl ich noch immer keine Erklärung dafür fand, warum sie solange gezögert hatte, Julia und Soja bei sich zu sehen, verbot ich es mir, sie zu fragen, jetzt und auch später, denn selbst wenn sie noch zu einer Antwort fähig gewesen wäre, vermutete ich, würde ich sie nur in Aufregung versetzen.
So blieb es allein meiner Grübelei überlassen, wieder die Erinnerungen wachzurufen. Was wirklich trug sich in ihrem Unterbewußtsein zu? Was in ihr löste ein solch starkes Echo aus, daß es vielleicht - vielleicht - sogar noch nachhallte bis in ihr Sterben?
Das Testament, von Ricke fortwährend angemahnt, beschäftigt Achim noch lange, und obzwar es ihm widerstrebt, er sich zwingen muß, macht er sich mit dem Inhalt vertraut, und nachdem er erst seine Scheu abgelegt, sich durchs Juristendeutsch studiert hat, gelingt es ihm schließlich, dieses vorausfixierte verdammte Abschiednehmen vom Leben mit größerer Gelassenheit zu betrachten. Indem sie sich gegenseitig zu Vollerben erklären, hätten sie laut Gesetzestext keine Komplikationen zu erwarten. Ihr Eigentum ist ihr gemeinsam erarbeitetes Gut, verbliebe somit in einer Hand, und als spätere Erben kämen für sie oder ihn nur ihre beiden Kinder in Frage.
Anders jedoch empfindet es Ricke. Sie drängt auf eine Verfügung letzten Willens, die den Pflichtteil betrifft. Würde im Falle ihres oder seines Verscheidens eine der Töchter diesen einfordern, sollte sie auch nach dem Tod des Überlebenden nur auf ihn beschränkt sein, während der anderen die gesamte Hinterlassenschaft zufiele. Ulrike hat dafür ihre Gründe, und er, da er um ihre bitteren Erfahrungen weiß, die Bestürzung jeweils, in die sie geriet und die ihm ebenfalls zu schaffen machte, stimmt ihr zu.
Mit dieser Klausel will sie vor allem Sojas Rechte schützen, weniger Julias wegen, sondern weil sie Sigmund mißtraut, ihrem Mann. Schon oft, aus gegebenem Anlaß zumeist, haben sich Ricke und Achim gefragt, wieso es dazu kommen konnte, daß ihr Schwiegersohn offenbar eine hämische Freude damit verbindet, ihnen von Zeit zu Zeit einen Schabernack zu spielen, einen Dummenjungenstreich.
Seit sie beide, an ihrem Hochzeitstag übrigens, den handschriftlich selbstverfaßten Text mit ihrem Namen unterzeichnet haben, damit alles seine Gültigkeit hat, sprechen sie nicht mehr von Tod und Überleben, nicht einmal noch vom Testament, sondern nennen es, um die Härte dessen zu mildern, was jedem dieser Wörter anhaftet, schlichthin den Fall.