Eines Tages erhielt ich von Anna Seghers einen Brief, datiert vom 4. Februar 1960 und mit folgendem Inhalt:
Lieber Genosse Erik Neutsch,
ich schreibe Ihnen nur, um Ihnen zu sagen, daß mir Ihre Erzählung Die Regengeschichte, die im Januar in der NDL abgedruckt war, besonders gut gefallen hat.
So etwas, glaube ich, soll man nicht verschweigen in einer Zeit, in der viel krampfhaftes und langweiliges Zeug geschrieben wird.
Bitte telephonieren Sie doch, wenn Sie zufällig in Berlin sind. Das werde ich auch tun, wenn ich in Halle bin.
Viele Grüße
Ihre Anna Seghers
Ich habe es schon oft gesagt und wiederhole mich hier: Als ich diese Zeilen las, überkam mich eine seltene Freude, und zurückdenkend möchte ich sogar glauben, daß mein Herz in diesem Augenblick lauter und schneller schlug. Denn nach der jahrelangen Quälerei mit Romananfängen und Schauspielen, die hoffnungslos waren und nie das Licht der Welt erblickten, nach bescheidenen Versuchen in einer Zeitung, in der ich Redakteur war, meist arbeitsbedingten Reportagen, Gelegenheitsgedichten und hin und wieder auch mal einer Kurzgeschichte, hatte ich nun zum ersten Mal eine längere Sache veröffentlicht, und zwar in einer Literaturzeitschrift, und erwarb mir sogleich ein Urteil, ein freundliches dazu, aus solch berufenem Munde. Ich schrieb gerade noch an den Bitterfelder Geschichten, und dieser Brief verlieh mir Riesenkräfte, nun auch nachts und an allen freien Sonntagen daran zu arbeiten.
Doch als ich dann Monate später in Berlin weilte, rief ich natürlich nicht bei Anna Seghers an. Inzwischen fehlte mir dazu schon wieder der Mut. Sie blieb für mich eine Schriftstellerin in unerreichbarer Ferne. Ich fühlte mich unwohl bereits bei dem Gedanken, ihr gegenüberzusitzen und gar noch ein längeres Gespräch unter vier Augen mit ihr führen zu müssen. Täte ich das, dachte ich, würde sie mich gewiß durchschauen und bemerken, daß mir einmal rein zufällig ein Stück Prosa gelungen war, ich aber sonst aus dem Stammeln nicht herauskäme. Ich frage mich heute, woher meine Haltung von damals wohl stammte.
Ganz einfach. Es ging mir mit Anna Seghers nicht anders als in den Jahren zuvor, in meiner Jugend, mit anderen Leuten. Bei sogenannt höher gestellten Personen, gleich welcher Art. Bei Lehrern zum Beispiel generell. Bei Professoren später an der Leipziger Universität. Bei politischen Funktionären auch, als ich schon selber einer war Chefredakteuren, Parteisekretären und darüber hinaus. Bei bekannten Schriftstellern sowieso, Immer dieses Bibbern im Herzen. Immer diese Angst vor einer Blamage. Immer dieses Gefühl derer, scheint mir, die in ihrer Kindheit unterdrückt und allzulange von jeglicher Bildung ausgeschlossen, auch unter neuen Machtverhältnissen noch Schwierigkeiten haben, ihr Selbstbewußtsein zu entdecken und zu begreifen, daß auch sie nicht die Dümmsten sind und etwas zu leisten vermögen.
Aber ich hätte Anna Seghers auch davon erzählen können: Mehr als zehn Jahre vor ihrem Brief gab es an dem Realgymnasium, an das ich, ohne zugleich darauf vorbereitet zu sein, als Arbeiterkind von den neuen Stadtvätern delegiert worden war, noch einen verbreiteten und heftigen Widerwillen gegen ihre Bücher. Sie waren soeben in der Sowjetischen Besatzungszone erschienen und wohl auch für die Schüler der höheren Klassen zur Pflichtlektüre erklärt worden. Jedenfalls hörte ich da zum ersten Mal ihren Namen. Von einem Abiturienten, Sohn eines Geschäftsinhabers. Brecht, Friedrich Wolf, Becher, Zweig und auch die Seghers. Sogar der Ort und die Umstände sind noch scharf in meiner Erinnerung. Eine nachtdunkle Dorfstraße. Wir kamen gerade von einem Tanzvergnügen. Er sagte: Ein langweiliges Zeug, was die Frau da schreibt. Alltagskram. Alltagsstil, wie ihn unsereins jederzeit auch hinkriegt. Im Abituraufsatz fängste dafür eine Fünf. Und das soll nun eine Dichterin sein
Wenig später erhielt ich das Siebte Kreuz zu lesen, und ich war aufgerüttelt von den tiefen Leiden und den hohen Idealen der Menschen darin und schämte mich nachträglich, in dieser Nacht meinem Freund gegenüber geschwiegen zu haben. Als ich ihn einmal wiedertraf unsere Wege hatten sich längst getrennt und er mich spöttisch als Edelkommunisten bezeichnete, entgegnete ich ihm: Du, daß ich dazu geworden bin, liegt unter anderem auch an der Seghers
Das aber waren Geplänkel mit Gleichaltrigen. Vor ihnen fühlte ich mich bereits sicherer. Anna Seghers jedoch, schien mir, hätte ich klüger kommen müssen. Und da ich in dieser Hinsicht meine Hemmungen also noch immer nicht verloren hatte, muß ich wohl sehr tumb gewirkt haben, als ich ihr dann doch eines Tages gegenüberstand, während einer zentralen Verbandssitzung der Schriftsteller und völlig unverhofft. Sie hatte sich nach mir erkundigt, ich wurde ihr vorgestellt und fand nicht einmal eine vernünftige Erklärung dafür, warum ich sie nicht angerufen hatte.
Datiert vom 11. Mai 1964 schickte mir Anna Seghers erneut einen Brief:
Lieber Erik Neutsch!
Ich habe Dir noch nicht für Dein Buch gedankt. Über das Buch möchte ich gern einmal mit Dir sprechen. Bitte schreibe mir, wann Du in Berlin bist oder telefoniere.
Viele Grüße
Deine Anna Seghers
Sofort nach dem Erscheinen der Bitterfelder Ausgabe meines Romans Spur der Steine hatte ich ihr ein Exemplar geschickt und es mit einer Widmung versehen, worin ich ihr mitteilte, was mir ihr erster Brief bedeutete.
Nun kam ihre Antwort. Und ich sah nun länger nicht ein, warum ich nicht endlich von ihrem Angebot, sie zu besuchen, Gebrauch machen sollte. Eine Reise meinerseits nach Finnland stand bevor, demzufolge führte mein Weg über Berlin, und so ging ich dann noch immer mit dem verdammten Herzklopfen, was nicht allein vom Treppensteigen kam in ihre Adlershofer Wohnung.
Für mich wurde daraus ein gelungener Abend. Ob andererseits ich ihr nur ähnliches zu bieten vermochte, weiß ich nicht. Anna Seghers ist eine vorzügliche Gastgeberin, von meiner Warte gesehen, vorzüglich, weil ihre Freundlichkeit so völlig unaufdringlich und selbstverständlich auf mich wirkte, daß sie mir erst nach meinem Besuch bewußt wurde. In ihrer Gegenwart hatten mich nicht einmal in dem Zimmer, in dem wir saßen, die vielen Zeugnisse geistiger Traditionen Mexiko, Frankreich, Sowjetunion erschreckt, vor denen ich mich wohl woanders noch immer ein wenig klein und beklommen gefühlt hätte.
Über die Spur der Steine sprachen wir kaum. Wider Erwarten meinerseits. Nur ein einziges Mal, allerdings ziemlich energisch, wenn ich mich recht erinnere, meldete sie Bedenken gegen die Figur Horraths an oder noch mehr gegen das gestörte Verhältnis zwischen Horrath und Kati. Weit öfter erkundigte sie sich nach meinen literarischen Plänen, und da fragte sie sehr genau und nicht selten unbequem. Damals schrieb ich zwar noch am Gatt, überlegte aber bereits die Konfliktkonstellationen zu meinem Roman Der Friede im. Osten, ohne daß ich schon einen Titel oder gar die Namen seiner Haupthelden kannte. Jedenfalls drehte sich das Gespräch um Frank Lutter und Achim Steinhauer, um die Idee zu einer Geschichte über zwei sich in der Partei der Arbeiterklasse unterschiedlich bewährender Männer mit der Frage, welcher von beiden sich über die Jahre hinweg beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft als der größere Charakter und der bessere Kommunist erweisen würde.
Dieser von mir vorerst nur geahnte und noch nicht durchdachte Konflikt interessierte Anna Seghers damals mehr als die Geschichte des Gatt, so daß ich, von ihr verführt und von Finnland zurück, das eine Manuskript sofort aus den Händen legte und mich an die ersten Kapitel des anderen machte.
Aber die Arbeit am Frieden war noch zu früh. Ich merkte es später, und dieser Umweg oder Irrweg, wenn auch nicht umsonst, so doch in beiden Fällen Zeitverlust kostend, war ganz bestimmt meine eigene Torheit.
Vor nunmehr zehn Jahren, datiert vom 25. November 1965, erhielt ich den letzten Brief von Arma Seghers. Ich hatte ihr zum Geburtstag gratuliert und dabei nicht verschwiegen, daß mich eine Bemerkung von ihr in meiner Abwesenheit geärgert hatte. Sie schrieb daraufhin:
Lieber Erik Neutsch, ich danke Dir für Deine Glückwünsche. Ja, wie Du weißt, interessiert mich, was Du schreibst. Manche Deiner Novellen haben mich mehr interessiert, als Die Spur der Steine. So etwas darf ich Dir sagen, da ich mein Geburtsjahr nicht vor Dir verheimliche. Sonst hätte ich auch nicht Deinen lieben Gruß bekommen.
Viele Grüße
Deine Anna Seghers
Danach begegneten wir uns noch häufig. Anläßlich dieser und jener Veranstaltung der Schriftsteller. Meist begrüßten wir uns nur kurz, ich beobachtete sie von weitem und fand oft auch Gefallen an ihrer Art, Dinge zuweilen mit weiser Verschmitztheit zu sagen, auch wenn sie, nach meiner Meinung, nicht immer deren Kern trafen. Einmal, während einer Debatte im Präsidium des Schriftstellerverbandes um das Wohl und Wehe meines Romans Auf der Suche nach Gatt, um die ich ein wenig zu vertrauensvoll selber gebeten hatte, schlug sie mir vor, die Handlung so zu verändern, daß sich Ruth nicht das Kind nehmen läßt. Meine hochverehrte Genossin Anna Seghers, glaube ich, findet am allerwenigsten eine Beziehung zu den Frauengestalten in meinen Büchern, was nicht heißen soll, daß daran nicht auch ich mit meiner Art zu schreiben Schuld hätte.
Zwischen mir und ihr gibt es also wieder das alte Verhältnis. Ich bewundere ihre bis ins hohe Alter hineinreichende dichterische Kraft und liebe den großen Realismus ihrer Werke, die ich hier nicht aufzählen muß, da sie weltweit bekannt sind.
Oder ist es trotzdem nicht mehr das alte Verhältnis?
Wenn nein, dann auch wegen der drei kurzen Briefe, die Anna Seghers mir schrieb.
1975