Der Baikal ist ein See der Superlative und der Wunder. Leider hat bisher niemand festgestellt, dass er m. E. auch der kälteste aller Seen ist. Zweifellos ist derjenige zu bewundern, der es fertig bringt, darin zu baden: die gesamte Wassermasse von der Oberfläche bis zum Grund hat in den eisfreien Monaten eine konstante Durchschnittstemperatur von 3,5 bis 4 °C. Selbst im Hochsommer erwärmen sich die obersten Wasserschichten höchstens auf 9 °C, die gleiche Temperatur, mit der Väterchen Baikal auch seine schöne Tochter Angara ziehen lässt. In der Zeit von Januar bis Mai friert der See zu, aber der Seeverkehr wird nicht eingestellt: LKW- und PKW-Trassen verbinden ein Ufer mit dem anderen, Motocrossrennen und Segelschlittenregatten werden auf der Eisfläche veranstaltet. Bevor die Transsib in ihrem kompliziertesten, weit tunnelreichsten Bauabschnitt in engem Bogen um den Baikal geführt wurde, setzte man die Waggons im Sommer auf Fähren über; im Winter verlegte man die Gleise einfach über das Eis. Im Mai springt das Eis krachend auf, der See erwärmt sich langsam und wird wieder zum flüssigen Transportelement. Doch Silinskis Behörden haben auch hier einschneidende Schutzmaßnahmen getroffen: Die Holzflößerei, die für die großen Zellulosebetriebe, Möbel- und Baukombinate unerlässlich schien, aber auf dem Baikal selbst wie auch auf seinen Zuflüssen starke Verunreinigungen verursachte, wurde vollständig auf den, wenn auch kostenaufwendigeren, Straßen- und Schienenverkehr umgelagert. Die Sowjetmacht scheut keine Mittel, den Baikal und seine Umgebung als Naturwunder, Forschungsgegenstand und „Gesundheits-Industrie“ in unverminderter Schönheit zu erhalten. In den nächsten Jahren sollen am See eine 2 000 km lange Ringstraße, Touristenzentren, Bärenjagdmotels, Sanatorien und Nationalparks angelegt werden. Rockefellers Prophezeiung wird sich nicht erfüllen. Der Baikal stirbt nicht.
„Halt mich fest, halt mich fest“, ruft Ljuba und greift nach meinem Arm, „bestimmt glitsche ich hier noch aus.“ Der Weg von den steilen Uferhöhen in den dichtbewaldeten Talkessel, in dem längs einer einzigen schmalen Straße das kleine Dorf liegt, ist lehmig und nass.
Die Sonne, die wieder von einem klaren sibirischen Himmel scheint, hat den frühen Schnee in Matsch oder Lachen verwandelt, die nur langsam aufgesaugt werden. Jenseits des Dorfes ragen fern hinter tannen- und lärchengrünen Gebirgszügen die höchsten schneebedeckten Gipfel des Baikalgebirges in das kühle Himmelsblau. Schuld an unserem stolperigen Dorfausflug ist eine braunbunte Kuh mit dem Gehabe eines ausgehungerten spanischen Arenastiers. Ljuba und ich betrachteten vom hohen Steilufer gerade staunend das unübersehbare Indigo des Baikal - nach allen einschlägigen Auskünften sollte er eigentlich grünes Wasser haben -, als plötzlich mit Gebrüll jene Kuh, eine junge Lärche samt Wurzel auf den ungewöhnlich langen Hörnern, hinter einem Langholzstapel hervorpreschte und uns in die Flucht schlug.
Auf den waldigen Bergkuppen treiben Männer und Frauen Schafe und Kühe mit scheppernden Glocken ins Dorf. Hier und da steht vor den bunt gestrichenen Holzhäusern ein Ziehbrunnen. Einige Häuser sind mit Blechplatten gedeckt, andere mit Schindeln, vereinzelte Neubauten auch mit Ziegeln. Auf einem Hof wird ein Hammel geschlachtet. Ein lehmiges Rinnsal treibt die steil ansteigende Dorfstraße herab. Nur ein knatternder hellroter Traktor, ein jaulendes Kofferradio hinter einem Brennholzstoß und ein paar messingfarbene Fernsehantennen auf den niedrigen Häusern am Berghang widersprechen Ljubas Feststellung: „Hier sieht es so aus wie in einem alten Bilderbuch!“ Und mir fällt wieder ein, was Mark in Irkutsk und Viktor in Nowosibirsk über die einsamen Taigadörfer der Pelztierjäger sagten: „Am schönsten ist es dort im Winter.“ Im Frühling und Herbst erinnern die Straßen an morastige Bergbäche - Bohlenstege auf Rundhölzern oder halbmeterhohen Pfählen dienen als Bürgersteige; die sengende Sonne des kontinentalen Sommers verwandelt den Boden in lästigen Staub und die Luft zum Lieblingsaufenthalt der großen sibirischen Mücken. Im Winter aber werden die Straßen zu schneeweißen, hart gefrorenen Pisten, die trockene Luft ist klar und frei von Insekten, in den verschneiten, immergrünen Wäldern ziehen Bär und Zobel, Eichhörnchen und Schneehase ihre Fährten - dann beginnt die Jagd. Dann öffnet die Rauchwarensammelstelle in Irkutsk den pelzbeladenen Jägern aus den Taigadörfern ihre Pforten, dann klingeln die traditionellen Troikas durch die Dörfer, und moderne Propellerschlitten gleiten über die Taigatrassen. „Im Winter“, sagte Mark einmal, „im Winter musst du kommen. Dann gehen wir bei -55° Bären schießen, wenn der Frost knackt und die heißen Pelmeni erst richtig schmecken!“ Ljuba meinte damals, zwischen 45° Plus im Sommer und 55° Minus im Winter bestände ja immerhin eine Temperaturdifferenz von über 80°, und das auszuhalten sei sie nicht imstande.
Von den weiß bemützten Bergen weht ein kalter Wind. Über Waldpfade staksen wir wieder zum Baikalufer. Nach langer Bergwanderung erreichen wir den Hafen von Listwjanka. Im flachen „Baikal“-Restaurant mit der hellblauen Holzschuppenfassade feiert eine japanische Gesellschaft Doppelhochzeit: Nachodka, der fernöstliche sowjetische „Fährbahnhof“ für die Überfahrt nach Japan, liegt ja nahebei, einige Hundert Kilometer näher als Moskau. Ljuba bestellt „eine von den tausend Fischsorten in diesem See“, bedauert, dass es weder Renke noch „gebackenen Seehund“ gibt und trinkt genießerisch das Baikalwasser, das in hohen Glaskaraffen auf den Tischen steht. Nach dem Essen sagt sie: „Komm, wir werfen Geld ins Wasser, damit Baikal zufrieden ist und wir wiederkommen dürfen.“ Nach alter Sitte klettern wir über die Ufermauer, stolpern auf den murmelgroßen Kieseln bis zum Ufer und werfen wie an Ob und Angara Kopeken und Pfennige ins klare Wasser. Nur damit, sagen die Sibirier, „erkauft“ man sich das Recht, noch einmal an den gleichen Ort zurückzukehren. Der Ufersaum des Baikal ist mit schimmernden kleinen Münzen übersät - niemand holt sie (wie etwa in Rom) mit Magneten und Tauchflossen wieder heraus.
Von Listwjanka bringt uns das Tragflügelboot „Raketa“ mit siebzig Stundenkilometern über die Angara wieder nach Irkutsk. „Es ist wie im Flugzeug!“, meint Ljuba. Und das stimmt in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur die bis zur Decke verglasten eleganten Passagiersalons der schnellen Boote, die auf zahlreichen Streckenabschnitten den Personenverkehr auf den sibirischen Strömen abwickeln, sind mit Flugzeugsesseln ausgestattet, die Bootskörper selbst erheben sich, nur das Heck eingetaucht, über die Wasserfläche und brausen, Gischtstreifen hinter sich, wie Düsenjäger dahin. Im Winter aber, wenn Sibiriens Ströme und Seen in dicke Eispanzer gehüllt sind, liegen die schnellen „Raketas“ still und nutzlos an verschneiten Ufern. Gerade dann, wenn die Flüsse des Landes zu Strudel- und stromschnellenfreien Eisbahnen weiden, sind sie unbrauchbar. Diese Tatsache hat einige Schiffskonstrukteure nicht ruhen lassen: Sie entwickelten mit dem turbinengetriebenen Luftkissenschiff „Sormowitsch“ ein stromlinienförmiges Fünfzig-Personenfahrzeug, das in der Lage ist, mit 100 km/h (!) über das Wasser und auch über Eisflächen zu „fliegen“, Ufersteigungen bis zu 5° zu überwinden und selbst dort Passagiere aufzunehmen und abzusetzen, wo es (wie in manchen einsamen sibirischen Stromsiedlungen) keine Häfen und Anlegestellen gibt. Sibiriens zukünftiger Flusstransport schwebt also über dem Wasser. Und hier hat Ljuba buchstäblich recht, wenn sie behauptet, in Sibirien läge „alles in der Luft“.
Im Augenblick allerdings ist Ljuba von einer Traube Wodka trinkender Amerikaner umgeben. Wortreich stellt sie ihnen das ferne Purjatien am anderen Baikalufer als „die Brutstätte der sibirischen Menschheit“ dar. Sie vergisst dabei, wie so oft, darauf hinzuweisen, dass es nach Meinung vieler Wissenschaftler (und nicht nur sibirischer!), darüber hinaus auch das Ursprungsland der nordamerikanischen Indianer ist. Das Baikalgebiet gilt als der Ausgangspunkt für die Besiedlung Sibiriens und (über die damals noch existierende Landbrücke nach Alaska) Nordamerikas. Die mongoloiden Ursiedler sollen von hier die Flussläufe entlang in Richtung Osten, Norden und Westen gezogen sein und sich der jeweils neuen Umgebung angepasst haben. Fernöstliche Wissenschaftler halten die paläoasiatischen Völker der Jukagiren, Korjaken, Kamtschadalen und Eskimos, nicht zuletzt ihrer Sprache wegen, für Nachfahren baikalischer und Vorfahren amerikanischer Ursiedler. Auch die Archäologie hat Anhaltspunkte für eine Völkerwanderung vom Baikal in Richtung Norden, Nordosten und Westen. Es wird angenommen, dass auf dem nordamerikanischen Kontinent keine anthropologische Entwicklung vor sich ging, sondern der Mensch ihn als homo sapiens betrat - und das einige Tausend Jahre vor Kolumbus, der - nebenbei gesagt - seinen Fuß ja nie auf amerikanisches Festland setzte, ebenso wenig wie Grigori Schelechow. Die Besiedlung, Nordamerikas erfolgte, nach Annahme vieler Archäologen, von Westen, von Ostasien nach Osten und Süden. Die: später als „Rothäute“ bezeichneten. Ureinwohner Amerikas hatten keineswegs eine rote, sondern eine bräunlich-gelbe Hautfarbe wie ihre sibirischen Verwandten. „Rot“ war nur die künstliche Kriegsbemalung. Die Trittschneeschuhe, mit denen die nordamerikanischen Indianer im Winter auf Jagd gingen, sind denen der sibirischen Ureinwohner zum Verwechseln ähnlich. Auch war es unter den „jüngeren“ sibirischen Stämmen nur bei den paläoasiatischen Tschuktschen üblich, dass sich das Amt des Schamanen ausübende Männer wie Frauen gebärdeten. Einzig bei den nordamerikanischen Indianern tauchte diese Sitte wieder auf. Selbst die wenigen Keten am Mittellauf des Jenissei, deren Sprache keinem größeren Stammesbereich zuzuordnen ist, zeigen noch heute physiognomische Züge und Merkmale, wie sie nur den amerikanischen Indianern eigen sind. Doch, wie gesagt, nicht das erzählt Ljuba den wodkaseligen Amerikanern, die alles „wonderful“ finden, das ungewohnt klare Wasser, die hohen grünen Ufer und Ljubas Englischkenntnisse. Ljuba schildert den Touristen aus Arkansas vielmehr die transbaikalische Sammlungsbewegung unter dem Mongolen Temudshin, der sich 1206 zum Dschingis Khan ausrief und von hier aus „aber bestimmt die halbe Welt“ unterwarf. Ein winziger Teil davon war das Khanat Sibir, das Jermak im Kampfe mit Kutschum eroberte. Und als stolzer „Rest“ jener Völkerschaften sind die Burjaten zu betrachten, die vom Südufer des Baikalsees aus einst ganz Ostsibirien besiedelten, einige Hundert Jahre später zu sesshaften Viehzüchtern wurden und heute in Ulan-Ude mit dem Bau des Mittelstreckenflugzeuges AN 24 begonnen haben. - Die Amerikaner lassen Ljuba und den Baikal einschließlich der Burjaten hochleben, und niemand von ihnen denkt dabei an den Gouverneur non New York, der dem Leben spendenden See, auf dem wir gerade mit D-Zug-Geschwindigkeit dahinbrausen und an dessen Ufern auch die Vorfahren der ersten Amerikafahrer geboren wurden, einen baldigen Tod vorausgesagt hat. Im Gegenteil: Hier ist alles voll zukunftsträchtiger Lebendigkeit.