Rückt ein Stück her zum Ofen, der Vater hat heute schon ein bisschen eingefeuert, und ich mag beim Erzählen nicht so schreien. Sieghard, du Unglücksrabe, stoß nicht an mit dem gebrochenen Flügel! Hermy, mein Herr Enkel, man bietet seiner Tamara den Stuhl an und nimmt selbst den Hocker! Ja, Kinder, ich weiß: Da geht's jemandem dreckig, da fühlt sich wer so recht verratzt, beschließt, hinfort der Welt zu trotzen - schon kommt eine Oma wie ich mit ihren Omasprüchlein: Putz dir die Nase, bis zur Hochzeit ist alles wieder gut, anderen Leuten ist es im Leben noch viel schlimmer ergangen.
Und das klingt dann wie: Schämst du dich nicht, dass du noch so jung bist? Ja, ich weiß - so was kränkt und vergällt einem den ganzen schönen Schmerz.
Aber ich lass nicht locker und erzähle euch jetzt die Geschichte, wie ich fast einmal deinen Vater, Hermy, mittendurch reißen musste. Nein, nicht quer - der Länge nach, Sieghard, wenn du es genau wissen möchtest. Aber alles hübsch der Reihe nach. Es war unter den Nazis, Herbst fünfunddreißig. Ich hatte mich längst an die Türschmierereien und Drohbriefe gewöhnt, die mir in bestimmten Abständen den Briefkasten verstopften, an diese linierten Fetzen, die nicht selten aus Schulheften herausgerissen waren:
Hauze, hauze, hauze für die Schnauze,
Hauze, hauze, hauze fürn Ballon..
So wie ich's spreche - mit z.
Anfangs machte ich mir den grimmigen Spaß, diese Arbeiten zu korrigieren und den Absendern zuzustellen - ich kannte doch meine reizenden Schüler an der Klaue, auch wenn sie ihre Verse lieber nicht unterschrieben. Doch endlich hatte ich alle Hoffnung auf- und alle Spargroschen ausgegeben und klopfte an der gläsernen COMPTOIRtür vom Puppenfabrikanten Liesetritt um irgendeine Büroarbeit an.
Der Herr Fabrikant ließ seinen Rollschrank zuschnappen: "Ich kann heutzutage die größten Nackenschläge haben, wenn ich unbelehrbare Rote bei mir einstelle, die man sogar aus dem Schulamt weggejagt hat. Büroarbeit? Ist nicht. Aber aus alter Freundschaft zu Ihrem Herrn Vater, Ihrer Frau Mutter, Gott hab sie beide selig ..." Er seufzte, schlenkerte einen Klecks Tinte aus seinem Goldfüller und schrieb mir eine Heimarbeit aus. Fortan durfte ich mit dem Küchenmesser Pappmachéreste zwischen frischgepressten Puppenfingern wegkratzen. Fürs Dutzend hatte ich sechzehn Stück zu liefern. Nebenbei wusch ich Windeln, brachte meinem Sohn, deinem guten Vater, Hermy, das Laufen bei und sein erstes Liedchen. Eines Tages nun fand ich im Briefkasten wieder einen Zettel ohne Unterschrift. Zuerst wollte ich ihn in den Ofen stecken, doch rechtzeitig sprangen mir zwei Buchstaben in die Augen:
Dein H. D. ist aus dem Zuchthaus entlassen. Triffst ihn zuzeiten im Schlosspark von Friedrichroda. Na also, der Führer ist gar nicht so!
Die maschinegeschriebenen Lettern tanzten mir vor den Augen.
H.D.!
Das konnte nur einer sein ... Der Name wurde in jener Zeit kaum geflüstert, geschweige denn voll ausgeschrieben ... H. D. in Friedrichroda. Das war von unserem Alleben eine Stunde Fahrt. Wenn der Brief nur nicht von einem Lockspitzel der Polizei abgefasst war und mich in eine Falle zog ... "Kontaktaufnahme zur illegalen Kommunistischen Partei Deutschlands" würde dann später in der Urteilsbegründung nachzulesen sein ... Aber ich musste ihn wenigstens sehen, meinen H. D., komme, was wolle! Ich verwandelte mich. Ich bleichte mir das Haar mit einem Gurgelmittel, flocht mir blonde deutsche Zöpfe, rollte sie über den Ohren zu der beliebten preußischen Schneckenfrisur "Königin Luise" und kostümierte mich als Nazimaid zurecht. Treuherzig und unauffällig, Friedrichroda sollte ja von hochgestellten Sommerfrischlern aus der Reichshauptstadt wimmeln, die von den Strapazen des "Regierens" ausspannten ...
Dein Vater, Hermy, war damals drei Jahre alt. Ich setzte ihm ein Sonnenhütchen auf, nahm ihn straff an der Hand und kletterte mit ihm in die Thüringerwaldbahn.