Das Unglück brach jäh über mich herein. Ende März kam Mrs. Natalie Cohen in meine Sprechstunde, eine Dame um die 40, sehr adrett und sichtlich betucht. Sie erklärte mir, ihr Mann habe sich verändert, mehr noch, er sei gar nicht der, für den er sich ausgebe. Sondern ein Betrüger, der es auf ihr Geld abgesehen habe und ihr nach dem Leben trachte ... Sie nahm an, der Austausch mit dem echten Ehemann habe stattgefunden, als dieser geschäftlich auf Hawaii war. Eine gewisse Ähnlichkeit sei zwar unbestreitbar, doch nicht nur die Stimme klinge tiefer, der Gauner habe auch andere Ohren und derbere Hände! Sie wies Fotos vor, um das zu belegen.
Bei diesen Anzeichen fiel die Diagnose leicht. Ich fand, es liege jene ungewöhnliche Form von Verfolgungswahn vor, die in der psychiatrischen Fachliteratur Capgras-Symptom heißt. Eine äußerst seltene paranoide Störung. Mir war noch niemand begegnet, der daran litt. Aber seit Capgras im Jahre 1923 von einer Frau berichtet hatte, die meinte, ihr Mann werde von diversen Doppelgängern ersetzt, die abwechselnd mit ihr schliefen, sind doch eine Anzahl ähnlicher Fallstudien erschienen. Die ließ ich mir aus der Bibliothek kommen und sah mich bestätigt.
Kein Zweifel, alles wies auf Doppelgängerwahn hin. Den behandelte ich stationär, hauptsächlich mit Phenothiazien. Mitte Mai stellte uns das Resultat zufrieden; die Patientin beruhigte sich. Doch bald nach der vermeintlichen Heilung wurde Mrs. Cohen daheim in ihrer Badewanne tot aufgefunden. Ihre Ängste waren nach dem Absetzen der Medizin neu erwacht, sie hatte die Scheidung eingereicht worauf der Mann einen Unfall vortäuschte, die Konten plünderte und verschwand. Kurz darauf kam er bei einer Schießerei auf Honolulu selbst ums Leben. Ein zahnmedizinischer Vergleich ergab, dass er nicht der Ehemann der von ihm Ermordeten war; dieser blieb verschollen.
Für mich ein Debakel. Hatte ich doch mit dem Gangster gesprochen, der als Mann meiner Patientin auftrat, und mich von ihm täuschen lassen. Gewiss, man weiß, auch größte Sorgfalt schützt uns Mediziner nicht vor jedem Irrtum. Doch von Sorgfalt konnte hier keine Rede sein. Weshalb hatte ich, statt nur auf die Frau zu achten, nicht auch die Hände und Ohren des Mannes mit den Fotos verglichen? Warum ihm keine Kontrollfragen zur gemeinsamen Vergangenheit des Ehepaars gestellt?
Die Antwort klingt simpel: Weil ich Arzt bin und kein Kriminalist! Hätte Mrs. Cohen mehr Mut und Entschlusskraft besessen, wäre sie also zur Polizei gegangen, würde sie wohl noch leben ... Im Käfig des eigenen Fachs erblindet man leicht für die Welt da draußen sieht als Arzt in jedem, der Hilfe sucht, nur den Patienten.
Aber ist das denn die ganze Wahrheit? Schwerlich. Heute weiß ich, da war noch mehr im Spiel. Etwas anderes tritt manchmal hinzu, zum Beispiel ein geheimer Widerwille des Helfers gegen Leidende, die beginnen, ihn zu verehren sich ihm so lebhaft zuwenden, dass es störend wird. Das macht fast jeden Arzt nervös, zumal bei anziehenden Frauen. Ein Kapitel meines Berufs, das schon von Freud beschrieben worden ist.
Heute spricht alle Welt von Sex, von Begehren und seelischer Nähe, der rätselhaften Chemie unserer Körper. Meist verschweigt man die Gegenkräfte: Aversion und Berührungsscheu. Jeder Mediziner, ob er gut aussieht oder nicht ich etwa bin kein besonders attraktiver Mann , wird bestätigen, dass er sich manchmal wehren muss. Und diese Abwehr, von Mrs. Cohen provoziert, hat mich gehemmt und die Therapie verkürzt. Ging sie doch so weit, sich spontan an mich zu klammern und zu seufzen: O Miguel, geh nicht weg und mir Verlockendes zuzuflüstern. Mein Schwanken erspürend, bedrängte sie mich aus Furcht vor ihrem Mann dermaßen, dass ich schroff wurde, ihr gegenüber ungerecht, und schließlich froh war, sie loszusein mit Todesfolge.
Aber nicht bloß das, auch die Boulevardpresse setzte mir zu. Der hatte ich ja mitten im Sommerloch ein Geschenk gemacht. Ein Skandal, der mit Sex zu tun hat, zählt für sie doppelt. Die Reporter lauerten mir auf, drangen in mein Haus und stellten mich bloß. Meine Zurückhaltung, bedingt durch die Schweigepflicht, münzten sie um in nackte Schuld ... Und dann gewahrte ich rings um mich Zeichen von Schadenfreude. Kollegen frohlockten heimlich, rückten tuschelnd von mir ab. Im Umfeld der USC-Klinik häuften sich Signale von ärztlicher Borniertheit und menschlichem Verrat; sogar meine Herkunft aus Mexiko wurde betont. Ich bin halt ein Latino, wir Immigranten sind eine starke Minderheit; das gab dem Geschwätz einen rassistischen Akzent.
So blieb mir zunächst nur ein Ausweg, Flucht in die Wüste, dreitausend Meilen mit dieser Reisegruppe, über San Diego und Tucson ostwärts. Meist fahren im Herbst nur ältere Paare, doch es gab auch ein paar Einzelgänger wie mich. Darunter Susan Traub, die mir gleich ins Auge stach durch ihre Eleganz ebenso schlank und agil wie die arme Mrs. Cohen, die rassigen Beine, das nämliche schwarze naturkrause Haar. Ja, auch vom Gesicht her, zumal im Profil, derselbe jüdische Typ, der mich selten kalt lässt. Susan Traub ließ wissen, sie sei geschieden, verstohlen strich sie um mich herum. Wo immer wir an Sehenswürdigkeiten hielten, wie bei der altspanischen Mission San Juan Capistrano, da tauchte sie beharrlich neben mir auf. Und wieder mein Zwiespalt zwischen Hingezogensein und dem Wunsch nach Distanz, verstärkt durch den Fall der unglücklichen Patientin.
Im Desert State Park wurde ich erstmals misstrauisch. War Mrs. Traub eventuell Reporterin, dieser Story auf der Spur? Bereits im Executive Hotel hatte sie meinen Tisch gewählt und war, ihre Frische darbietend, zugleich mit mir ins Schwimmbad gesprungen. Am zweiten Tag dann, auf der Fahrt durch die Yuma-Wüste, wechselte sie unter einem Vorwand den Platz und saß nun hinter mir. Ich hörte die rauchige Stimme und roch bei jedem Stopp ihr Parfüm, Sandelholz mit einer Andeutung von Blumen ... Einmal streifte sie mich mit einem kecken Blick und spielte, weil Racimo auf Spanisch Traube heißt, auf unsere Namensgleichheit an ... Mein Argwohn wuchs.